Inhalt

VG München, Urteil v. 21.09.2022 – M 18 K 18.5706
Titel:

Anspruch auf Übernahme der Kosten einer Privatschule bei Asperger-Autismus

Normenkette:
SGB VIII § 35a, § 36, § 36a Abs. 3
Leitsätze:
1. Die Bereitstellung der räumlichen, sächlichen, personellen und finanziellen Mittel für die Erlangung einer angemessenen, den Besuch weiterführender Schulen einschließenden Schulbildung auch solcher Kinder und Jugendlicher, deren seelische Behinderung festgestellt ist oder die von einer solchen bedroht sind, obliegt zwar grundsätzlich nicht dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe, sondern dem Träger der Schulverwaltung. Da die Schulgeldfreiheit iVm der Schulpflicht eine Leistung der staatlichen Daseinsvorsorge darstellt und aus übergreifenden bildungs- und sozialpolitischen Gründen eine eigenständige (landesrechtliche) Regelung außerhalb des Sozialgesetzbuches gefunden hat, ist grundsätzlich für einen gegen den Träger der Kinder- und Jugendhilfe gerichteten Rechtsanspruch auf Übernahme der für den Besuch einer Privatschule anfallenden Aufwendungen (Aufnahmebeitrag, Schulgeld etc.) kein Raum. Ausnahmen von diesem durch das Verhältnis der Spezialität geprägten Grundsatz sind aber für den Fall in Betracht zu nehmen, dass auch unter Einsatz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf des jungen Menschen im Rahmen des öffentlichen Schulsystems zu decken, mithin diesem der Besuch einer öffentlichen Schule aus objektiven oder aus schwerwiegenden subjektiven (persönlichen) Gründen unmöglich bzw. unzumutbar ist. (Rn. 69) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar kann der Träger der Jugendhilfe das Systemversagen jederzeit beenden und die Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Hilfe wieder an sich ziehen. Hierzu wären aber eine sachgerechte Entscheidung und ein ordnungsgemäßes Hilfeplanverfahren erforderlich. (Rn. 76) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kostenübernahme für selbstbeschaffte Jugendhilfemaßnahme (Stattgabe), Privatschule, Systemversagen, Hilfeplanverfahren, Maßstab der sozialpädagogischen Fachlichkeit, Schulgebühren, Montessori, abschnittsweise Betrachtung, Schulbegleitung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29395

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger die Kosten für den Schulbesuch der Montessori-Schule … für den Zeitraum vom 1. September 2018 bis 31. Januar 2023 in Höhe von 15.139,00 EUR zu erstatten.
III. Von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens hat der Kläger 1/5 und der Beklagte 4/5 zu tragen.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Erstattung der Kosten für seinen Besuch einer M. Schule im Zeitraum 1. September 2018 bis 31. Januar 2023 als Maßnahme der Jugendhilfe.
2
Bei dem am ... 2007 geborenen Kläger wurde laut ärztlich-psychologischem Bericht vom ... 2012 eine tiefgreifende Entwicklungsstörung im Sinne eines Asperger-Syndroms (ICD-10 F 85.4) (Achse 1) ohne umschriebene Entwicklungsstörung (Achse 2) und ohne wesentlich körperliche Erkrankung (Achse 5) bei aktuell unterdurchschnittlicher Intelligenz (Achse 3), leichter psychosozialer Belastung (Achse 5) und mäßiger sozialer Beeinträchtigung (Achse 6) festgestellt. Es würden sich deutliche Defizite im Bereich der Kommunikation, Interaktion sowie sensorische Interessen, stereotypes Spielverhalten sowie zwanghafte Verhaltensweisen zeigen. Empfohlen wurden eine Wiederholung der Überprüfung der intellektuellen Fähigkeiten vor Einschulung und nach erfolgter Förderung besonders in den Bereichen der Visuomotorik und Handlungsplanung, die Aufnahme in eine schulvorbereitende Einrichtung und die Fortführung der Ergotherapie. Die Befunde hätten in ihrer Auswirkung eine deutliche Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit, die länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweiche, gezeigt. Die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sei nach fachärztlicher Einschätzung deutlich beeinträchtigt.
3
Laut Stellungnahme des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes-Autismus (MSD-A) vom ... 2013 schien der Kläger in der Lage, die Lernziele der Regelschule zu erreichen. Er würde aber in der Gruppensituation durch die Vielzahl der Reize zum Teil überfordert und benötige gelenkte Rückzugsmöglichkeiten. Außerdem habe er noch große Schwierigkeiten, sich selbst zu strukturieren und zu steuern. Auch in sozialen Situationen verhalte er sich noch nicht adäquat. Daher benötige er dringend einen Schulbegleiter.
4
Aus einem ärztlich-psychologischen Bericht vom ... 2013 ergeben sich erneut die o.g. Diagnosen. Außerdem wird mitgeteilt, der Kläger sei in einem außerordentlichen besonderen Maße auf die Hilfe einer Bezugsperson angewiesen, das sehr deutlich über den für sein Alter üblichen Rahmen hinausgehe. Es müsse eine ständige Bereitschaft zur individuellen Hilfe gegeben sein. Eine Schulbegleitung im vollem Umfang werde daher empfohlen.
5
Bei einer Intelligenztestung am ... 2013 in einer Spezialambulanz für Autismus und Entwicklungsstörungen ergab sich auf Achse 3 der multiaxialen Diagnose eine „Intelligenz insgesamt im unteren Normbereich“.
6
Eine sozialpädagogische Stellungnahme des Jugendamts vom ... 2013 sprach sich für eine Schulbegleitung aus. Es liege ein Integrationsrisiko in den Bereichen „Schulische Anpassung/Leistungsfähigkeit (Leistungsverweigerung, Ausweichverhalten, Leistungsblockaden mit Störverhalten, sehr sprunghafte Aufmerksamkeitssteuerung, fehlende Selbststrukturierung und Selbststeuerung)“ sowie „Bewältigung von sozialen Situationen bei fehlenden sozialen Kompetenzen (Kontaktschwierigkeiten, Rückzugstendenzen)“ vor. Der Kläger benötige „Übersetzungshilfe“ in sozialen Situationen, Strukturierungshilfe in Leistungssituationen, gelenkte Rückzugsmöglichkeiten, Schutz vor sozialer Überforderung, Führung und Kontrolle, Wiederholungen und Zeit.
7
Ab dem Schuljahr 2013/2014 besuchte der Kläger eine Regelgrundschule mit flexiblen Klassensystem.
8
Auf Grund des Antrags vom 5. Juni 2013 gewährte der Beklagte mit Bescheid vom 22. August 2013 erstmals Eingliederungshilfe in Form einer Schulbegleitung ab 12. September 2013. Die Eingliederungshilfe in Form von Schulbegleitung wurde mit weiteren Bescheiden lückenlos weitergewährt.
9
Mit Bescheid vom 19. September 2013 gewährte der Beklagte antragsgemäß außerdem Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für ein autismusspezifisches Training in einer heilpädagogischen Praxis. Diese Hilfe erhielt der Kläger bis 30. September 2015.
10
Im Hilfeplanprotokoll vom ... 2013 wird berichtet, der Kläger komme in der Schule leistungsmäßig gut mit. Seine Ausdauer sei noch wenig ausgeprägt, er schalte ab, wenn es ihm zu viel werde. Die Schulbegleiterin müsse u.U. ca. vier bis fünf Mal für fünf bis fünfzehn Minuten mit ihm aus der Klasse gehen. Im Klassenzimmer seien die Reize oft zu viel, er könne nicht fokussieren. Im Klassenverband sei er integriert, seine Kontaktbemühungen seien jedoch oft nicht passend. In der Pause habe er die Tendenz wegzulaufen. Insgesamt sei er wenig räumlich und zeitlich orientiert.
