Titel:
zur Nichtigkeit eines Bescheids wegen eines erheblichen Zustellungsmangels
Normenketten:
VwVfG § 43 Abs. 1 S. 1
VwZG § 8
AsylG § 25 Abs. 1, § 30 Abs. 3 Nr. 1
SGB I § 35 Abs. 1 S. 1
SGB VIII § 42a Abs. 1 S. 1, § 61 Abs. 1 S. 1, § 62 Abs. 1, Abs. 2
SGB X § 67 Abs. 2 S. 1
Asylverfahrens-RL Art. 14 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2
Leitsätze:
1. Die Zuleitung einer Kopie des Bescheids reicht zur Heilung eines Zustellungsmangels im Sinne von § 8 Verwaltungszustellungsgesetz nicht aus (Fortführung VG München, U.v. 20.5.2021 - M 10 K 19.5002 - juris). (Rn. 17 – 20)
2. Angaben eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings zu seinen Fluchtgründen im Kontext der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII unterfallen dem Sozialgeheimnis. Sie dürfen nicht durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Rahmen der Anhörung nach § 25 Abs. 1 AsylG gegen den unbegleiteten minderjährigen Flüchtling im Kontext des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG verwertet werden. (Rn. 26 – 27)
Schlagworte:
Asylantragsablehnung als offensichtlich unbegründet, Herkunftsland Gambia, Unbegleiteter minderjähriger Flüchtling im Zeitpunkt der Antragstellung, Volljährigkeit im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids, Keine Vertretungsmacht der Betreuerin zur ursprünglichen Klageerhebung, Zustellungsmangel beim ursprünglichen Bescheid, Heilung durch Übermittlung einer Kopie des Bescheids (verneint), Zustellung an Amtsvormund, Zustellungsmangel, Heilung, vorläufige Inobhutnahme, RL 2013/32/EU, Sozialgeheimnis
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29394
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass der Bescheid des Bundesamts vom 22. April 2020 unwirksam ist.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 22. April 2020 (Geschäftszeichen … ), mit dem sein Asylantrag nach § 30 Abs. 1 AsylG und § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde.
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Der streitgegenständliche Bescheid war bereits Gegenstand der Verfahren M 10 K 20.31644 und M 10 S 20.31645. Das Verfahren M 10 K 20.31644 wurde durch Beschluss vom 10. November 2020 eingestellt, nachdem die Klage wegen Nichtbetreiben des Verfahrens gem. § 81 Satz 1 AsylG als zurückgenommen galt. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO im Verfahren M 10 S 20.31645 wurde mit Beschluss vom gleichen Tag im Hinblick auf den Einstellungsbeschluss in der Hauptsache abgelehnt. Den Beschlüssen vom 10. November 2020 ging folgender Verfahrensgang voraus:
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Der Bescheid vom 22. April 2020 wurde nur dem ehemaligen Amtsvormund des Klägers beim Landratsamt … zugestellt, nicht aber dem Kläger selbst, obwohl dieser am 7. April 2020 die Volljährigkeit erlangte. In der Folge erhob der ehemalige Amtsvormund gegen den Bescheid vom 22. April 2020 Klage beim Verwaltungsgericht München und beantragte die Anordnung von deren aufschiebender Wirkung gem. § 80 Abs. 5 VwGO. Nachdem auf zweimalige Nachfrage des Gerichts, ob im Hinblick auf das Geburtsdatum des Klägers noch die gesetzliche Vertretung bestehe (Schreiben vom 9.6.2020 und 29.9.2020), keine Reaktion des Amtsvormundes erfolgte, ergingen die oben genannten Beschlüsse. Nach dem Vortrag der Bevollmächtigten des Klägers hat Letzterer über Umwege von der Beklagten vom ablehnenden Eilbeschluss des Gerichts vom 10. November 2020 erfahren.
