Inhalt

VG München, Beschluss v. 25.10.2022 – M 30 E 22.4913
Titel:

Erlass einer Zwischenentscheidung in einem Eilverfahren betreffend die Beobachtung einer politischen Partei durch den Verfassungsschutz

Normenketten:
GG Art. 21 Abs. 1
VwGO § 123 Abs. 1
BayVSG § 4 Abs. 1 S. 1 lit. c, Art. 5 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1, Art. 26
Leitsätze:
1. Eine personenbezogenen Beobachtung von Parteimitgliedern mit nachrichtendienstlichen Mitteln ist im Hinblick auf bevorstehende Landtagswahlen mit Nachteilen verbunden, die grundsätzlich schwer und irreversibel sind, so dass eine Zwischenentscheidung (Hängebeschluss) notwendig sein kann. Dies ist jedenfalls der Fall, sofern diesbezüglich keine sog. „Stillhaltezusage“ mit dem Inhalt vom Einsatz entsprechender Mittel abzusehen, der jeweiligen Verfassungsschutzbehörde erfolgt. (Rn. 39 – 45) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von der Pressemitteilung einer Einordnung als Verdachtsfall gehen bis zur Entscheidung über den Eilantrag keine unzumutbaren Auswirkungen aus. Da der Öffentlichkeit hinlänglich bekannt ist, dass diese Ansicht durch die Verfassungsschutzbehörde vertreten wird, kann an diesem Wissensstand der Öffentlichkeit auch eine Entfernung oder eine „Umgruppierung“ der Pressemitteilung bis zur Entscheidung im Eilverfahren nichts mehr ändern. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Prüfung der Beobachtung einer Partei durch den Verfassungsschutz hat das Gericht die gesamten vorgelegten Unterlagen eigenständig zu beurteilen und zu bewerten, hieraus seine Überzeugung zu bilden, wozu es zunächst die Äußerungen interpretieren und sodann die Summe der Äußerungen gesamtbetrachtend darauf überprüfen muss, ob die - nicht allzu hohe - Schwelle der tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme einer verfassungsfeindlichen Bestrebung erreicht ist und ob eine  Beobachtung verhältnismäßig ist. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine solche Subsumtionsleistung hat grundsätzlich jedes Gericht im Rahmen der Überzeugungsbildung selbst zu erbringen; sie kann - auch im Eilverfahren - nicht durch einen mehr oder weniger reflektierten Rekurs auf eine Entscheidung eines anderen Kollegialgerichts ersetzt werden. (Rn. 24 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
5. Parteien sind Gesamtvereine, weshalb ein Zurechnungszusammenhang nur etwa durch eine nachhaltige Distanzierung unterbrochen werden könnte. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
6. Die mit dem Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel verbundenen Nachteile sind für eine Partei sind grundsätzlich schwer und irreversibel während die prospektive Dimension einer Beobachtung durch eine Unterbrechung zwar tangiert, aber nicht strukturell erschwert wird. (Rn. 39 – 44) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Partei „Alternative für Deutschland (AfD)“, Landesverband Bayern, Einstweiliger Rechtschutz gegen die Beobachtung durch das Bayerische, Landesamt für Verfassungsschutz, Zwischenverfahren (Schiebebeschluss, Hängebeschluss), Fehlende Entscheidungsreife bei komplexer Sachlage („tatsächliche Anhaltspunkte“), Verfassungsschutz, politische Partei, Beobachtung, verfassungsfeindliche Bestrebung, Verdachtsfall, nachrichtendienstliche Mittel, Zwischenentscheidung, Hängebeschluss
Fundstellen:
BeckRS 2022, 29398
GSZ 2023, 46
LSK 2022, 29398

Tenor

Dem Antragsgegner wird bis zur Entscheidung des Gerichts über den Antrag der Antragstellerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 5. Oktober 2022 (M 30 E 22.4913) vorläufig untersagt, gegenüber der Antragstellerin nachrichtendienstliche Mittel im Sinne von Art. 8 Abs. 1 BayVSG und Art. 9 bis Art. 19a BayVSG anzuwenden und die Antragstellerin betreffende Informationsmaßnahmen auf Basis des Art. 26 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 BayVSG vorzunehmen.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin, der Landesverband Bayern der Partei Alternative für Deutschland (AfD), wendet sich gegen ihre Beobachtung durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz.
2
Am 8. September 2022 veröffentlichte der Antragsgegner anlässlich der Vorstellung der bayerischen Verfassungsschutzinformationen für das erste Halbjahr 2022 eine Pressemitteilung, in der u.a. die Antragstellerin genannt wird. In der Überschrift heißt es, dass die „AfD als Beobachtungsobjekt aufgenommen“ worden sei. Weiter heißt es in der Pressemitteilung:
3
„Wie [Staatsminister] H. weiter erklärte, ist nunmehr auch die AfD noch stärker in den Fokus der Verfassungsschützer gerückt. ‚Aufgrund der Entscheidung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die AfD als Verdachtsfall zu führen, hat auch das Bayerische Landesamt die Beobachtung der Gesamtpartei aufgenommen.‘ Hierdurch soll aufgeklärt werden, inwieweit Bestrebungen in der AfD als Gesamtpartei vorliegen, die den Kernbestand der Verfassung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen versuchen. Nicht unter Beobachtung stünden jedoch die Mitglieder der AfD-Landtagsfraktion, da hierfür die höchstrichterlichen Anforderungen nicht erfüllt seien.“
4
Die Pressemitteilung war und ist auf der Internetseite des Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration (https://www.stmi.bayern.de/med/pressemitteilungen/pressearchiv/2022/273c/index.php) sowie auf der Internetseite des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz (https://www.verfassungsschutz.bayern.de/ueberuns/medien/aktuelle_meldungen/halbjahresinformationen-verfassungsschutz-bayern-2022/) abrufbar. Über die Beobachtung der Antragstellerin wurde und wird in verschiedenen Medien berichtet. Der Presseerklärung ging eine interne Beobachtungserklärung vom … Juni 2022 durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz voraus.