11
Am ... 2014 nahm der MSD-A zur Weiterführung der Schulbegleitung dahingehend Stellung, dass der Kläger nach wie vor gelenkte und betreute Rückzugs- und Auszeitmöglichkeiten benötige, da seine Aufmerksamkeitsspanne und sein Durchhaltevermögen noch deutlich eingeschränkt seien. Er müsse konsequent von Seiten der Schulbegleitung auf die unterrichtlichen Inhalte fokussiert werden. Auch Aufgabenstellungen müssten zum Teil von der Schulbegleitung noch einmal besprochen werden. Bei der Ausführung und Bearbeitung von schriftlichen Arbeitsaufträgen sei der Kläger auf strukturgebende Unterstützungsmaßnahmen und Anleitung bei der Organisation und Durchführung durch die Schulbegleitung angewiesen.
12
Dem Hilfeplanprotokoll vom ... 2018 lässt sich entnehmen, dass der Kläger, der zwischenzeitlich die 4. Klasse besuche, weiterhin auf die Schulbegleitung angewiesen sei, insbesondere während Gruppenarbeiten und in den Pausen. Er habe nach wie vor Schwierigkeiten mit seinem Zeitgefühl und benötige hier vorgegebene Strukturierung. Des Weiteren sei er häufig gedanklich abwesend und müsse „in die Realität zurückgeholt werden“. Leistungskontrollen würden außerhalb der Klasse mit der Schulbegleitung geschrieben. Er benötige Motivation, um bei Schwierigkeiten weiter zu arbeiten. Weiterhin seien Auszeiten erforderlich. Die Schulbegleitung könne den Kläger aktuell maximal fünf bis zehn Minuten allein lassen.
13
Entsprechend dem Protokoll sei vereinbart worden, dass die Mutter des Klägers das Jugendamt informieren werde, sobald feststehe, welche weiterführende Schule der Kläger im Schuljahr 2018/2019 besuchen werde. Sie werde sich nach Hospitationen erkundigen sowie dazu, wie die Bedingungen in der Schule, für welche sie sich mit dem Kläger entscheide, bezüglich Schulbegleitung seien.
14
Die Klassenlehrerin der Grundschule berichtete dem Beklagten gegenüber am 5. März 2018 über die Fortschritte und Förderschwerpunkte des Klägers und formulierte als Ziel im Hinblick auf den anstehenden Wechsel auf eine weiterführende Schule u.a., der Übertritt müsse von Anfang an gut geplant und angebahnt werden, mögliche Hürden müssten antizipiert werden, um so wenig Veränderung in den Lernbedingungen zu bewirken (selbständiges Arbeiten fördern, Eingehen auf Geschwindigkeit/Können des Partners ausbauen, Sich-Einbringen in größeren Gruppen anbahnen, gezieltes Konzentrieren fördern, weitere Verbesserung des Zeitbewusstseins/-managements, Verantwortung für Klassendienste ausbauen, Vertrautheit und Geborgenheit im Team mit der Schulbegleiterin beibehalten, weiterhin Ausweichmöglichkeiten schaffen und bereitstellen, z.B. Räume, individuelle Bewegungszeiten, offene Zeitstruktur des Unterrichts).
15
Am ... 2018 schloss die Mutter des Klägers einen Schulvertrag mit der M. Schule R. Als Datum des Schuleintritts wurde der 1. August 2018 genannt.
16
Am 4. Juni 2018 beantragte die Mutter des Klägers beim Beklagten die Übernahme der Kosten für die M. Schule R. nach § 35a SGB VIII. Zur Begründung wies sie darauf hin, der Kläger habe die Befähigung, eine Realschule zu besuchen. An der nächstgelegenen öffentlichen Realschule bestehe jedoch auch mit unterstützenden Maßnahmen nicht die Möglichkeit, den Kläger erfolgreich zu unterrichten. Die öffentliche Realschule habe keine Erfahrung in der Beschulung von Autisten. Die Schule sei groß und habe viele Schüler. Klassenräume seien in Container ausgelagert. Der Klassenlehrer sei keine feste Bezugsperson. Es gebe häufige Lehrer- und Klassenzimmerwechsel, große Klassen, keine Rückzugsmöglichkeiten, keine Möglichkeit zur Rücksichtnahme auf das individuelle Lerntempo des Klägers, Leistungsdruck, Hausaufgaben. In der M. Schule hingegen habe man Erfahrung mit Autisten, der Kläger bekomme eine individuelle Strukturierung im schulischen Ablauf. Die Schule sei klein und überschaubar mit wenig Schülern. Ein fester Klassenlehrer sei Bezugsperson über mehrere Jahre (jahrgangsübergreifender Unterricht). Der Unterricht finde in einem festen Klassenzimmer statt. Rückzugsmöglichkeiten seien vorhanden. Die Montessori-Pädagogik basiere auf dem individuellen Lerntempo der Schüler. Es gebe ein positives soziales Lernumfeld, keinen Leistungsdruck, keine Proben und keine Hausaufgaben. Hinzu komme, dass der schulische Druck mit den höheren Klassen steigen werde und auch die Pubertät hinzukomme, die bei Autisten meist um ein vielfaches intensiver ausfalle. Bisher habe die Mutter selbst den Kläger schulisch intensiv gefördert und ihn bei seinen Hausaufgaben begleitet. Aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen könne sie dies jedoch künftig nicht mehr bewältigen.
17
Dem Antrag lag eine Stellungnahme der Rektorin der von dem Kläger besuchten Grundschule vom ... 2018 bei, die besagt, dass der Kläger nur unter bestimmten Bedingungen erfolgreich am Unterricht teilnehmen könne. Proben, Diktate und Listening Comprehension müssten in einem separaten Raum stattfinden. Proben müssten vorstrukturiert und angepasst werden. Lehrer müssten immer wieder neu im Umgang mit Autismus geschult werden. Die Hilfeplangespräche mit Klassenleitung, Schulleitung, Schulbegleitung und Jugendamt müssten weiterhin stattfinden. Der Stundenplan müsse so geplant werden, dass der Kläger möglichst wenig Räume wechseln müsse. Ein reizreduzierter Ruheraum müsse vorhanden sein. Sollten diese Bedingungen an einer staatlichen Realschule nicht erfüllt werden können, würde dringend der Besuch ein einer Privatschule empfohlen.
18
Außerdem wurde ein jugendpsychiatrisches Gutachten vom ... 2018 vorgelegt, in dem als zusätzliche Diagnose ADHS (ICD-10 F 90.0) angeführt wird, und bezüglich des anstehenden Schulwechsels ausgeführt wird, es käme am ehesten eine kleine überschaubare Schule mit einem festen Klassenzimmer, möglichst wenig Lehrerwechsel sowie Erfahrung in der Beschulung von Autisten in Frage. Es sei zudem wichtig, eine Schule ohne Hausaufgaben auszuwählen, da die Mutter diesbezüglich am Rande ihrer Belastbarkeit angekommen sei. Auch solle die Schule Rückzugsmöglichkeiten anbieten. Nach den Erzählungen der Mutter über die Rahmenbedingungen in der öffentlichen Realschule und in der M. Schule werde der Wechsel auf die M. Schule befürwortet.
19
In dem Hilfeplanprotokoll vom ... 2018 ist hinsichtlich der schulischen Zukunftsperspektive des Klägers ausschließlich festgehalten, dass sich die Mutter für die M. Schule entschieden habe und auch der Kläger in diese Schule wolle. Besonders die Ruhe und die Zugabe an Zeit für Aufgaben hätten ihm gefallen.
