Inhalt

OLG Nürnberg, Hinweisbeschluss v. 15.09.2022 – 2 U 1038/22
Titel:

Keine sittenwidrige Schädigung des Erwerbers eines Opel-Diesel-Fahrzeugs (hier: Opel Zafira Tourer)

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826, § 831
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 2
RL 2007/46/EG Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46
AEUV Art. 288 Abs. 3
EGFGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 522 Abs. 2
Leitsätze:
1. Vgl. zu Diesel-Fahrzeugen von Opel: OLG München BeckRS 2021, 52557; BeckRS 2021, 52562; BeckRS 2022, 29314; OLG Bamberg BeckRS 2021, 52538; BeckRS 2022, 19980; OLG Schleswig BeckRS 2022, 8917; OLG Frankfurt BeckRS 2022, 10556; OLG Koblenz BeckRS 2022, 10605; OLG Köln BeckRS 2022, 12858; LG Landshut BeckRS 2021, 53844; BeckRS 2022, 20735; BeckRS 2022, 22852; LG Memmingen BeckRS 2022, 12853; LG Nürnberg-Fürth BeckRS 2022, 29316; BeckRS 2022, 29310; LG Kempten BeckRS 2022, 29315. (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Vorgehen der Herstellerin (dem KBA zur Genehmigung vorgelegtes Software-Update, Pressemitteilungen, die eine Softwarekalibrierung und eine „Euro-6-SCR-Verbesserung“ im Rahmen „einer freiwilligen Serviceaktion für Kunden“ ankündigen, Information der Öffentlichkeit und der dem Servicenetz angeschlossenen Opel-Partner über ein freiwilliges Software-Update) ist objektiv geeignet, das (ggf. unberechtigte) Vertrauen potentieller Käufer von Gebrauchtwagen mit Dieselmotoren in eine vorschriftsgemäße Abgastechnik zu zerstören, diesbezügliche Arglosigkeit also zu beseitigen. (Rn. 3 – 4) (redaktioneller Leitsatz)
3. Unabhängig von der Frage, ob davon auch der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages erfasst sein soll, scheidet die RL 2007/46/EG selbst schon mangels unmittelbarer Geltung (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV) als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB aus. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Auffassung des Generalanwalts Rantos ändert nichts daran, dass es sich bei den §§ 6 und 27 EG-FGV um kein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB handelt, das wirtschaftliche Interessen individueller Erwerber von Kraftfahrzeugen schützen soll. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, Opel, unzulässige Abschalteinrichtung, sittenwidrig, Nachkauf, KBA, (kein) Rückruf, (kein) bewusstes Ausnutzen einer Arglosigkeit von Käufern, Schlussanträge, Generalanwalt
Vorinstanz:
LG Ansbach, Urteil vom 18.03.2022 – 3 O 1233/21
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29318

Tenor

A.
Der Kläger nimmt die Beklagte in Bezug auf ein am 13.10.2016 von einer Händlerin als Gebrauchtwagen erworbenes und von der Beklagten hergestelltes Fahrzeug Opel Zafira Tourer Iauf Schadensersatz in Anspruch, in dem ein Dieselmotor verbaut ist. Er stützt sich auf die Behauptung, die Beklagte habe unzulässige Abschaltvorrichtungen verbaut. Im Übrigen wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil vom 18.03.2022 (Bl. 180 ff. d. A.) und die dortige Darstellung des Sach- und Streitstands Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Klage auf Zahlung von Schadensersatz Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs abgewiesen. Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Klageziel weiter. Das Fahrzeug sei mit mehreren von der Beklagten entwickelten, unzulässigen Abschalteinrichtungen versehen worden, um im Fall eines Abgastestes die zulässigen Abgaswerte zu erreichen. Dies habe ein sittenwidriges Verhalten dargestellt. Die Beklagte habe die Abschalteinrichtungen aus eigenem Gewinnstreben nicht gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt offengelegt und damit sowohl dieses als auch die Käufer des Fahrzeugtyps langjährig und systematisch, bewusst und gewollt getäuscht, indem die Fahrzeuge so programmiert und gebaut worden seien, dass sie die Grenzwerte nur auf dem Prüfstand, nicht aber auf der Straße einhielten. Die Beklagte habe durch den Einbau der multiplen Abschalteinrichtungen gegen die einschlägigen Normen der EG-Verordnung 715/2007 bzw. gegen § 27 EG-FGV verstoßen und dadurch ein Schutzgesetz verletzt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Berufungsbegründung vom 23.06.2022 (Bl. 224 ff. d. A.) Bezug genommen. Der Kläger beantragt, unter Abänderung des am 18.03.2022 verkündeten Urteils des Landgerichts Ansbach die Beklagte zu verurteilen, an die Klagepartei 18.600,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit abzüglich einer im Termin zur mündlichen Verhandlung zu beziffernden Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs Opel, Typ Zafira Tourer mit der Fahrgestellnummer W0L zu zahlen, hilfsweise,das Urteil des Landgerichts Ansbach, Az. 3 O 1233/21, aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Beweisaufnahme an das Landgericht Ansbach zurückzuverweisen.
B.
Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Ansbach vom 18.03.2022, Az. 3 O 1233/21, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.