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Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten hat die Antragstellerin am 5. Oktober 2022 anlässlich dieser Erklärung Klage gegen ihre Beobachtung erhoben (M 30 K 22.4912). Sie beantragte außerdem im Eilverfahren (M 30 E 22.4913) u.a., den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache zu verpflichten, es zu unterlassen, die Antragstellerin als „Beobachtungsobjekt“, insbesondere als sog. „Verdachtsfall“ einzuordnen, zu beobachten, zu behandeln, zu prüfen und/oder zu führen (Nr. 1a) und es zu unterlassen, öffentlich bekanntzugeben, dass die Antragstellerin als „Beobachtungsobjekt“, insbesondere als sog. „Verdachtsfall“ eingeordnet, beobachtet, behandelt, geprüft und/oder geführt wird (Nr. 1b) sowie Teile der Aussagen in Bezug auf die Antragstellerin, die in der auf der Internetseite des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz veröffentlichten Pressemitteilung enthalten sind, zu löschen (Nr. 3).
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Gleichzeitig beantragte sie,
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angesichts der bereits stattfindenden bzw. unmittelbar bevorstehenden Rechtsverletzungen und dem damit verbundenen, nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Antragstellerin, aber auch für den bayerischen demokratischen Willensbildungsprozess, (…) den Antragsgegner unverzüglich zur Abgabe einer Stillhaltezusage (zumindest zum Eilantrag zu Ziffer 1.) aufzufordern, hilfsweise einen entsprechenden Hängebeschluss zur Sicherung des Eilverfahrens zu erlassen.
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Zur Begründung trug die Antragstellerin vor, dass es mit Blick auf die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit und der zu erwartenden gerichtlichen Verfahrensdauer von zumindest mehreren Wochen auch im Eilverfahren nach § 123 VwGO dessen Sicherung durch Erlass eines Hängebeschlusses bedürfe, zu dem das Gericht wegen Art. 19 Abs. 4 GG befugt sei. Dies gelte zumindest hinsichtlich des Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel zulasten der Antragstellerin und deren Mitglieder, höchst zumindest aber hinsichtlich der bislang noch nicht ausgenommenen Wahlbewerber und der bislang nur gegenüber der Presse ausgenommenen Landtagsabgeordneten.
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Der Antragsgegner beantragte mit Schreiben vom 14. Oktober 2022,
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den Antrag auf Erlass eines Hängebeschlusses abzulehnen.
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Er trug u.a. vor, dass die in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 BayVSG i.V.m. Art. 3 Satz 1 BayVSG, § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG geregelten Voraussetzungen für eine Beobachtung erfüllt seien, da tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung vorlägen. Da das Bundesamt für Verfassungsschutz die Partei aufgrund bundesweiter Erkenntnisse als Verdachtsfall eingeordnet habe, lägen in Bayern die Voraussetzungen für die Erklärung zum Beobachtungsobjekt ebenfalls vor. Die Feststellungen, die zur Beobachtung der Gesamtpartei geführt hätten, hätten auch in Bayern Gültigkeit, zumal auch Erkenntnisse aus Bayern in das Gesamtgutachten eingeflossen seien und es keine Anhaltspunkte gebe, dass sich die Antragstellerin von den Zielen der Gesamtpartei distanziere bzw. im Rahmen der parteiinternen Gremien die politischen Vorstellungen der Gesamtpartei nicht mittrage. Das Verwaltungsgericht Köln habe in dem noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verwaltungsstreitverfahren der Partei gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Entscheidung vom 8. März 2022 die Zulässigkeit der Beobachtung der Partei sowie der Berichterstattung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz bestätigt.
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Der Antragsgegner legte zahlreiche Unterlagen vor, u.a. den Beobachtungsauftrag vom … Juni 2022, ein Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (sog. Folgegutachten) vom … Februar 2021 und die dort ausgewerteten Belege. Eine Stillhaltezusage wurde durch den Antragsgegner nicht abgegeben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die von den Beteiligten vorgelegten Unterlagen verwiesen.
II.
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Der Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung ist zulässig und teilweise begründet.
15
I. Mit einer Zwischenentscheidung (sog. Hänge- oder Schiebebeschluss) im Rahmen eines anhängigen Eilrechtsschutzverfahrens kann das Gericht - ist der Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung zulässig - in Ausnahmefällen Regelungen für den Zeitraum zwischen dem Eingang des Eilantrags und der Entscheidung des Gerichts über diesen Antrag treffen, sofern dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG erforderlich ist. Dies ist der Fall, wenn der Eilantrag - sei es wegen den Sachverhalt oder die Rechtslage betreffenden erheblichen Unklarheiten (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 30.4.2020 - 20 CE 20.951 - juris Rn. 6) - noch nicht entscheidungsreif ist, nicht offensichtlich aussichtslos erscheint und aus Gründen eines wirksamen vorläufigen Rechtsschutzes zur Vermeidung irreversibler Zustände bzw. schwerer und unabwendbarer Nachteile nicht bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung im Verfahren nach § 123 VwGO abgewartet werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 18.1.2022 - 10 CS 22.128 - juris Rn. 18, 21; OVG SH, B.v. 9.2.2021 - 3 MB 2/21 - juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 17.12.2020 - 15 CS 20.3007 - juris Rn. 14).