20
In einer internen E-Mail vom 3. Juli 2018 teilte die zuständige sozialpädagogische Mitarbeiterin des Beklagten der Sachbearbeiterin mit, im Hilfeplangespräch am ... 2018 sei besprochen worden, dass der Kläger ab Klasse 5 auf die M. Schule gehen solle. Er habe von der Grundschule die Empfehlung für die Realschule erhalten. Das Gebäude der öffentlichen Realschule sei derzeit derart überfüllt, dass in Container ausgewichen werden müsse. Zudem würde es einen häufigen Raum- und Lehrerwechsel geben. Unter diesen Umständen hätte der Kläger immense Schwierigkeiten sich zurecht zu finden. Aus diesem Grund habe die Rektorin der Grundschule von dieser Schule abgeraten. Auf der M. Schule hingegen seien die Klassen kleiner, im Schulgebäude könne sich der Kläger einfacher zurechtfinden und er wäre nicht derartiger Reizüberflutung ausgesetzt. Der Kläger habe die M. Schule bereits kennengelernt und ihm hätten die örtlichen Gegebenheiten sehr gut gefallen. Er genieße die dortige Ruhe und bekomme mehr Zeit zum Arbeiten.
21
Mit Schreiben vom selben Tag wurde die Mutter des Klägers zur beabsichtigten Ablehnung des Antrags auf Übernahme des Schulgeldes angehört.
22
Mit Schreiben vom 27. Juli 2018 wandte sich der Beklagte an den Ministerialbeauftragten für die Realschulen in Oberbayern-Ost, stellte den Fall des Klägers dar und bat um Auskunft dazu, ob die Beschulung des Klägers an einer staatlichen Schule mit vollumfänglicher Schulbegleitung grundsätzlich möglich sei, ob durch eine staatliche Realschule die Möglichkeit bestehe, den Hilfebedarf des Klägers zu decken und ob eine Beschulung in einer Regelschule zumutbar sei. Der im Folgenden erfolgten Bitte des Ministerialbeauftragen um Übermittlung von Unterlagen über den Kläger wurde wohl nachgekommen. Welche Unterlagen übersandt wurden, lässt sich der Akte nicht entnehmen.
23
Der Beklagte wandte sich am selben Tag auch an die Schulleiterin der zum Wohnort des Klägers nächstgelegenen staatlichen Realschule. Diese teilte mit, sie habe Anfang März 2018 mit der Mutter des Klägers Kontakt gehabt und ihr mitgeteilt, dass generell jede staatliche Schule zur Aufnahme eines autistischen Kindes verpflichtet sei. Die Schule sei dann an den Nachteilsausgleich und Notenschutz, den der Ministerialbeauftragte auf der Grundlage eines MSD-Gutachtens und eines fachärztlichen Attests ausstelle, gebunden. Die Mutter des Klägers sei darauf hingewiesen worden, dass eine Anmeldung Anfang Mai notwendig sei, damit im Vorfeld eine Begutachtung durch den MSD und ein Antrag auf zusätzliche Budgetstunden möglich seien. Aktuell sei eine Aufnahme nicht mehr möglich, da drei fünfte Klassen mit jeweils über 30 Schülern zustande gekommen seien und man nun keine zusätzlichen Budgetstunden und keinen Nachteilsausgleich und Notenschutz hätte.
24
Ab 11. September 2018 besuchte der Kläger die M. Schule R.
25
Mit Schreiben vom 16. Oktober 2018 teilte der Ministerialbeauftragte für die Realschulen in Oberbayern-Ost dem Beklagten mit, die Beschulung des Klägers an einer Regelschule sei grundsätzlich möglich, zumal dies bisher auch der Fall gewesen sei. Im Rahmen eines eigenen Bescheids, in dem das Thema Nachteilsausgleich bzw. Notenschutz festgelegt würde, müssten die individuellen Maßnahmen definiert werden.
26
Mit Bescheid vom 25. Oktober 2018 wurde der Antrag auf Übernahme des Schulgeldes für die M. Schule im Rahmen der Eingliederungshilfe abgelehnt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen mitgeteilt, die schulische Förderung sei eine vorrangig dem öffentlichen Bildungswesen zugewiesene Aufgabe. Aus dem Vorrangprinzip des § 10 Abs. 1 SGB VIII resultiere, dass vor Inanspruchnahme der Jugendhilfe das öffentliche Schulsystem in Anspruch genommen werden müsse. Nur wenn im Einzelfall und unter Berücksichtigung der krankheitsbedingten Einschränkungen des Kindes die Leistungsangebote der öffentlichen Schulen nicht vorhanden oder ausreichend seien, könne die Jugendhilfe herangezogen werden. Laut Stellungnahme der staatlichen Realschule vom ... 2018 sei jede staatliche Schule zur Aufnahme eines autistischen Kindes verpflichtet. Um eine Beschulung möglich zu machen, müssten individuelle Maßnahmen getroffen werden, z.B. Nachteilsausgleich, Notenschutz, kleinere Klassen oder weniger Klassenzimmerwechsel. Eine Aufnahme in der staatlichen Realschule wäre möglich gewesen. Auch in der Stellungnahme des Ministerialbeauftragen für die Realschulen Oberbayern-Ost werde bestätigt, dass ein Besuch einer staatlichen Realschule grundsätzlich möglich sei. Bisher habe der Besuch der Grundschule mit Schulbegleitung und individuellen Maßnahmen erfolgreich stattgefunden. Eine Schulbegleitung sei weiterhin genehmigt worden.
27
Am 23. Oktober 2018 erhob der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Klage gegen den Bescheid vom 25. Oktober 2018.
28
Mit Schriftsatz vom 29. Januar 2019 beantragte der Beklagte,
29
die Klage abzuweisen.
30
Zur Begründung wurde zusätzlich zu den im Bescheid genannten Argumenten ausgeführt, es bestehe kein Anspruch auf bestmögliche Förderung, sondern nur ein Anspruch auf eine angemessene Schulbildung. An die Empfehlungen der Kinder- und Jugendpsychiaterin sei der Beklagte darüber hinaus nicht gebunden.
31
Mit Schriftsatz vom 13. Februar 2019 begründete der Klägerbevollmächtigte die Klage und beantragte zuletzt in der mündlichen Verhandlung vom 21. September 2022:
32
1. Der Bescheid der Beklagten vom 25. Oktober 2018 wird aufgehoben.
33
2. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger Eingliederungshilfe gemäß § 35a, 36a SGB VIII in Form der Übernahme des Schulgeldes für den Besuch der M. Schule R. für den Zeitraum ab dem 1. September 2018 bis zum 31. Januar 2023 zu gewähren.
34
Zur Begründung wurde auf die Begründung des Antrags verwiesen. Außerdem sei beim Hilfeplangespräch am ... 2018 besprochen worden, dass der Kläger ab Klasse 5 die M. Schule besuchen werde. Ferner habe die Sozialpädagogin im Jugendamt in der E-Mail vom 3. Juli 2018 mitgeteilt, dass die staatliche Schule für den Kläger nicht in Betracht komme. Auch die Rektorin der Grundschule hätte vom Besuch der staatlichen Grundschule abgeraten. Schließlich habe die behandelnde Psychiaterin den Besuch der M. Schule befürwortet.
35
Laut Hilfeplanprotokoll vom ... 2019 sei die Umstellung auf die M. Schule für den Kläger am Anfang sehr intensiv gewesen. Er habe häufig eine Pause benötigt und dann sogar z.T. bis zu 20 Minuten geschlafen. Dies habe sich jedoch gebessert. Der Kläger profitiere von den zwei Lehrern in der Klasse und das Klassenklima sei gut. Um ihn herum seien 23 andere Schüler von der 5. bis zur 7. Jahrgangsstufe. Schwierigkeiten würden vor allem in Gruppensituationen auftreten. Sein Arbeitstempo werde als eher langsam beschrieben, bei vielen Anforderungen gleite er ab. Auch in Stresssituationen verliere der Kläger die Orientierung und brauche Erholungsphasen. Er profitiere vom individuellen Lernen. Die Orientierung vor Ort gelinge mit Unterstützung der Schulbegleiterin und je nach Tagesverfassung. Bezüglich der Sozialkontakte fehle dem Kläger die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Er könne emotionale Reaktionen nicht nachvollziehen. Insgesamt sei die Entwicklung aber positiv in vielen Bereichen. Die Montessori-Methoden eigneten sich gut, z.B. beim Mengenverständnis. Bezüglich der Hausaufgabensituation zu Hause sei Entspannung eingetreten.