Entscheidungsgründe

1
I. Sittenwidrig im Sinne des § 826 BGB ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde durch eine Pflichtverletzung einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zu Tage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, juris, Rdnr. 15 m. w. N.). Bei mittelbaren Schädigungen - wie hier - kommt es dabei darauf an, ob den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20, juris, Rdnr. 29). Mit anderen Worten: Für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB ist in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln und das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Dies wird insbesondere dann bedeutsam, wenn - wie hier - die erste potentiell schadensursächliche Handlung (hier das Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Fahrzeugs) und der Eintritt des Schadens (hier der Erwerb durch den Kläger) zeitlich auseinanderfallen und der Schädiger sein Verhalten zwischenzeitlich nach außen erkennbar geändert hat (BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20, juris, Rdnr. 30). Deshalb kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht sittenwidrig zu werten sein (BGH, Beschluss vom 09.03.2021 - VI ZR 889/20, juris, Rdnr. 13).
2
II. Gemessen daran ist der Vorwurf der Sittenwidrigkeit angesichts der von der Beklagten noch vor dem Kauf des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch den Kläger ergriffenen Maßnahmen bei der gebotenen Gesamtbetrachtung jedenfalls nicht mehr gerechtfertigt. Ob die Beklagte zuvor der Vorwurf einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung in Zusammenhang mit der Integration irgendeiner Umschaltlogik zur Erlangung einer Typengenehmigung gemacht werden kann, kann dabei dahingestellt bleiben.
3
Auch wenn die Beklagte weiterhin das Vorliegen einer illegalen Abschaltvorrichtung bestreitet, hat sie jedenfalls vor dem hier maßgeblichen Kaufvertragsabschluss des Klägers Maßnahmen zur Beseitigung etwaiger unzulässiger Vorrichtungen getroffen und die Öffentlichkeit informiert. Die Beklagte hat bereits in der Klageerwiderung vorgetragen, schon seit Ende 2015 aus eigenem Antrieb öffentlich angekündigt zu haben, das Emissionskontrollsystem der ersten (streitgegenständlichen) Generation von Dieselmotoren mit SCR-Katalysator freiwillig durch ein Software-Update zu verbessern, und im Frühjahr 2016 ein Software-Update dem Kraftfahrtbundesamt zur Genehmigung vorgelegt zu haben. In Übereinstimmung damit wurde in den von der Beklagten vorgelegten Pressemitteilungen vom 15.12.2015 und 29.03.2016 auch in Bezug auf den Fahrzeugtyp Zafira Tourer eine Softwarekalibrierung und einer „Euro-6-SCR-Verbesserung“ im Rahmen „einer freiwilligen Serviceaktion für Kunden“ angekündigt. Hinzukommt, dass die Beklagte bereits vor dem streitgegenständlichen Kauf, nämlich am 25.04.2016, die Öffentlichkeit und die dem Servicenetz der Beklagten angeschlossenen Opel-Partner über ein freiwilliges Software-Update für das hier streitgegenständliche Modell informierte und weitere Mitteilungen zur operativen Handhabung explizit ankündigte. Der Kläger hat dies alles nicht in Abrede gestellt.
4
Das Vorgehen der Beklagten war objektiv geeignet, das (ggf. unberechtigte) Vertrauen potentieller Käufer von Gebrauchtwagen mit Dieselmotoren des streitgegenständlichen Typs in eine vorschriftsgemäße Abgastechnik zu zerstören, diesbezügliche Arglosigkeit also zu beseitigen. Aufgrund der Verlautbarung der Beklagten und ihrer als sicher vorherzusehenden medialen Verbreitung war typischerweise nicht mehr damit zu rechnen, dass Käufer von gebrauchten Fahrzeugen mit Dieselmotoren die Erfüllung der hier maßgeblichen gesetzlichen Vorgaben noch als selbstverständlich voraussetzen würden. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Verwendung von illegaler Software durch Automobilhersteller zur Manipulation von Prüfstandergebnissen ab dem Jahr 2015 allgemein bekannt war und seitdem öffentlich umfassend thematisiert wurde. Für das bewusste Ausnutzen einer diesbezüglichen Arglosigkeit von Käufern der Fahrzeuge des streitgegenständlichen Typs war damit kein Raum mehr; hierauf konnte das geänderte Verhalten der Beklagten nicht mehr gerichtet sein (BGH, Beschluss vom 09.03.2021 - VI ZR 889/20, juris, Rdnr. 19).