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Mit Schriftsatz vom 30. März 2021 erhob die Bevollmächtigte des Klägers (abermals) Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid vom 22. April 2020. Hierin wurde neben der Aufhebung dieses Bescheids die Verpflichtung der Beklagten (ursprünglich) beantragt, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, subsidiären Schutz zu gewähren und weiter hilfsweise, das Vorliegen von Abschiebungsverboten gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG festzustellen (Verfahren M 10 K 21.30727).
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Mit Schriftsatz vom 4. August 2021 führte die Bevollmächtigte des Klägers aus, dass ihr der streitgegenständliche Bescheid erstmals am 23. März 2021 mit der Übersendung der Bundesamt-Akte zugegangen sei. Sie habe lediglich am 17. März 2021 dem Eilbeschluss des Gerichts vom 10. November 2020 entnommen, dass es einen „ou-Bescheid“ geben müsse.
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Mit Beschluss vom 27. Juli 2022 ordnete das Gericht auf Antrag des Klägers die aufschiebende Wirkung der Klage an (VG München, B.v. 27.7.2022 - M 10 S 21.30729 - juris). Auf die Gründe dieses Beschlusses wird Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 1. September 2022 erklärte der Kläger den Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Er beantragt zuletzt,
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Es wird festgestellt, dass der streitgegenständliche Bescheid nichtig ist.
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Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 1. April 2021,
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Mit Schriftsatz vom 14. September 2022 teilte die Beklagte mit, dass sie auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichte.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten in den Verfahren M 10 K 21.30727 und M 10 S 21.30729 sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Das Gericht entscheidet ohne mündliche Verhandlung, da die Beteiligten hierauf übereinstimmend verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
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2. Der Klageantrag vom 1. September 2022 gerichtet auf die Feststellung der Nichtigkeit des verfahrensgegenständlichen Bescheids ist nach § 91 Abs. 1 VwGO als Klageänderung zulässig, da diese im Hinblick auf die im Beschluss vom 27. Juli 2022 dargestellten Gründe (VG München, B.v. 27.7.2022 - M 10 S 21.30729 - juris Rn. 32) jedenfalls sachdienlich ist.
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3. Die Klage ist mit ihrem zuletzt gestellten Antrag begründet, da der verfahrensgegenständliche Bescheid dem Kläger nicht im Sinne von § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG wirksam bekannt gegeben wurde. Aufgrund der fehlerhaften Zustellung des Bescheids vom 22. April 2020 an den (ehemaligen) Amtsvormund des Klägers lag ein wesentlicher Zustellungsmangel vor, der nicht durch die Einsichtnahme der Bevollmächtigten des Klägers am 23. März 2021 in die Bundesamt-Akte im Sinne von § 8 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) geheilt wurde. Dazu hat das Gericht im Beschluss vom 27. Juli 2022 bereits ausgeführt (VG München, B.v. 27.7.2022 - M 10 S 21.30729 - juris Rn. 24-31):
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„Dieser Zustellungsmangel wurde auch nicht mit der nachträglichen Kenntnisnahme des verfahrensgegenständlichen Bescheids durch die Bevollmächtigte des Klägers nach Übersendung der Bundesamtsakte an diese gem. § 8 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) geheilt. Für die Heilung eines Zustellungsmangels nach § 8 VwZG kommt es maßgeblich darauf an, dass das zuzustellende Dokument im Sinne von § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB in den Machtbereich des Empfangsberechtigten gelangt (s. dazu Ronellenfitsch, in: BeckOK VwVfG, 55. Edition, Stand 1.10.2019, § 8 VwZG Rn. 10). Ob jedoch die Übermittlung einer Kopie des Bescheids zur Heilung eines Zustellungsmangels nach Art. 8 VwZG ausreicht, ist in Literatur und Rechtsprechung sehr umstritten (ausreichend nach BVerwG, U.v. 18.4.1997 - 8 C 43.95 - juris Rn. 29; BFH, U.v. 13.10.2005 - IV R 44/03 - juris Rn. 20; OVG Bremen, B.v. 24.2.2020 - 2 B 304/19 - juris Rn. 4; OVG Lüneburg, B.v. 28.5.2018 - 12 ME 25/18 - juris Rn. 31; OVG Magdeburg, B.v. 19.6.2018 - 3 M 227/18 - juris Rn. 6; OLG Hamm, B.v. 8.8.2017 - 3 RBs 106/17, Rn. 29; OVG Schleswig, B.v. 8.4.2015 - 2 LA 20/15 - juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 6.12.2011 - 19 ZB 11.742 - juris Rn. 12; Couzinet/Fröhlich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2019, § 41 Rn. 148; Ronellenfitsch in: Bader/ders., BeckOK VwVfG, 55. Ed. 1.10.2019, § 8 VwZG Rn. 12; Baer in Schoch/Schneider, Verwaltungsverfahrensgesetz, Stand: April 2022, § 41 Rn. 149, 153; a.A.: BSG, U.v. 26.10.1989 - 12 RK 21/89 - juris Rn. 20; BGH, B.v. 24.3.1987 - KVR 10/85 - juris Rn. 19; Danker in: Verwaltungszustellungsgesetz, 1. Auflage 2012, § 8 VwZG Rn. 7; Smollich in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Auflage 2019, §8 VwZG Rn. 6).