36
Mit Schriftsatz vom 6. Mai 2019 übersandte der Klägerbevollmächtigte eine Stellungnahme des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes Autismus vom ... 2019, aus der hervorgeht, dass die M. Schule R. derzeit den angemessenen schulischen Förderort für den Kläger darstelle. Dort könne er individuell sein vorhandenes Leistungspotential unter entsprechenden pädagogischen Rahmendbedingungen entwickeln.
37
Mit Schriftsatz vom 22. November 2019 übersandte der Klägerbevollmächtigte eine psychotherapeutische Stellungnahme vom ... 2019 bzgl. der Verhaltenstherapie des Klägers, in der mitgeteilt wird, dass der Kläger seit dem Wechsel auf die M. Schule emotional deutlich ausgeglichener und ruhiger wirke. Er habe dort keine Konflikte mehr, seine Klasse sei deutlich kleiner und es gebe mehr Rückzugsmöglichkeiten. Im Rahmen der Gruppentherapie sei im Umgang mit den Mitpatienten eine spürbare Verbesserung seiner sozialen Kompetenzen beobachtbar. Er schaffe es besser, seine Aufmerksamkeit auf das Gruppengeschehen und die Äußerungen seiner Mitpatienten zu lenken. Jedoch sei die Aufmerksamkeitsspanne nach wie vor sehr kurz und er benötige auch in der Kleingruppe durchgehend individuelle Unterstützung und Betreuung. Auch benötige er immer wieder Auszeiten und Gelegenheit, sich zurückzuziehen, um weniger Reizen ausgesetzt zu sein und ruhiger zu werden. Der Kläger verfüge bei weitem nicht über eine seinem Alter entsprechende selbständige Arbeitsweise oder einen altersentsprechenden Umgang mit Gleichaltrigen. Die seit dem Schulwechsel erzielten therapeutischen Fortschritte und positiven Entwicklungen wären bei einem erneuten Schulwechsel gefährdet. Kontinuität, Verlässlichkeit und Routine im Hinblick auf Bezugspersonen, Räumlichkeiten und Abläufe seien von besonders großer Bedeutung. Ein erneuter Schulwechsel würde für den Kläger mit großer Wahrscheinlichkeit eine Überforderungssituation darstellen und die bisherigen Fortschritte gefährden. Daher werde der Verbleib an der M. Schule ausdrücklich befürwortet.
38
Außerdem wurde ein Schreiben des Psychotherapeuten der Mutter des Klägers vom ... 2019 vorgelegt, das im Wesentlichen besagt, dass sich die familiäre Situation seit dem Schulwechsel erheblich entspannt habe und sich der Gesundheitszustand der Mutter deutlich habe verbessern können.
39
Mit Schreiben vom 2. Juli 2020 legte der Klägerbevollmächtigte ein kinder- und jugendpsychiatrisches Attest vom ... 2020 vor, das besagt, dass sich die Schulwahl rückblickend als sehr günstig herausgestellt habe. Der Kläger benötige zwar eindeutig noch die Unterstützung durch die Schulbegleitung, insgesamt sei er aber bereits viel selbständiger in seinem Lern- und Arbeitsverhalten geworden und komme vom Schulstoff her gut mit.
40
Gleichzeitig wurde ein pädagogisches Wortgutachten/Entwicklungsbericht vom ... 2020 des Klassenleiters an der M. Schule R. vorgelegt. Darin heißt es, im Berichtszeitraum seien die Materialdarbietungen nach Maria Montessori zur Einführung von Themen für den Kläger wichtig gewesen. Er habe sehr vom „begreifenden Lernen“ profitiert und habe stets die benötigte Zeit bekommen, um in seinem eigenen Lerntempo voranzuschreiben. Oft habe er erarbeitete Inhalte wieder vergessen, es sei aber immer möglich, Stoff zu wiederholen und zu festigen. Der Kläger habe immer wieder Erholungsphasen gebraucht, zu denen er in den Nebenraum habe ausweichen können. Generell sei es wichtig gewesen, ohne Druck und im eigenen Tempo arbeiten zu können.
41
Laut Hilfeplanprotokoll vom 28. April 2021 sei der Kläger coronabedingt lange Zeit im „Homeschooling“ gewesen. Die Schulbegleiterin wiederhole und erarbeite viel Stoff mit ihm. Er könne sich zumeist über eine Zeitspanne von 30 Minuten konzentrieren und auch ausdauernd an den Lerninhalten arbeiten, sofern sich für ihn ein lohnendes Ziel (Pause oder Brettspiel) ergebe. Ansonsten schweife er gedanklich schnell vom Thema ab. Seine Motivation, sich mit Lerninhalten auseinanderzusetzen, sei z.B. in Mathematik nicht besonders groß, da er große Schwierigkeiten habe, sich mathematische Inhalte zu erschließen. Eine ruhige Arbeitsumgebung in einem separaten Raum sei sehr wichtig. Arbeitsanweisungen der Lehrer ignoriere er bzw. nehme sie nicht wahr. In einem sehr konkreten und vorher festgelegten Rahmen könne er Arbeitsaufträge selbständig bearbeiten. Er arbeite an Lerninhalten der 6. Jahrgangsstufe. Seine Mitschüler seien ihm in den Kompetenzzielen überwiegend um ein bis zwei Jahre voraus. Im Präsenzunterricht sei der Kläger sehr auf die Unterstützung der Schulbegleitung angewiesen, um sich im Schulgebäude zu orientieren oder mit einem Lehrer- und Fächerwechsel zurechtzukommen.
42
Mit Schreiben vom 16. September 2022 legte der Klägerbevollmächtigte auf Anforderung des Gerichts den Schulvertrag vom 7. März 2018 vor und bezifferte die monatlichen Schulgebühren für die Schuljahre 2018/19 bis 2022/23.
43
Am 21. September 2022 fand die mündliche Verhandlung statt. Der Bevollmächtigte des Klägers konkretisierte das Klagebegehren hinsichtlich des geltend gemachten Zeitraums und nahm sie im Übrigen zurück.
44
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 21. September 2022 sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

45
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
46
Im Übrigen ist die zulässige Klage begründet. Der Kläger hat einen Anspruch gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII auf Übernahme der Kosten für den Besuch der M. Schule R. im Zeitraum vom 1. September 2018 bis 31. Januar 2023 als selbstbeschaffte Eingliederungshilfe nach § 36a SGB VIII i.V.m. § 35a SGB VIII. Der ablehnende Bescheid vom 25. Oktober 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
47
Für in der Vergangenheit liegende Maßnahmen scheidet eine rückwirkende Bewilligung von Jugendhilfemaßnahmen aus, da Maßnahmen der Jugendhilfe der Deckung eines aktuellen Bedarfs des Hilfeempfängers dienen. Dementsprechend kann sich ein Anspruch für die Vergangenheit ausschließlich auf Erstattung der Kosten einer selbstbeschafften Maßnahme gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII richten (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 - 12 ZB 13.2025 - juris Rn. 12).