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II. Der Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung ist zulässig, insbesondere fehlt ihm - entgegen der Ansicht des Antragsgegners (Schriftsatz v. 14.10.2022, S. 4) - nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis, weil die Antragstellerin erst am 5. Oktober 2022 gegen ihre Beobachtung vorgegangen ist. Es ist nicht ihre Obliegenheit, allein auf Grund der Pressemitteilung vom 8. September 2022 (aus der LT-Drs. 18/22364, Nr. 8.1 ergibt sich jedenfalls keine klare Aussage zur Beobachtung) sofort Rechtsbehelfe zu ergreifen, um sich die Möglichkeit des Erlasses einer Zwischenverfügung zu erhalten. Sie darf sich jedenfalls die Zeit nehmen, die für eine sachgerechte Vorbereitung eines gerichtlichen Verfahrens notwendig ist. Ein Monat ist hierfür nicht zu lang (vgl. noch Rn. 28).
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III. Der Antrag ist teilweise begründet. Der Eilantrag ist noch nicht entscheidungsreif (1.) und auch nicht offensichtlich aussichtslos (2). Die Einstufung der Antragstellerin als Beobachtungsobjekt ist teilweise mit schweren Nachteile verbunden, die es aus Gründen eines wirksamen vorläufigen Rechtsschutzes zwar erforderlich machen, bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung im Verfahren nach § 123 VwGO die Beobachtung einzuschränken, aber auch nicht völlig zu unterbinden (3.).
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1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist nicht entscheidungsreif. Das Gericht ist gegenwärtig (noch) nicht in der Lage, abschließend über den Eilantrag zu entscheiden, insbesondere ist die Sachlage zu unübersichtlich und komplex, als dass selbst eine nur summarische Prüfung insbesondere des Anordnungsanspruchs in Betracht kommt.
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a) Die Entscheidung, ob der geltend gemachte Anordnungsanspruch auf v.a. Unterlassung der Beobachtung besteht, setzt - da entgegen der Antragstellerin (vgl. Schriftsatz vom 5.10.2022, S. 30 ff.) keine Zweifel an der Anwendbarkeit der Vorschriften des Bayerischen Verfassungsschutzgesetz auf Parteien bestehen (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2013 - 2 BvE 6/08 - juris Rn. 132 ff.; BVerwG, U.v. 21.7.2010 - 6 C 22/09 - juris Rn. 19) - vor allem die Klärung voraus, ob gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 BayVSG hinsichtlich der Antragstellerin tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie einen Personenzusammenschluss bildet, dessen politisch bestimmte Verhaltensweisen u.a. ziel- und zweckgerichtet darauf gerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen (Art. 3 Satz 1 BayVSG i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c i.V.m. Abs. 2 BVerfSchG).
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Das Tatbestandsmerkmal einer „politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweise“ nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c BVerfSchG erfordert ein aktives, nicht jedoch notwendig kämpferisch-aggressives Vorgehen. Für den Begriff der Bestrebung ist dabei Illegalität nicht kennzeichnend, es kommt nicht darauf an, ob bestimmte Verhaltensweisen erlaubt sind oder nicht. Erfasst sind Verhaltensweisen, die über rein politische Meinungen hinausgehen und auf Durchsetzung eines Ziels ausgerichtet sind. Die Aktivitäten müssen auf die Beeinträchtigung eines der vom Gesetz geschützten Rechtsgüter abzielen und somit ein maßgeblicher Zweck der Bestrebung sein. Für eine politische Partei als einer ihrem Wesen nach zu aktivem Handeln im staatlichen Leben entschlossenen Gruppe bedeutet dies, dass insoweit maßgeblich ist, ob verfassungsfeindliche Bestrebungen in ihren Willen aufgenommen und zu Bestimmungsgründen ihres politischen Handelns gemacht werden (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 21.7.2010 - 6 C 22/09 - juris Rn. 59 f.; BayVGH, U.v. 6.7.2017 - 10 BV 16.1237 - juris Rn. 34).
21
b) Für die Beurteilung, ob diese gerichtlich voll überprüfbaren (BayVGH, B.v. 7.10.1993 - 5 CE 93.2327 - juris Rn. 20) Anforderungen erfüllt sind, bedarf es der Feststellung und sodann der würdigenden Gesamtschau von Tatsachen (vgl. BVerwG, U.v. 21.7.2010 - 6 C 22/09 - juris Rn. 30). Gerade bei einem Personenzusammenschluss, der organisatorisch ausdifferenziert ist und über zahllose Vertreter auf unterschiedlichen Ebenen verfügt, sind eine ausreichende Vielzahl von mündlichen oder schriftlichen Äußerungen einer ausreichenden Vielzahl maßgeblicher Akteure zu bewerten; auch das Verhalten „einfacher“ Mitglieder ist dabei miteinzubeziehen (vgl. VG Köln, U.v. 8.3.2022 - 13 K 208/20 - juris Rn. 142, 155). Entsprechend hat der Antragsgegner umfangreiche Unterlagen vorgelegt, die - bestehend aus einzelnen Belegen und diese würdigenden Bewertungen, Gutachten und Stellungnahmen - gegenwärtig etwa 4.000 Seiten betragen.
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Das Gericht hat die gesamten vorgelegten Unterlagen eigenständig zu beurteilen und zu bewerten (vgl. VG Köln, U.v. 8.3.2022 - 13 K 208/20 - juris Rn. 473) und hieraus seine Überzeugung zu bilden (§ 108 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 122 Abs. 1 VwGO). Es muss zunächst die vorgelegten Äußerungen interpretieren (Sinnermittlung, Identifizierung bloß „politisch-taktischer Bekenntnisse“ etc., vgl. Roth in Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 Rn. 104) und sodann die Summe der Äußerungen gesamtbetrachtend darauf überprüfen, ob die - nicht allzu hohe - Schwelle der tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme einer verfassungsfeindlichen Bestrebung erreicht ist und eine Beobachtung verhältnismäßig ist. Mit Blick sowohl auf den Schutzgehalt des Art. 21 Abs. 1 GG, auf den sich die Antragstellerin als Landesverband einer Partei berufen kann, als auch auf das im Beobachtungsfall dem Antragsgegner zur Verfügung stehende weite und potentiell tief eingreifende Befugnisinstrumentarium (vgl. Rn. 34 ff.) bedarf es einer eingehenden Prüfung der Sachlage (vgl. BVerfG, B.v. 26.6.2018 - 1 BvR 733/18 - juris Rn. 4).