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Nach der Rechtsprechung der Kammer reicht die Zuleitung einer Kopie des Bescheids zur Heilung eines Zustellungsmangels nicht aus. In einer Entscheidung vom 20. Mai 2021 (VG München, U.v. 20.5.2021 - M 10 K 19.5002 - juris Rn. 39-44) hat die Kammer zur Frage der Heilung eines Zustellungsmangels nach Art. 9 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) im Falle der Übersendung einer Kopie eines Bescheids ausgeführt:
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Dafür, dass die Übersendung einer Kopie zur Heilung nach Art. 9 VwZVG ausreicht, spricht, dass damit der Zweck der Bekanntgabe erreicht wird, dem Adressaten zuverlässige Kenntnis des Inhalts des Bescheids zu verschaffen (so grundlegend: BVerwG, U.v. 18.4.1997, a.a.O., S. 181; im Anschluss hieran ohne weitere Begründung insbesondere: OVG Bremen, B.v. 24.2.2020, a.a.O.; OVG Lüneburg, B.v. 28.5.2018, a.a.O.; BayVGH, B.v. 6.12.2011, a.a.O.). Überdies hat die Heilungsmöglichkeit den Sinn, die förmlichen Zustellungsvorschriften nicht zum Selbstzweck erstarren zu lassen und ist dementsprechend grundsätzlich weit auszulegen (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 12.2.2021 - 11 CS 20.2953 - BeckRS 2021, 2782 Rn. 16 zu § 189 ZPO; OLG Hamm, B.v. 8.8.2017, a.a.O., Rn. 14).
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Gegen dieses Verständnis der Heilungsvorschrift spricht allerdings der Wortlaut der Heilungsvorschrift. Art. 9 VwZVG stellt bei einem Zustellungsmangel „eines Dokuments“ für die Heilung darauf ab, dass „es“, also das Dokument, dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Bereits nach dem Wortlaut der Regelung muss dasjenige Schriftstück, dem der Zustellungsmangel anhaftet, beim Empfangsberechtigten eingehen (so auch: BSG, U.v. 26.10.1989, a.a.O., S. 1109). Dafür, dass für die Heilung die Übersendung einer Kopie nicht reicht, spricht ferner der Wille des Gesetzgebers. Nach der Begründung zur Änderung des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes im Jahr 2006 zu Art. 9 VwZVG (LT-Drs. 15/5474 v. 9.5.2006, S. 9) umfasst der Begriff „Dokument“ im Sinne des Art. 9 VwZVG Schriftstücke und elektronische Dokumente nach Art. 2 Abs. 1 VwZVG. Dies sind gemäß der Gesetzesbegründung zu Art. 2 VwZVG (LT-Drs. 15/5474, a.a.O., S. 6) die Urschrift, eine Ausfertigung oder eine beglaubigte Abschrift, ausdrücklich nicht aber eine Fotokopie (vgl. auch die identische Gesetzesbegründung zum inhaltsgleichen § 8 VwZG im Zuge der vorangegangenen Novellierung des Verwaltungszustellungsgesetzes im Jahr 2006: BT-Drs. 15/5216 v. 7.4.2005, S. 11, 14). Für ein solches Verständnis der Norm spricht zudem die ratio der Zustellung, mit der gerade besondere Anforderungen an die Authentizität des zu übergebenden Dokuments gestellt werden sollen. Denn die hohen Anforderungen durch die Originalunterschrift, den Ausfertigungs- oder Beglaubigungsvermerk dienen dazu, dem Empfänger die Überprüfung der Identität des Dokuments mit dem tatsächlichen Bescheid zu ermöglichen (Smollich, a.a.O.).