48
Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei Leistungen der Jugendhilfe ist regelmäßig der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich (OVG Lüneburg, B.v. 31.3.2020 - 10 PA 68/20 - juris Rn. 6 f.). Eine Ausnahme hiervon besteht dann, wenn die Behörde den Hilfefall statt für den dem Bescheid nächstliegenden Zeitraum für einen längeren Zeitraum geregelt hat. Ebenso wie sich eine Bewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe über einen längeren Zeitraum erstrecken kann, kann auch die Ablehnung einer solchen Bewilligung einen längeren Zeitabschnitt erfassen. Dabei braucht der die Bewilligung oder Ablehnung betreffende Regelungszeitraum nicht ausdrücklich benannt zu sein, sondern kann sich aus dem maßgeblichen Bescheid auch durch Auslegung ergeben. Wurden Leistungen für einen in die Zukunft hineinreichenden Zeitraum abgelehnt, so ist die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme nicht auf die Beurteilung der Sach- und Rechtslage beschränkt, wie sie bis zum Erlass des Bescheids bestanden hat. Es ist vielmehr die weitere Entwicklung in die Prüfung einzubeziehen. Denn für die gerichtliche Verpflichtung zur Hilfegewährung kann die Sach- und Rechtslage im gesamten Regelungszeitraum maßgeblich sein, gegebenenfalls begrenzt durch den Zeitpunkt der (letzten) tatrichterlichen Entscheidung, wenn der Regelungszeitraum darüber hinausreicht (SächsOVG, B.v. 26.4.2022 - 3 A 77/21; OVG NW, B.v. 23.8.2022 - 12 B 819/22 - juris jeweils mit umfangreichen weiteren Nachweisen). Vorliegend hat der Beklagte zwar in dem ablehnenden Bescheid vom 25. Oktober 2018 keinen Entscheidungszeitraum genannt, aufgrund seines folgenden Verhaltens im Verfahren lässt sich jedoch eindeutig feststellen, dass der Beklagte die Hilfebewilligung bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weiter ablehnte. Denn obwohl der Beklagte dem Kläger über den gesamten maßgeblichen Zeitraum Hilfe in Form der Bewilligung von Schulbegleitung gewährte, hierzu regelmäßig Hilfeplangespräche durchgeführt wurden und von der Klageseite auch im gerichtlichen Verfahren regelmäßig aktualisierte Gutachten vorgelegt wurden, sah sich der Beklagte erkennbar zu keinem Zeitpunkt veranlasst, seine ablehnende Entscheidung hinsichtlich der Bewilligung der Übernahme des Schulgeldes für die Privatschule zu überdenken. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass der Beklagte mit dem Bescheid vom 25. Oktober 2018 eine abschließende Entscheidung treffen wollte und diese Entscheidung auch während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums aufrecht hielt.
49
Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten für eine Hilfe grundsätzlich nur dann zu übernehmen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Eine solche positive Entscheidung des Beklagten liegt vorliegend nicht vor.
50
Für den Fall, dass Hilfen abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn (1.) der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat, (2.) die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und (3.) die Deckung des Bedarfs (a) bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder (b) bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.
51
§ 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sichert mit diesen Tatbestandsvoraussetzungen die Steuerungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe; dieser soll die Leistungsvoraussetzungen sowie mögliche Hilfemaßnahmen unter Zubilligung eines angemessenen Prüfungs- und Entscheidungszeitraums jeweils pflichtgemäß prüfen können und nicht nachträglich als bloße Zahlstelle für selbstbeschaffte Maßnahmen fungieren (BayVGH, B.v. 25.6.2019 - 12 ZB 16.1920 - juris Rn. 35). Liegt hingegen ein Systemversagen in dem Sinne vor, dass das Jugendamt gar nicht, nicht rechtzeitig oder nicht in einer den Anforderungen entsprechenden Weise über eine begehrte Hilfeleistung entschieden hat, darf ein Leistungsberechtigter im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden und nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. In dieser Situation ist er - obgleich ihm der Sachverstand des Jugendamts fehlt - dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen mit der Folge, dass sich die Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung des Leistungsberechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr im Nachhinein nicht etwa mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet oder notwendig gehalten (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 - 5 C 21/11 - juris Rn. 33 f.; U.v. 9.12.2014 - 5 C 32/13 - juris m.w.N.).
52
Die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sind hier gegeben.
53
1) Der Kläger hat den Beklagten zumindest bei Betrachtung des nunmehr streitgegenständlichen Zeitraums ab September 2018 rechtzeitig vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt, § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII.
54
Die Information des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe muss so rechtzeitig erfolgen, dass dieser in der Lage ist, pflichtgemäß die Voraussetzungen und die in Betracht kommenden Hilfen zu prüfen (BVerwG, U.v. 11.8.2005 - 5 C 18/04 - juris Rn. 19; OVG NW B.v. 20.11.2015 - 12 A 1542/15 - juris Rn.5; Winkler, in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, beckOK Sozialrecht, 65. EditionStand: 1.6.2022, § 36a SGB VIII Rn. 18). Hierbei gibt es keine regelmäßige Bearbeitungszeit für das Jugendamt, vielmehr hängt die dem Jugendhilfeträger für die Prüfung zur Verfügung stehende Zeit und damit die dem Hilfesuchenden zumutbare Zeitspanne des Zuwartens von den Umständen des Einzelfalls ab (OVG NW, B.v. 9.10.2020 - 12 A 195/18 - juris Rn. 26). Maßgeblicher Zeitpunkt der Selbstbeschaffung bei der Einschulung in eine Privatschule ist nicht der Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages, sondern der Beginn der Beschulung (NdsOVG, B.v. 25.11.2020 - 10 LA 58/20 - juris Rn. 26).
55
Die Mutter des Klägers hat den Beklagten spätestens mit dem Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form von Übernahme der Schulgebühren am 4. Juni 2018 vom Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt. Am 11. September 2018 und damit gut drei Monate später begann die Beschulung des Klägers in der M. Schule und damit die Selbstbeschaffung. Dass die Mutter den Schulvertrag schon im März 2018 geschlossen hat und der Vertrag schon ab August 2018 lief, ist für den zuletzt in der mündlichen Verhandlung geltend gemachten Erstattungsanspruch erst ab 1. September 2018 unbeachtlich. Der damit dem Beklagten zur Verfügung stehende Bearbeitungszeitraum von drei Monaten erscheint hier angesichts dessen, dass der Kläger und sein Hilfebedarf beim Beklagten schon jahrelang und umfassend bekannt waren, angemessen. Zudem wurde im Hilfeplangespräch am ... 2018 der anstehende Schulwechsel thematisiert und besprochen, dass die Mutter sich über die weiterführenden Schulen informiert. Dass hierbei auch Privatschulen in Betracht kamen, lag angesichts der Diagnosen und fachlichen Stellungnahmen auf der Hand. Es wäre daher bereits zu diesem Zeitpunkt an dem Beklagten gewesen, im Rahmen des Hilfeplanverfahrens auch hinsichtlich der Kostenübernahme für den Besuch einer Privatschule zu beraten und die im Einzelfall angezeigten Hilfearten umfassend zu thematisieren. Das Vorgehen des Beklagten, die Hilfeplangespräche begrenzt auf eine bestimmte Hilfeart - hier die Schulbegleitung - zu führen und offenbar sämtliche weitere möglichen erforderlichen Hilfen auszublenden, widerspricht grundlegend dem Sinn und Zweck des Hilfeplanverfahrens. Denn dieses dient gerade dazu, regelmäßig den gesamten aktuellen Hilfebedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen zu überprüfen, § 36 Abs. 2 SGB VIII (auch in der zum damaligen Zeitpunkt geltenden Fassung) (vgl. OVG NW, B.v. 23.8.2022 - 12 B 819/22 - juris Rn. 11).
56
2) Die Voraussetzungen der Hilfegewährung in Form der Eingliederungshilfe nach §35a SGB VIII lagen für den streitgegenständlichen Zeitraum vor, § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII. Der Beurteilungsspielraum hinsichtlich der geeigneten Maßnahme ist insoweit auf Grund des Systemversagens bei dem Beklagten auf den Kläger übergegangen.
57
a) Der grundsätzliche Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum ist zwischen den Parteien unstreitig. Nach dieser Norm besteht dann ein Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Das Abweichen der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII ist gemäß § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII durch die Stellungnahme eines Facharztes festzustellen. Welche Hilfeform im Rahmen des Anspruchs aus § 35a Abs. 1 SGB VIII geleistet wird, richtet sich nach dem jeweiligen Bedarf im Einzelfall, vgl. § 35a Abs. 2 und 3 SGB VIII.