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Dies ist im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung (noch) nicht möglich. In der auch im Eilverfahren gebotenen Tiefe können die Belege nicht isoliert bewertet, zueinander in Beziehung gesetzt und in ihrer gegebenenfalls auch „hintergründigen“ Aussagekraft erschlossen werden (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 23.11.2011 - OVG 1 B 111.10 - juris Rn. 48: „Zwischentöne“). Da - mit Ausnahme von Äußerungen in sozialen Medien (vgl. Schriftsatz v. 17.10.2022, S. 8) - nicht über da „Ob“ der Äußerungen (als Tatsachen) gestritten wird, kann die Entscheidungsreife auch nicht über die Grundsätze der Glaubhaftmachung, die sich nur auf Tatsachen beziehen (§§ 294 Abs. 1, 920 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 123 Abs. 3 VwGO), herbeigeführt werden.
24
c) Die Entscheidungsreife ergibt sich auch nicht daraus, dass das Gericht gehalten wäre, sich für die eigene Überzeugungsbildung auf die vom Verwaltungsgericht Köln getroffenen Feststellungen und Einschätzungen zu beschränken. Zwar stimmt das im hiesigen Verfahren vorgelegte Material in weiten Teilen mit dem dort ausgewerteten überein (vgl. Schriftsatz des Antragsgegners v. 20.10.2022, S. 3 [Nr. 4]) und ist auch anerkannt, dass Gerichte sich auf Tatsachenfeststellungen anderer Gerichte, die der Amtsermittlungspflicht unterliegen, stützen können, soweit keine gewichtigen Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der dortigen Feststellungen bestehen (vgl. OVG Saarl, B.v. 20.12.2017 - 1 A 389/16 - juris Rn. 17 ff.). Aber vorliegend geht es, wie dargelegt, weniger um eine im Wege der Beweiserhebung aufzuklärende Streitigkeit über (zunächst nur glaubhaft zu machende) Tatsachen, sondern im Wesentlichen um die rechtliche Bewertung von Äußerungen am Maßstab des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 BayVSG. Eine solche Subsumtionsleistung hat jedes Gericht im Rahmen der Überzeugungsbildung selbst zu treffen. Sie kann - auch im Eilverfahren - nicht durch einen mehr oder weniger reflektierten Rekurs auf eine Entscheidung eines anderen Kollegialgerichts ersetzt werden.
25
Ob sich dies für den Fall der künftigen Herausbildung einer - auf das im Wesentlichen gleiche Tatsachenmaterial und die Gesamtpartei bezogenen - gefestigten Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte ändern kann (etwa mit Blick auf den das Verfassungsschutzrecht spezifisch kennzeichnenden Verfassungsschutzverbund nach §§ 5 f. BVerfSchG) oder ob gegebenenfalls alle Verwaltungsgerichte, in deren Zuständigkeitsbereich ein Landesamt für Verfassungsschutz seinen Sitz hat, jeweils eine stets vollständige und eigenständige Überprüfung durchzuführen haben (als unvermeidbare Folge der föderalen Struktur des Verfassungsschutzrechts), bedarf vorliegend nicht der Entscheidung.
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d) Schließlich ergibt sich die Entscheidungsreife auch nicht daraus, dass das Gericht nicht das gesamte, sich auf bundesweite Erkenntnisse stützende, sondern lediglich das erheblich weniger umfangreiche spezifisch „bayernbezogene“ Material zu würdigen hätte. Denn entgegen der Ansicht der Antragstellerin bedarf es für deren Beobachtung keiner landesspezifischen Anhaltspunkte. Die von ihr (vgl. Antragsschrift v. 5.10.2022, S. 42) für diese Ansicht herangezogene Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 3.3.2021 - 7 B 190/21 - juris Rn. 29) ist auf die vorliegende Fallgestaltung nicht übertragbar. Denn die Entscheidung verlangt landesspezifische Anhaltspunkte, wenn der Verfassungsschutz konkrete Aussagen über einen Landesverband einer Partei treffen möchte (im konkreten Fall ging es um Angaben zur Zahl der Angehörigen des „Flügels“ in Hessen, die nicht schlicht rechnerisch aus der bundesweiten Gesamtzahl auf Hessen „umgerechnet“ werden durfte).
27
Vorliegend geht es jedoch um die Beobachtung einer bundesweit tätigen und u.a. in Landesverbände organisatorisch gegliederten Partei. Aus welcher Ebene oder aus welcher Region entsprechende tatsächlichen Anhaltspunkte stammen müssen, damit das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz tätig werden darf, ist eine Frage der materiellen Zurechnung der „Verdachtsmomente“ der einen zur anderen (Teil- bzw. Gesamt-)Organisation. Richtigerweise dürfen jedenfalls im Grundsatz „Verdachtsmomente“ horizontal und vertikal den jeweils anderen Ebenen und Regionen zugerechnet werden. Die Untergliederungen einer Partei werden verfassungsschutzrechtlich nicht isoliert betrachtet (vgl. BVerwG, U.v. 21.7.2010 - 6 C 22/09 - juris Rn. 45; BayVGH, B.v. 7.10.1993 - 5 CE 93.2327 - juris Rn. 21). Parteigliederungen und -verbände dienen dem Zweck, eine demokratische Willensbildung vor Ort zu ermöglichen (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 3 PartG), lösen aber nicht die inhaltlich-programmatische Verbindung aller Untergliederungen zu einer Organisation auf (vgl. BayVGH, B.v. 7.10.1993 - 5 CE 93.2327 - juris Rn. 21; s. a. § 11 Abs. 3 AfD-Bundessatzung). Parteien sind Gesamtvereine, entsprechend bestehen auch keine Mitgliedschaftsverhältnisse der Unterorganisationen zur Gesamtpartei und vermittelt den Mitgliedern die Zugehörigkeit zu der (Gesamt-)Partei auch automatisch die Mitgliedschaft in den jeweiligen Gebietsverbänden (vgl. Ipsen, ParteienG, 2. Aufl. 2018, § 7 Rn. 5 u. 11). Der Zurechnungszusammenhang könnte - trotz einheitlicher Organisation - nur etwa wegen nachhaltiger Distanzierungen unterbrochen werden (vgl. VG Köln, U.v.8.3.2022 - 13 K 208/20 - juris Rn. 458 ff.; Roth in Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht des Bundes, 2. Aufl. 2019, § 4 BVerfSchG Rn. 112 f.). Ein solcher Fall liegt hier jedenfalls nicht offensichtlich vor.