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Vor diesem Hintergrund mag es zwar zweckmäßig sein, eine Kopie zur Heilung ausreichen zu lassen. Aber eine solche Interpretation der Norm ist nach Auffassung des Gerichts mit dem eindeutigen Wortlaut und der Gesetzesbegründung nicht vereinbar. Da sich die jüngeren obergerichtlichen Entscheidungen, die nach den Reformen des Verwaltungszustellungsgesetzes und des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes von 2006 ergangen sind und die für eine Heilung die Übermittlung einer Kopie genügen lassen, - soweit ersichtlich - ohne weitere Begründung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von 1997 anschließen, ohne sich mit der Gesetzesbegründung zu den im Jahr 2006 reformierten Vorschriften auseinanderzusetzen, folgt das Gericht dieser Rechtsprechung nicht.
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Art. 9 VwZVG ist auf den vorliegenden Fall der Übermittlung einer Kopie auch nicht analog anwendbar. Die Voraussetzungen einer Analogie liegen schon deswegen nicht vor, da es an einer planwidrigen Regelungslücke mangelt. Ausweislich der Gesetzesbegründung hat der Gesetzgeber den Fall der Kopie nicht planwidrig nicht geregelt, sondern diesen Fall gerade gesehen und die Heilung hierauf explizit nicht für anwendbar erklärt.
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Die Kammer hält an dieser Rechtsprechung im vorliegenden Fall fest, zumal sich die obigen Ausführungen in Bezug auf Art. 9 VwZVG ohne Weiteres auf den im maßgeblichen Punkt wortgleichen Art. 8 VwZG („gilt es“) übertragen lassen.
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Eine Heilung ist im konkreten Fall auch nicht durch rügeloses Einlegen des statthaften Rechtsbehelfs eingetreten, da die Bevollmächtigte bereits in der Klage- und Antragsschrift die Unwirksamkeit der früheren Zustellung an den Amtsvormund gerügt und die Möglichkeit der Heilung gerade offengelassen bzw. hinterfragt hat, ob und dann der verfahrensgegenständliche Bescheid dem Antragsteller zugestellt wurde.“
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Im Hauptsacheverfahren haben sich keine Umstände ergeben, die eine anderweitige rechtliche Beurteilung im Vergleich zum Beschluss zum 27. Juli 2022 rechtfertigen würden, zumal sich die Beklagte auch nach Erlass dieses Beschlusses nicht inhaltlich zu dessen Gründen geäußert hat.