58
Beim Kläger war seit 2012 ein Asperger-Syndrom (ICD-10 F 85.4) diagnostiziert, vgl. ärztlich-psychologische Berichte vom ... 2012 und vom ... 2013. Wohl ab 2018 trat die Diagnose ADHS (ICD-10 F 90.0) hinzu, vgl. psychiatrisches Gutachten vom 23. April 2018, psychotherapeutische Stellungnahme vom ... 2019, psychiatrisches Attest vom ... 2020. Ein Abweichen der seelischen Gesundheit im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII war demnach durchgehend zu bejahen und es sprechen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass dem derzeit nicht mehr so ist. Auch eine darauf beruhende Teilhabebeeinträchtigung war und ist unstreitig gegeben.
59
b) Konträre Vorstellungen bestanden jedoch hinsichtlich der geeigneten und erforderlichen Hilfe für den Kläger.
60
Grundsätzlich kommt dem Jugendhilfeträger bei der Entscheidung, welche Hilfeform im Einzelfall geeignet und erforderlich ist, ein rechtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Denn nach ständiger Rechtsprechung unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Maßnahme einem kooperativen sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung der Fachkräfte des Jugendamts und des betroffenen Hilfeempfängers, der nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern vielmehr eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation beinhaltet, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich in diesem Fall darauf, dass allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen und der oder die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist daher nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (BayVGH, B.v. 6.2.2017 - 12 C 16.2159 - juris Rn. 11 m.w.N.; OVG SH, B.v. 3.2.2021 - 3 MB 50/20 - juris Rn. 11).
61
Liegt jedoch ein Systemversagen vor, so darf ein Leistungsberechtigter im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. Die selbstbeschaffte Hilfe ist sodann im Hinblick auf ihre Geeignetheit und Erforderlichkeit lediglich einer fachlichen Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu unterziehen (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 - 5 C 21.11 - juris Rn. 34 m.w.N.).
62
Ein solches Systemversagen ist vorliegend für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum zu bejahen, sodass der Beurteilungsspielraum insgesamt auf den Kläger bzw. seine Mutter übergegangen ist.
63
Die Gewährung von Jugendhilfeleistungen erfolgt regelmäßig zeitabschnittsweise (OVG NW, B.v. 23.8.2022 - 12 B 819/22 - juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 24.11.2016 - 12 C 16.1571 - juris). Denn die Frage, ob die Voraussetzungen für die Bewilligung von Jugendhilfe erfüllt sind, ist nach dem jeweils aktuellen Hilfebedarf zu beurteilen, der für folgende Zeitabschnitte jeweils gesondert festzustellen ist (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 - 12 ZB 13.2025 - juris Rn. 12; VG Magdeburg, B.v. 26.11.2012 - 4 B 235/12 - juris Rn. 5 f.). Dementsprechend sind auch im Hinblick auf die Beurteilung des Systemversagens, welches die Selbstbeschaffung zulässig werden lässt, Zeitabschnitte zu bilden. So kann sowohl eine zunächst unzulässig selbstbeschaffte Maßnahme im Folgenden mangels rechtmäßiger Entscheidung des Jugendhilfeträgers zulässig werden (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2019 - 12 ZB 16.1920 - juris Rn. 36 m.w.N.; OVG NW, U.v. 16.11.2015 - 12 A 1639/14 - juris Rn. 84 ff. m.w.N.; U.v. 25.4.2012 - 12 A 659/11 - juris 54 ff.), als auch eine zunächst zulässige Selbstbeschaffung für nachfolgende Zeiträume mangels weiterem Systemversagen unzulässig werden (vgl. VG Bremen, U.v. 17.5.2021 - 3 K 2333/18 - juris Rn. 42; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 36a Rn. 22).
64
Inwieweit im Fall der Selbstbeschaffung einer Privatschule für die Beurteilung des Systemversagens auf das Schuljahr (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 - 12 ZB 13.2025 - juris Rn. 12; OVG NW, B.v. 23.8.2022 - 12 B 819/22 - juris), Schulhalbjahre (OVG NW, U.v. 25.4.2012 - 12 A 659/11 - juris 54 ff.) bzw. Trimester (vgl. BVerwG, U.v. 11.8.2005 - 5 C 18/04 - juris) abzustellen ist, kann vorliegend im Ergebnis offenbleiben, da das Systemversagen des Beklagten für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum vorliegt. Zudem geht das Gericht davon aus, dass das bisher vorliegende Systemversagen, das zu dem Erstattungsanspruch führt, sachgerecht frühestens ab Februar 2023 nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Hilfeplanverfahrens beendet sein kann, so dass das Gericht hinsichtlich der Verurteilung des Beklagten über den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung und Entscheidung hinausgeht (vgl. VG München, U.v. 14.10.2020 - M 18 K 19.4963 - juris Rn. 154). Zudem weist das Gericht darauf hin, dass der Beklagte im Rahmen seiner zukünftigen Entscheidung auch die Kündigungsregelungen des (zunächst) zulässig geschlossenen Vertrages hinsichtlich der zu bildenden Zeitabschnitte zu berücksichtigen hat (VG München, U.v. 7.7.2021 - M 18 K 18.2218 - juris Rn. 94).
65
aa) Ausgehend von diesen Maßstäben ist zunächst festzustellen, dass es bis zum Erlass des ablehnenden Bescheides der Beklagten vom 25. Oktober 2018 an einer auf ihre Vertretbarkeit hin zu prüfenden rechtzeitigen Entscheidung des Jugendamtes fehlte und der Beurteilungsspielraum somit auf die Mutter des Klägers überging.
66
Zwar hatte der Beklagte zur beabsichtigten Ablehnung des Antrags mit Schreiben vom 3. Juli 2018 angehört, dies stellt aber keine endgültige Ablehnung dar. Im Übrigen erschließt sich ohnehin nicht, auf welcher fachlichen Grundlage diese Anhörung erfolgte und warum danach weitere Ermittlungen durch den Beklagten angestellt wurden.
67
Die Mutter des Klägers hat mit ihrer Entscheidung für den Wechsel auf die M. Schule zum Schuljahr 2018/2019 den auf den Kläger bzw. sie als allein Sorgeberechtigte übergegangenen Beurteilungsspielraum sachgerecht und vertretbar ausgefüllt. Der Besuch der M. Schule war insbesondere aus ex-ante-Laiensicht geeignet und erforderlich. Bei dieser Beurteilung sind die bereits bekannten - hier im Anhörungsschreiben bereits mitgeteilten - Ablehnungsgründe zu berücksichtigen.
68
Im Rahmen der fachlichen Vertretbarkeitskontrolle darf der Vorrang des öffentlichen Schulsystems nicht unberücksichtigt bleiben. Dementsprechend kann die Selbstbeschaffung eines Privatschulplatzes nur dann zulässig sein, wenn aus der ex-ante-Sicht des Hilfesuchenden trotz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf im öffentlichen Schulsystem zu decken, und es fachlich vertretbar erscheint, dass der Betroffene den Besuch einer öffentlichen Schule für unmöglich bzw. unzumutbar hält (OVG NW, B.v. 9.10.2020 - 12 A 195/18 - juris Rn. 23, juris m.w.N.; VG München, U.v. 7.7.2021 - M 18 K 18.2218 - juris Rn. 109 f.). m.w.N.).
69
Die Bereitstellung der räumlichen, sächlichen, personellen und finanziellen Mittel für die Erlangung einer angemessenen, den Besuch weiterführender Schulen einschließenden Schulbildung auch solcher Kinder und Jugendlicher, deren seelische Behinderung festgestellt ist oder die von einer solchen bedroht sind, obliegt zwar grundsätzlich nicht dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe, sondern dem Träger der Schulverwaltung. Da die Schulgeldfreiheit in Verbindung mit der Schulpflicht eine Leistung der staatlichen Daseinsvorsorge darstellt und aus übergreifenden bildungs- und sozialpolitischen Gründen eine eigenständige (landesrechtliche) Regelung außerhalb des Sozialgesetzbuches gefunden hat, ist grundsätzlich für einen gegen den Träger der Kinder- und Jugendhilfe gerichteten Rechtsanspruch auf Übernahme der für den Besuch einer Privatschule anfallenden Aufwendungen (Aufnahmebeitrag, Schulgeld etc.) kein Raum. Ausnahmen von diesem durch das Verhältnis der Spezialität geprägten Grundsatz sind aber für den Fall in Betracht zu nehmen, dass auch unter Einsatz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf des jungen Menschen im Rahmen des öffentlichen Schulsystems zu decken, mithin diesem der Besuch einer öffentlichen Schule aus objektiven oder aus schwerwiegenden subjektiven (persönlichen) Gründen unmöglich bzw. unzumutbar ist (vgl. BVerwG, B.v. 17.2.2015 - 5 B 61.14 - juris Rn. 4).