28
2. Der gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist nicht offensichtlich aussichtslos. Er ist weder offensichtlich unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Aus den bereits dargelegten Gründen fehlt nicht schon erkennbar das Rechtsschutzbedürfnis bzw. der Anordnungsgrund, weil die Antragstellerin seit Bekanntwerden ihrer Beobachtung zu viel Zeit bis zum Ergreifen von Rechtsschutz verstreichen hätte lassen (vgl. Rn. 16). Aus der bereits bejahten fehlenden Entscheidungsreife ergibt sich ferner, dass der Antrag nicht offensichtlich unbegründet ist.
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3. Der Erlass einer Zwischenentscheidung ist im Hinblick auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes zur Vermeidung irreversibler Zustände bzw. schwerer und unabwendbarer Nachteile vorliegend im ausgesprochenen Umfang erforderlich.
30
a) Die Frage, ob eine Zwischenentscheidung zur Vermeidung irreversibler Zustände bzw. schwerer und unabwendbarer Nachteile erforderlich ist (vgl. BayVGH, B.v. 18.1.2022 - 10 CS 22.128 - juris Rn. 21), ist mittels einer Interessenabwägung zu beantworten. In diese Abwägung einzustellen sind einerseits die Folgen, die einträten, wenn die Zwischenentscheidung nicht erginge und der Eilantrag später Erfolg hätte und andererseits diejenigen Nachteile, die entstünden, wenn eine Zwischenregelung verfügt, der Eilantrag aber abgelehnt würde (vgl. OVG NW, B.v. 18.2.2021 - 5 B 163/21 - juris Rn. 5; Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, VwGO, 42. EL Februar 2022, § 123 Rn. 164 ff. m.w.N.). Demgemäß sind die jeweiligen Interessen der Antragstellerin (b) und des Antragsgegners (c) zu ermitteln, zu gewichten und gegeneinander abzuwägen.
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b) Die Interessen der Antragstellerin ergeben sich aus den Folgen, die sich aus ihrer Einstufung als Beobachtungsobjekt ergeben (aa), und aus deren Gewicht (bb).
32
aa) Die Antragstellerin wendet sich in ihrem Antrag gegen ihre Einstufung als Beobachtungsobjekt, insbesondere als sog. Verdachtsfall. Die Pressemitteilung des Antragsgegners nimmt insoweit Bezug auf „die Entscheidung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die AfD als Verdachtsfall zu führen“. Die Beobachtungserklärung des Antragsgegners vom … Juni 2022 spricht davon, dass aufgrund „hinreichend gewichtiger tatsächlicher Anhaltspunkte für eine rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung (…) auch in Bayern der Beobachtungsauftrag eröffnet“ ist (S. 18 u. 19) und „die Bearbeitung der AfD als Beobachtungsobjekt des BayLfV (…) aus offenen Informationsquellen und auch mittels Einsatzes nachrichtendienstlicher Mittel“ erfolgt (S. 21).
33
(1) Ein Verdachtsfall ist nach der bayerischen Rechtslage keine ausdrückliche gesetzliche Kategorie - das Gesetz kennt nur das Erfordernis der tatsächlichen Anhaltspunkte -, allerdings wird er in der Praxis verbreitet als eine von drei Erscheinungsformen der tatsächlichen Anhaltspunkte (neben dem „Prüffall“ und der „erwiesenen extremistischen Bestrebung“) angesehen (vgl. Meiertöns in Dietrich/Fahrner/Gazeas/von Heintschel-Heinegg, Handbuch Sicherheits- und Staatsschutzrecht, 2022, § 18 Rn. 63; Löffelmann/Zöller, Nachrichtendienstrecht, 2022, B Rn. 29 ff.; Schneider, DÖV 2022, 372/373; Warg in Dietrich/Eiffler, Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, V § 1 Rn. 19 ff.). Ein Verdachtsfall wird dabei angenommen, wenn die vorhandene Erkenntnisdichte zwar einerseits den Grad der Gewissheit noch nicht erreicht hat, andererseits aber mehr als bloße „verdächtige Informationssplitter“ vorliegen (vgl. Schneider, DÖV 2022, 372/373).
34
(2) Tatsächliche Anhaltspunkte sind sowohl für die allgemeine Befugnis nach Art. 5 Abs. 1 BayVSG, die auch die Erhebung von Daten erfasst (vgl. Lindner in Möstl/Schwabenbauer, BeckOK PolR Bayern, 20. Ed., 1.10.2022, Art. 5 BayVSG Rn. 21), als auch für die Datenerhebung durch Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel nach Art. 8 Abs. 1 Satz 1 BayVSG Tatbestandsvoraussetzung. Verbreitet wird jedoch auf Basis der skizzierten Unterscheidungen - letztlich aus Gründen der Verhältnismäßigkeit - der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel erst mit dem Erreichen eines gewissermaßen verdichteten Grads an tatsächlichen Anhaltspunkten (dem Verdachtsfall) für zulässig erachtet (vgl. Löffelmann/Zöller, Nachrichtendienstrecht, 2022, B Rn. 31; s.a. Schneider, DÖV 2022, 372 ff.).