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4. Dies gilt insbesondere auch für die hilfsweise ausgeführten Gründe zur Rechtmäßigkeit der Offensichtlichkeitsentscheidung nach § 30 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 AsylG (vgl. VG München, B.v. 27.7.2022 - M 10 S 21.30729 - juris Rn. 38-40). Danach ist der Kontext, wie die Beklagte zu der Offensichtlichkeitsentscheidung nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gekommen ist, nicht mit dem Sozialgeheimnis nach § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB I, § 61 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII i.V.m. § 67 Abs. 2 Satz 1 SGB X zu vereinbaren. Ergänzend zum Beschluss des Gerichts vom 27. Juli 2022 ist Folgendes zur Rechtmäßigkeit der Offensichtlichkeitsentscheidung nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG anzumerken:
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Neben Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 RL 2013/32/EU (Asylverfahrens-RL) macht auch Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 4 Asylverfahrens-RL in systematischer Hinsicht deutlich, dass die vorläufige Inobhutnahme eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII durch das Jugendamt gerade nicht auf die materielle Prüfung von Fluchtgründen abzielt. Grundlage für diese materielle Prüfung durch das Bundesamt ist ausschließlich die persönliche Anhörung i.S.v. § 25 Abs. 1 AsylG. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist die Entscheidung über den Asylantrag aufgrund des Vorbringens des Asylbewerbers in dieser Anhörung; eine irgendwie geartete inhaltliche Vorbefassung des Inhalts der Fluchtgründe durch das Bundesamt ist in § 25 AsylG gerade nicht angelegt (vgl. Blechinger in BeckOK MigR, Stand 15.7.2022, § 25 AsylG Rn. 2).
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Aus § 42a Abs. 2 bis Abs. 6 SGB VIII ergibt sich, dass der gesetzgeberische Auftrag an das Jugendamt primär auf die Sicherung des Kindeswohls sowie auf die Vornahme erkennungsdienstlicher Maßnahmen zum Zwecke der Identitätsklärung (vgl. § 42a Abs. 3a SGB VIII) angelegt ist. Es ist zwar nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass vom Jugendamt Fragen zum Fluchthintergrund an den unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gestellt werden, insbesondere, falls (greifbare) Anhaltspunkte für eine besondere Schutzbedürftigkeit vorliegen (vgl. Art. 21 und Art. 23 RL 2013/33/EU - Aufnahme-RL). Allerdings ergeben sich diesbezüglich aus § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1, § 64 Abs. 1, § 68 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGB VIII Grenzen bezüglich der Erhebung, Übermittlung und Verwertung solcher Daten. Dies gilt gerade auch im Falle der Übermittlung nach einem Ersuchen durch das Bundesamt i.S.v. § 8 Abs. 1 AsylG; unter „besondere gesetzliche Verwendungsregelungen“ im Sinne dieser Norm fällt auch das Sozialgeheimnis (vgl. Pelzer in BeckOK MigR, Stand 15.7.2022 § 8 AsylG Rn. 5; s. zum „Asylgeheimnis“ auch Kluth in BeckOK AuslR, Stand 1.7.2022, § 7 AsylG Rn. 5). Demnach durfte das Jugendamt die Angaben des Klägers zu seinen Fluchtgründen und seinen Fluchtwegen (vgl. BA-Akte S. 44 ff.) im Hinblick auf die Übermittlungsgrundsätze aus § 64 Abs. 1 SGB VIII nicht an die Beklagte weitergeben bzw. hätte diese Angaben unkenntlich machen müssen. Erschwerend kommt vorliegend hinzu, dass der Kläger nach Aktenlage vom Jugendamt weder über die rechtlichen Grundlagen der Erhebung der Daten, geschweige denn über die beabsichtigte Übermittlung an das Bundesamt belehrt worden ist (vgl. § 62 Abs. 2 Satz 2 bzw. § 68 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Buchst. c, Abs. 3 VO [EU] 2016/679 - Datenschutzgrundverordnung; s. dazu auch näher Bretthauer in BeckOGK Sozialrecht, Stand 15.6.2022, § 68 SGB VIII Rn. 6). Die Beklagte konnte und durfte demnach die vom Jugendamt erhobenen und übermittelten Daten bezüglich der Fluchtgründe des Klägers nicht nach § 68 Abs. 4 SGB VIII bzw. § 8 Abs. 1 AsylG verarbeiten bzw. dem Kläger in seinem Anhörungsgespräch nach § 25 AsylG vorhalten. Da dies dennoch geschehen ist bzw. diese Daten von der Beklagten im verschärften Kontext des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zu seinen Lasten verwertet wurden, wurde der Verstoß gegen das Sozialgeheimnis des Klägers insofern noch vertieft.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.