70
Eine derartige Ausnahmekonstellation lag im Fall des Klägers im Zeitpunkt des Wechsels auf die M. Schule zum Schuljahr 2018/2019 vor. Der Kläger bzw. seine Mutter durften von einer fehlenden Bedarfsdeckung durch das öffentliche Schulsystem ausgehen. Die Beschulung an der M. Schule hingegen stellte eine geeignete und erforderliche Hilfe dar.
71
Während der Grundschulzeit des Klägers hatten sich die Bedingungen für einen erfolgreichen Besuch des Klägers einer weiterführenden Schule herauskristallisiert. Von Seiten der Grundschulleitung, der jeweiligen Lehrerinnen, der Schulbegleiterin und des Mobilen Sozialpädagogischen Diensts Autismus wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass der Kläger an einer kleinen Schule in einer möglichst kleinen Klasse mit möglichst wenig Zimmer- und Lehrerwechsel unterrichtet werden muss, dass er möglichst in eigenem Tempo lernen kann, Pausen machen kann, dafür einen reizarmen Rückzugsort benötigt, möglichst Kenntnisse oder Erfahrungen bei den Lehrern im Umgang mit Autisten vorhanden sein sollten und möglichst keine Hausaufgaben aufgegeben werden sollten.
72
Der Kläger bzw. seine Mutter durften zum maßgeblichen Zeitpunkt sachgerecht davon ausgehen, dass eine geeignete öffentliche Realschule für den Kläger nicht zur Verfügung stand. Die Mutter des Klägers hatte sich im März 2018 bei der (offenbar) örtlich ausschließlich möglichen öffentlichen Realschule über die mögliche Beschulung des Klägers erkundigt. Hierbei wurde ihr - entsprechend der Stellungnahme der dortigen Schulleiterin vom ... 2018 - mitgeteilt, dass generell jede staatliche Schule zur Aufnahme eines autistischen Kindes verpflichtet sei, sofern dieses die Aufnahmebedingungen (Eignung für die Realschule) erfülle. Ferner sei die Schule dann an den Nachteilsausgleich und Notenschutz, den der Ministerialbeauftragte auf der Grundlage eines MSD-Gutachtens und eines fachärztlichen Attestes ausstelle, gebunden. Zudem sei darauf hingewiesen worden, dass, sofern eine Aufnahme gewünscht werde, eine Anmeldung Anfang Mai 2018 notwendig sei, um im Vorfeld die Begutachtung sowie die Beantragung der zusätzlichen Budgetstunden zu veranlassen, damit eine Regelschule die Aufnahme eines autistischen Schülers überhaupt schultern könne. Zudem war die Realschule - nach den sich aus den Akten ergebenden Erkenntnissen und vom Beklagten unwidersprochen - durch die steigende Anzahl an Schülern derart überfüllt, dass in Container ausgewichen werden musste, um für alle Klassen den Unterricht gewährleisten zu können. Des Weiteren findet dort regelmäßig ein häufiger Raumund Lehrerwechsel statt. Diese tatsächlichen Bedingungen hätten selbst mit der Bewilligung eines Nachteilsausgleichs, Zusatzstunden und der Hilfe durch die Schulbegleitung nicht verändert werden können und den Kläger aufgrund seiner Beeinträchtigungen vor unüberwindbare Probleme gestellt.
73
Besonders wichtig war für diesen auch die Möglichkeit des reizarmen Rückzugsorts, die Gelegenheit zu Pausen nach Bedarf und die Möglichkeit, im eigenen Tempo zu lernen. Wie dieser sehr individuelle Bedarf in den Alltag einer zudem überlasteten Regelschule integriert werden soll, ist kaum denkbar.
74
Dass diese Voraussetzungen an der Grundschule des Klägers geschaffen werden konnten, ist wohl eher Ergebnis des besonderen Engagements der dortigen Pädagogen und der Schulbegleiterin sowie des Schulkonzeptes der „flexiblen Klassen“ und kein Argument dafür, dass es auch an den in Betracht kommenden staatlichen Realschulen der Fall gewesen wäre. Der Besuch der M. Schule - was wohl auch durch die Rektorin der Grundschule des Klägers empfohlen wurde - durfte hingegen von Klageseite als geeignet angesehen werden, um dem Kläger zu seinem Bedarf angemessener und zumutbarer Beschulung zu verhelfen. Dass diese Bildungseinrichtung geeignet ist, dem Kläger auch in Ansehung seines spezifischen Beeinträchtigungsprofils eine adäquate Schulbildung zu vermitteln, begegnet keinerlei Zweifeln. Die o.g. Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Schulbesuch des Klägers waren dort erfüllt. So ist die Schule überschaubar, der Kläger lernt in einer angemessen großen Klasse. Es sind mehr Lehrkräfte anwesend, diese darüber hinaus mit dem Thema Autismus vertraut bzw. erfahren. Eine feste Klassenleitung sogar über mehrere Jahre schafft die nötige Kontinuität in der Bezugsperson, die der Kläger nach mehrfacher fachlicher Aussage benötigt. Die Montessoripädagogik kommt sowohl in ihrer Methodik und ihren Materialien dem Bedarf des Klägers entgegen als auch verschafft sie ihm durch Verzicht auf Leistungsdruck, Noten und Hausaufgaben die nötige Flexibilität, um im eigenen Tempo und mit der Möglichkeit zu Pause und Rückzug den Lernstoff zu erarbeiten.
75
bb) Durch den Erlass des Bescheides vom 25. Oktober 2018 ist keine erhebliche Änderung der Sachlage eingetreten. Der Bescheid hat das Systemversagen nicht beendet.
76
Zwar konnte und kann der Beklagte das Systemversagen jederzeit beenden und die Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Hilfe wieder an sich ziehen. Hierzu wären aber eine sachgerechte Entscheidung und ein ordnungsgemäßes Hilfeplanverfahren (s.o.) erforderlich gewesen.
77
Der Beklagte hat jedoch die jeweiligen Hilfeplangespräche ausschließlich auf die Beurteilung der Hilfe „Schulbegleitung“ beschränkt. Hingegen findet sich in den Hilfeplanprotokollen bezüglich des weiteren Schulbesuchs keine Aussage und Beurteilung der zuständigen sozialpädagogischen Fachkraft des Beklagten. Zwar findet sich in den Behördenakten eine E-Mail der zuständigen Sozialpädagogin vom 3. Juli 2018. Die Formulierung dieser E-Mail spricht jedoch dafür, dass nur der Inhalt des Hilfeplangesprächs vom ... 2018 wiedergegeben wird. Dementsprechend hat auch die Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung angegeben, der E-Mail nur den Inhalt des Hilfeplangesprächs und keine fachliche Einschätzung entnommen zu haben. Der Beklagte hat folglich ohne Heranziehung einer sozialpädagogischen Fachmeinung entschieden und damit gegen den Grundsatz der sozialpädagogischen Fachlichkeit verstoßen. Im Übrigen wären die Äußerungen in der E-Mail vom 3. Juli 2018 - sollte man ihr eine fachliche Einschätzung entnehmen können - wohl zugunsten der Wahl der M. Schule zu werten.