35
Nachrichtendienstliche Mittel sind nach Art. 8 Abs. 1 Satz 1 BayVSG Methoden, Gegenstände und Instrumente zur verdeckten Informationsbeschaffung. Spezifisch normiert sind sie teilweise in Art. 9 bis 19a BayVSG, für die die „tatsächlichen Anhaltspunkte“ aus Art. 5 BayVSG allerdings Mindestvoraussetzung sind (vgl. LT-Drs. 17/10014, S. 24). Soweit keine spezielle Regelung besteht, ist die Befugnisgeneralklausel des Art. 8 Abs. 1 Satz 1 BayVSG anwendbar. Verdeckt in diesem Sinne beschafft werden Informationen beispielsweise durch Observationen, Bild- und Tonaufzeichnungen oder den Einsatz von Vertrauensleuten (vgl. Lindner in Möstl/Schwabenbauer, BeckOK PolR Bayern, 20. Ed., 1.10.2022, Art. 8 BayVSG Rn. 24 ff.; Löffelmann/Zöller, Nachrichtendienstrecht, 2022, B Rn. 46 ff.).
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(3) Von der Möglichkeit, solche Mittel nach Art. 8 Abs. 1 BayVSG gegenüber der Antragstellerin wegen Vorliegens tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach Art. 3 BayVSG einsetzen zu dürfen, geht der Antragsgegner ausweislich der zitierten Beobachtungserklärung im vorliegenden Fall aus. Infolgedessen ist die Antragstellerin mit dem Risiko der heimlichen Ausforschung konfrontiert, auch wenn im Einzelfall noch situationsangemessene Verhältnismäßigkeitsüberlegungen durch den Antragsgegner vorzunehmen und die Maßgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz (BVerfG, U.v. 26.4.2022 - 1 BvR 1619/17 - BGBl. I S. 789, GVBl. S. 299) zu beachten sind.
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Gleichermaßen besteht für die Antragstellerin (weiterhin) das Risiko der „offenen Beobachtung“ nach Art. 5 Abs. 1 BayVSG, also des Einsatzes offener Recherchemethoden (vgl. Lindner in Möstl/Schwabenbauer, BeckOK PolR Bayern, 20. Ed., 1.10.2022, Art. 5 BayVSG Rn. 37 f.; Warg in Dietrich/Eiffler, Handbuch des Rechts der Nachrichtendienste, 2017, V § 1 Rn. 19). Solche Methoden sind, auch wenn sie im von ihr nicht bemerkt werden, nicht verdeckt im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Satz 1 BayVSG (vgl. Lindner in Möstl/Schwabenbauer, BeckOK PolR Bayern, 20. Ed., 1.10.2022, Art. 8 BayVSG Rn. 22 f.).
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(4) Schließlich birgt die Annahme des Antragsgegners, dass hinsichtlich der Antragstellerin tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach Art. 3 BayVSG bestehen, für diese auch das Risiko, im Rahmen der Öffentlichkeits- bzw. Aufklärungsarbeit nach Art. 26 BayVSG genannt zu werden (hiergegen wendet sie sich auch mit ihrem Antrag Nr. 1b). Zwar ist das dem Wortlaut der Vorschrift nach nur zulässig, wenn die tatsächlichen Anhaltspunkte zudem als hinreichend gewichtig anzusehen sind (vgl. zur Auslegung VG München, U.v. 27.9.2022 - M 30 K 18.1188 - juris Rn. 65 m.w.N.), gleichwohl ist mit der gegenwärtigen Einschätzung des Antragsgegners hierzu der „erste Schritt“ getan.
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bb) (1) Die mit dem Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel verbundenen Nachteile für die Antragstellerin sind grundsätzlich schwer und irreversibel. Das gilt zum einen, wenn solche Mittel tatsächlich eingesetzt werden. Es wird dann regelhaft - wenngleich mit je nach Mittel variierendem Gewicht - nicht nur (zumindest) in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der von Ausforschungsmaßnahmen unmittelbar betroffenen Personen eingegriffen, sondern auch in die durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Rechtsposition der Antragstellerin als Partei, die insbesondere vor staatlicher Partizipation am parteiinternen Willensbildungsprozess schützt (vgl. Klein in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: 82. EL Januar 2018, Art. 21 Rn. 577 ff.). Dies umso mehr, als die Beobachtung einen sich über einen längeren Zeitraum hinziehenden Prozess darstellt (vgl. Meiertöns in Dietrich/Fahrner/Gazeas/von Heintschel-Heinegg, Handbuch Sicherheits- und Staatsschutzrecht, 2022, § 18 Rn. 60). Ungeachtet der konkreten Anwendung solcher Mittel liegt bereits in der durch die - infolge der Beobachtungserklärung - erhöhten Wahrscheinlichkeit einer staatlichen Ausforschung eine Rechtsbeeinträchtigung für die Antragstellerin. Denn jedenfalls in Folge der erfolgten Veröffentlichung der Beobachtung besteht die Gefahr einer Beeinträchtigung der Chancengleichheit und einer Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den Parteien, die insbesondere im beginnenden Wahlkampf für die voraussichtlich im Herbst 2023 stattfindende Landtagswahl ein erhöhtes Gewicht erlangt (vgl. Art. 16 Abs. 1 Satz 3 BV; erste Aufstellungsversammlungen verschiedener Parteien haben bereits stattgefunden). Deutlich wird diese Gefahr dadurch, dass sich nicht nur für die Organisation, sondern für jedes Parteimitglied das Ausforschungsrisiko erhöht, auch wenn - worauf der Antragsgegner hinweist - zweifelsohne nicht jedes Mitglied tatsächlich beobachtet werden wird. Denn in einem Personenzusammenschluss im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Satz 1 BayVSG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG handelt, wer ihm erkennbar angehört; eine besonders qualifizierte Beteiligung ist nicht Voraussetzung (vgl. Pechtold in Möstl/Schwabenbauer, BeckOK PolR Bayern, 20. Ed., 1.10.2022, Art. 4 BayVSG Rn. 6). Infolgedessen liegen Einschüchterungswirkungen und Auswirkungen auf den Willensbildungsprozess vor Ort nahe, der die Antragstellerin erheblich beeinträchtigen kann (vgl. OVG NW, B.v. 18.2.2021 - 5 B 163/21 - juris Rn. 14 ff.; VG Köln, B.v. 26.2.2019 - 13 L 202/19 - juris Rn. 61; VG Wiesbaden, B.v. 19.10.2022 - 6 L 1166/22.WI). Insoweit ist es nicht maßgeblich, dass der Antragsgegner Abgeordnete des Bayerischen Landtags von der Beobachtung ausgenommen hat (vgl. Beobachtungserklärung vom … Juni 2022, S. 19 f.). Schließlich verringert sich das Gewicht der Beeinträchtigung nicht dadurch, dass der Bundesverband der Antragstellerin und hierüber womöglich auch die Antragstellerin selbst durch das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet wird. Gleichartige Grundrechtseingriffe durch mehrere Hoheitsträger erhöhen die Eingriffswirkung und relativieren sich nicht gegenseitig.
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Die beschriebenen Beeinträchtigungen erfahren ihr Gewicht auch dadurch, dass sie im Wesentlichen irreversibel sind. Das gilt nicht nur für Einwirkungen auf den internen Willensbildungsprozess und für etwaig bereits realisierte Wettbewerbsverzerrungen. Die Irreversibilität ist auch im Falle des Einsatzes eines nachrichtendienstlichen Mittels anzunehmen. Eine Informationserhebung kann, hat sie einmal stattgefunden, ihrem Wesen nach nicht rückgängig gemacht werden. Daran ändert auch nichts, dass erhobene Daten bei Erfolg des Eil- oder des Hauptsacheverfahrens - vorbehaltlich einer entsprechenden Fachverfahrensgestaltung beim Antragsgegner - wieder gelöscht werden könnten. Gestattete man deshalb vorerst die weitere Beobachtung, würde damit der Grundrechtsschutz von der Erhebungsauf die Auswertungsebene verschoben. Das ist mit dem Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte grundsätzlich nicht zu vereinbaren. Das Eingriffsgewicht erfährt auch keine Schmälerung dadurch, dass die Antragstellerin bis zum 5. Oktober 2022 ihre mögliche Beobachtung „hingenommen“ hat.
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(2) Entsprechend der vorstehend skizzierten Effekte und Wirkungen ist auch die Möglichkeit, dass die Antragstellerin Gegenstand von Öffentlichkeits- bzw. Aufklärungsarbeit auf Basis des Art. 26 BayVSG wird, mit erheblichen Nachteilen verbunden.
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(3) Anders als der tatsächliche oder auch nur erhöht wahrscheinliche Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln, sind demgegenüber die nachteiligen Wirkungen einer rein „offenen“ Beobachtung nach Art. 5 Abs. 1 BayVSG wegen der öffentlichen Zugänglichkeit möglicherweise erfasster Äußerungen trotz der Eingriffe in verfassungsmäßige Rechtspositionen als nicht besonders gravierend einzustufen. Öffentlich verfügbare Informationen sind weniger schutzwürdig.
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c) (1) Die Nachteile für den Antragsgegner liegen - ergeht eine beschränkende Zwischenentscheidung, hat aber später der Eilantrag keinen Erfolg - grundsätzlich darin, dass eine Beobachtungslücke entsteht, in der die Antragstellerin gegebenenfalls verfassungsfeindliche Bestrebungen von ihm unbeobachtet (bzw. weniger beobachtet) entfalten und vertiefen kann. Damit wird insbesondere seine Aufgabe, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu sichern und die bundesgesetzlich begründete Mitwirkung im Verfassungsschutzverbund (vgl. § 1 Abs. 2, 3 und §§ 5 f. BVerfSchG) beeinträchtigt. Mit dieser Aufgabe dient der Antragsgegner einem Schutzgut von hohem verfassungsrechtlichem Gewicht. Verfassungsfeinde sollen nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören dürfen. Dabei stellt das Grundgesetz in Rechnung, dass der Verfassungsschutz seine Aufgaben nur effektiv erfüllen kann, wenn er über nachrichtendienstliche Mittel verfügt, die verdeckt genutzt werden (vgl. BVerfG, U.v. 26.4.2022 - 1 BvR 1619/17 - juris Rn. 150).