78
Die der Antragsablehnung zugrundeliegenden Ermittlungen und Erwägungen sind hingegen nicht ausreichend und überschreiten die Grenzen fachlicher Vertretbarkeit. Die Entscheidung wurde vielmehr lediglich aufgrund der - primär allgemeinen - Stellungnahmen der nächstgelegenen staatlichen Realschule und des Ministerialbeauftragten für die Realschulen in Oberbayern-Ost gestützt. Hingegen wurden die besonderen individuellen Bedürfnisse des Klägers im Rahmen einer Beschulung (s.o.) nicht berücksichtigt.
79
Zudem stellt der Bescheid auf den falschen maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung ab. Hinsichtlich des Antrages auf Bewilligung einer Leistung für die Zukunft kann nicht ausschließlich - wie vom Beklagten vorgenommen - auf einen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt abgestellt werden. Vielmehr ist der Entscheidung über die Bewilligung der Zeitpunkt des Bescheidserlasses zugrunde zu legen. Dementsprechend wäre auch zu berücksichtigen gewesen, dass die staatliche Realschule mit Schreiben vom 27. Juli 2018 mitgeteilt hatte, dass eine Aufnahme „zum jetzigen Zeitpunkt“ unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht mehr möglich sei. Der Verweis des Klägers auf diese Realschule war folglich zum maßgeblichen Zeitpunkt gerade nicht möglich. Vielmehr mag diese Realschule - unter anderen Bedingungen und mit entsprechendem zeitlichen Vorlauf zur Beantragung von Nachteilsausgleich, Notenschutz und zusätzlicher Budgetstunden - „grundsätzlich“ (wie der Beklagte es im Bescheid formuliert) für einen Besuch geeignet sein, diese Voraussetzungen lagen jedoch im Zeitpunkt der Entscheidung durch den Beklagten gerade nicht vor und konnten auch nicht kurzfristig erreicht werden.
80
Darüber hinaus wäre im maßgeblichen Zeitpunkt zu berücksichtigen gewesen, dass die Entscheidung einen Schulwechsel im laufenden Schuljahr für den Kläger zur Folge gehabt hätte, was dem Kläger, der - wie von fachlicher Seite mehrmals ausgeführt wurde - aufgrund seines Autismus jegliche Wechsel in Örtlichkeiten und Bezugspersonen schwer verkraftet, kaum zumutbar gewesen sein dürfte.
81
Der Beurteilungsspielraum verblieb daher auch im Folgenden bei der Klageseite. Dieser Beurteilungsspielraum wurde auch nicht durch das nunmehrige Vorliegen der negativen Entscheidung des Beklagten sowie der Stellungnahme des Ministerialbeauftragten für die Realschulen in Oberbayern-Ost soweit eingeschränkt, dass sich die Entscheidung aus Laiensicht aus unzulässig darstellt.
82
Zwar sind im Rahmen einer Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII bei einer ablehnenden Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe dessen Argumente zu berücksichtigen, sodass sich der Entscheidungsspielraum insoweit verringern kann. Die Ausführungen des Beklagten im Bescheid vom 25. Oktober 2018, welche lediglich auf die „grundsätzliche“ Möglichkeit des Besuchs einer staatlichen Realschule abstellen, enthalten insoweit jedoch bereits keine hinreichenden und nachvollziehbaren (sozialpädagogischen) fachlichen Argumente. Auch die Stellungnahme des Ministerialbeauftragten - die zudem der Klageseite nicht zur Kenntnis gegeben wurde - führt vorliegend nicht zu einer Einschränkung. Zwar obliegt es grundsätzlich dem Ministerialbeauftragten für die Realschulen, zu beurteilen, ob aufgrund individueller Behinderungen eine Beschulung im staatlichen Schulsystem möglich ist. Vorliegend ist jedoch bereits unklar, welche Kenntnisse der Ministerialbeauftragte hinsichtlich der individuellen Einschränkungen des Klägers hatte. Zudem erfolgte kein persönliches Gespräch mit der Klageseite um sich einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Schließlich enthält die Stellungnahme auch lediglich grundsätzliche Ausführungen und gerade keine individuelle Würdigung. Lediglich die Argumentation damit, dass der Kläger auch bisher eine öffentliche Grundschule besucht habe, ohne Berücksichtigung der dort vorliegenden Besonderheiten und Unterschiede im Vergleich zu der staatlichen Realschule, vermag daher ebenfalls den Beurteilungsspielraum in Bezug auf die mehrfach dargelegten individuellen Bedürfnisse des Klägers nicht einzuschränken.
83
cc) Auch in Bezug auf die Folgeschuljahre bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. bis zum Ende des streitgegenständlichen Zeitraums am 31. Januar 2023 (s.o.) lag weiter ein Systemversagen vor.
84
Zwar sind grundsätzlich wegen der erwähnten abschnittsweisen Betrachtung für jeden Zeitabschnitt neue Anträge auf Hilfebewilligung erforderlich. Dass solche hier nicht ausdrücklich gestellt wurden, ist jedoch unschädlich. Die Mutter des Klägers durfte durchgehend davon ausgehen, dass die Beklagte im Klaren darüber ist, dass der Kläger die Hilfe weiterhin begehrt. Dies ergibt sich sowohl aus dem weiteren Hilfeplanverfahren, in dem die schulische Situation des Klägers und sein diesbezüglicher Bedarf umfassend und detailliert zur Sprache kamen. Außerdem wurden während des Klageverfahrens kontinuierlich aktuelle pädagogische und psychiatrische Stellungnahmen eingereicht, die das Begehren des Klägers deutlich machten.
85
Der Beklagte wäre folglich verpflichtet gewesen, über den Hilfebedarf auch in Bezug auf den Schulbesuch und nicht lediglich hinsichtlich der Schulbegleitung jeweils neu zu entscheiden, was jedoch sachwidrig nicht erfolgte.
86
Die weitere Selbstbeschaffung war daher auch für diesen Zeitraum zulässig. Die oben genannten Rahmenbedingungen für den erfolgreichen und zumutbaren Schulbesuch des Klägers änderten sich im Verlauf der betreffenden Schuljahre nicht wesentlich. Anhaltspunkte dafür, dass zu irgendeinem Zeitpunkt das staatliche Schulsystem - auch aus Sicht der Klageseite - den Bedarf doch hätte decken können, liegen nicht vor. Zu berücksichtigen ist auch an dieser Stelle, dass laut mehrfacher fachlicher Aussage jeglicher irgendwie geartete Wechsel für den Kläger Schwierigkeiten mit sich brachte, so auch zweifelsohne jeder Schulwechsel.
87
dd) Schließlich erscheinen auch die Kosten der M. Schule im üblichen Rahmen und nicht unangemessen.
88
Laut Kostenaufstellung der Klägerseite, die der Beklagte nicht angezweifelt hat, sind für den streitgegenständlichen Zeitraum insgesamt 15.139,00 EUR an Schulgebühren angefallen.
89
c) Die Deckung des Bedarfs des Klägers hat auch keinen zeitlichen Aufschub geduldet, § 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII.
90
Dem Kläger war weder ein Abwarten zunächst bis zu einer zeitlich nicht absehbaren Entscheidung des Beklagten, noch nach Bescheidserlass die Entscheidung über das Rechtsmittel gegen die ablehnende Entscheidung bzw. ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren zumutbar (vgl. LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 36a Rn. 19 f.; von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36a SGB VIII, Stand: 1.8.2022, Rn. 63).
91
Der Hilfedarf des Klägers war dringlich. Der Kläger schloss die Grundschule mit der Eignung für die Realschule ab und benötigte zum folgenden Schuljahr eine adäquate und zumutbare Beschulung. Es war ihm nicht zumutbar, zum Beginn des neuen Schuljahres keine Schule zu besuchen oder auf einen späteren Schulwechsel verwiesen zu werden, zumal - wie schon erwähnt - jeder Wechsel nach fachlicher Aussage möglichst zu vermeiden war.
92
Nach alledem war der Klage stattzugeben, soweit sie nicht zurückgenommen wurde.
93
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 Satz 2 VwGO.
94
Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.