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(2) Allerdings ist eine Beeinträchtigung der Aufgaben des Antragsgegners und damit der in Rede stehenden Rechtsgüter sowie der Mitwirkung im Verfassungsschutzverbund mit Blick auf die angestrebte Eilentscheidung in zeitlicher Hinsicht überschaubar. Ferner geht es im Rahmen der Beobachtung (anders als etwa im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren) im Schwerpunkt nicht darum, abgeschlossene Sachverhalte auszuermitteln und hierfür Beweise zu sichern, die nun durch die Antragstellerin (in Kenntnis einer unterbrochenen Beobachtung) beseitigt werden könnten. Es geht vielmehr darum, in einem sich über einen längeren Zeitraum hinziehenden Prozess herauszufinden, ob die Antragstellerin eine verfassungsfeindliche Bestrebung ist (vgl. Meiertöns in Dietrich/Fahrner/Gazeas/von Heintschel-Heinegg, Handbuch Sicherheits- und Staatsschutzrecht, 2022, § 18 Rn. 60). Diese prospektive Dimension der Beobachtung wird durch eine Unterbrechung zwar tangiert (sie ist insoweit irreversibel, wie sie für vergangene Zeiträume ihrem Wesen nach nicht nachgeholt werden kann), aber nicht strukturell erschwert. Denn sie kann jederzeit wieder aufgenommen werden. Gerade weil die Antragstellerin als Partei (anders als andere Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes, etwa aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität, vgl. VG München, U.v. 27.9.2022 - M 30 K 18.1188) auf Kommunikation und Offenheit nach außen angewiesen ist und über eine große Zahl an Akteuren verfügt, ist auch keine Abschottung zu erwarten, die die Wiederaufnahme der Beobachtung unzumutbar erschweren würde. Schließlich bleibt es ohnehin bei der Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, nach Maßgabe des § 5 Abs. 1 Satz 1 und insbes. Satz 2 Nr. 3 BVerfSchG gegebenenfalls sogar im Hoheitsgebiet des Antragsgegners (hierin liegt insoweit ein Unterschied zum Sachverhalt, der der anderslautenden Interessenabwägung des OVG NW, B.v. 18.2.2021 - 5 B 163/21 - juris Rn. 24 f. zugrunde lag).
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d) Insgesamt ergibt daher eine Abwägung, dass einerseits die Antragstellerin die (Beobachtungs-)Folgen, die mit der Annahme vom Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach Art. 3 BayVSG verbunden sind und sich als besonders schwerwiegend erweisen (dazu sogleich Rn. 46 f.), bis zur Entscheidung über den Eilantrag nicht hinnehmen muss und sich insoweit eine Beeinträchtigung der Aufgaben des Antragsgegners und seine Kooperationsmöglichkeiten im Verfassungsschutzverbund nach §§ 5 f. BVerfSchG als weniger gewichtig erweist. Andererseits ergibt die Abwägung, dass dem Antragsgegner bis zur Entscheidung über den Eilantrag mit Blick auf die von ihm zu schützenden Rechtsgüter immerhin die Möglichkeit verbleiben muss, die Antragstellerin auf Basis offen zugänglicher Informationen (Art. 5 Abs. 1 BayVSG) zu beobachten.
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IV. Welche Anordnungen im Einzelnen zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich sind, bestimmt das Gericht - wie bei Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO - nach seinem Ermessen. Dabei muss der Inhalt der Zwischenentscheidung insbesondere einen funktionalen Zusammenhang zu den die Verfügung rechtfertigenden Nachteilen für die Antragstellerin haben.
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Vor diesem Hintergrund ist es geboten, dem Antragsgegner vorläufig den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel - und zwar auch soweit sie im Einzelfall der präventiven Kontrolle durch das Amtsgericht nach Art. 11 Abs. 4 BayVSG oder der Entscheidung der Kommission nach dem Ausführungsgesetz Art. 10-Gesetz (AGG 10) unterliegen - und die Öffentlichkeits- bzw. Aufklärungsarbeit nach Art. 26 BayVSG nicht zu gestatten. Das Gericht sieht hierbei keine Notwendigkeit, in den Inhalt seiner Entscheidung den Begriff des Verdachtsfalls aufzunehmen (anders VG Köln, B.v. 5.3.2021 - 13 L 105/21; VG Wiesbaden, B.v. 19.10.2022 - 6 L 1166/22.WI). Der Begriff hat eher eine heuristische als eine rechtliche Funktion (vgl. oben Rn. 33).
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V. Abzulehnen ist der Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung, soweit er sich gegen die offene Beobachtung wendet (vgl. Rn. 42, 45) und sich darauf erstreckt, den Antragsgegner aufzugeben, die Pressemitteilung vom 8. September 2022. Eine auch nur vorübergehende Löschung der Pressemitteilung, mit der die Öffentlichkeit über die (bislang) stattfindende Beobachtung informiert hat, kann nicht verlangt werden. Das Gericht hat bereits Zweifel, ob ein Anspruch auf Korrektur bzw. Löschung einer im „Erlasszeitpunkt“ inhaltlich zutreffenden Pressemitteilung überhaupt bestehen kann oder ob - im Fall des Erfolgs des Eilantrags oder der Hauptsache - nicht nur ein Anspruch darauf besteht, dass eine „alte“ (aber nicht allein deshalb falsche) Pressemitteilung nicht als „weiterhin aktuell“ (insbesondere im Internetauftritt) „vermarktet“ wird (so wie derzeit beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz wegen der Platzierung der Pressemitteilung in der Rubrik „aktuelle Meldungen“; demgegenüber ist beim Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration die Pressemitteilung nur im „Archiv“ hinterlegt). Jedenfalls aber gehen von der Pressemitteilung bis zur Entscheidung über den Eilantrag für die Antragstellerin keine unzumutbaren Auswirkungen aus. Es ist der Öffentlichkeit hinlänglich bekannt, dass der Antragsgegner der Ansicht ist, die Antragstellerin mit Hilfe des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz beobachten zu dürfen, und entsprechend eine Beobachtung angeordnet hatte. An diesem Wissensstand der Öffentlichkeit kann auch eine Entfernung oder eine „Umgruppierung“ der Pressemitteilung bis zur Entscheidung im Eilverfahren nichts (mehr) ändern. Folge der fehlenden Entscheidungsreife ist auch, dass die Antragstellerin nicht verlangen kann, schon so gestellt zu werden als hätte das Eil- oder das Hauptsacheverfahren Erfolg.
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Weitere vorläufige Beschränkungen zu Lasten des Antragsgegners sind nicht erforderlich.
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VI. Eine Kostenentscheidung und eine Streitwertfestsetzung sind im Zwischenverfahren nicht veranlasst (vgl. BayVGH, B.v. 31.5.2019 - 8 CSA 19.1073 - juris Rn. 22).