5
III. Die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 mag insofern drittschützende Wirkung zugunsten der Fahrzeugerwerber haben, als deren Interesse betroffen ist, dass ein erworbenes Fahrzeug zur Nutzung im Straßenverkehr zugelassen wird und dass diese Nutzung nicht aufgrund mangelnder Übereinstimmung mit dem genehmigten Typ bzw. den für diesen Typ geltenden Rechtsvorschriften untersagt wird. Eine Verletzung dieses Interesses macht der Kläger hier aber nicht geltend. Er verlangt von der Beklagten nicht die Erstattung von Schäden, die ihm durch eine verzögerte (Erst-)Zulassung seines Fahrzeugs entstanden sind. Vielmehr macht der Kläger als verletztes Schutzgut sein wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht und damit den Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrags geltend. Diese Interessen werden vom Schutzzweck der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 indes nicht erfasst (BGH, Beschluss vom 10.02.2022 - III ZR 87/21, juris, Rdnr. 13 f.; Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20, juris, Rdnr. 14 f., Beschluss vom 10.11.2021 - VII ZR 415/21, juris, Rdnr. 18; auch: OLG Koblenz, Beschluss vom 20.06.2022 - 15 U 2169/21, juris, Rdnr. 8). Entsprechendes gilt in Bezug auf § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV (BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, juris, Rdnr. 76). Das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, liegt nicht im Aufgabenbereich der Norm.
6
Die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 führen zu keiner anderen Bewertung.
7
a) Der VO (EG) Nr. 715/2007, die unmittelbar anwendbar ist, misst der Generalanwalt selbst keine Wirkung zum Schutz der Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs zu, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist (vgl. Nr. 41).
8
b) Zwar vertritt er die Auffassung, die Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46 seien dahingehend auszulegen, dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 715/2007 ausgestattet ist (vgl. Nr. 50). Unabhängig von der Frage, ob davon auch der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages erfasst sein soll, scheidet die RL 2007/46/EG selbst aber schon mangels unmittelbarer Geltung (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV) als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB aus (Hager, in: Staudinger [2021], BGB, § 823 Rdnr. G 9; Sprau, in: Grüneberg, BGB, 81. Aufl., § 823 Rdnr. 57 m. w. N.). Denn EU-Richtlinien entfalten grundsätzlich keine Direktwirkung im Verhältnis zwischen privaten Rechtssubjekten; eine sogenannte horizontale Drittwirkung von ihnen ist ausgeschlossen (EuGH, Urteil vom 18.01.2022 ‒ C-261/20, juris, Rdnr. 31 f.; Urteil vom 07.03.1996 ‒ C-192/94, juris, Nr. 10; Urteil vom 14.07.1994 ‒ C91/92, juris, Nr. 20 ff.).
9
c) Die Auffassung des Generalanwalts Rantos ändert auch nichts daran, dass es sich jedenfalls bei den zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen §§ 6 und 27 EG-FGV um kein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB handelt, das wirtschaftliche Interessen individueller Erwerber von Kraftfahrzeugen schützen soll (BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20, juris Rdnr. 11; Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, juris, Rdnr. 74).
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aa) Eine Rechtsnorm ist ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, wenn sie zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zugunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder zumindest mitgewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch das Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie dasjenige der Allgemeinheit im Auge haben.
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Nicht ausreichend ist es indes, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm nur als ihr Reflex objektiv erreicht wird; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen. Außerdem muss die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheinen, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, zu prüfen ist, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zugunsten des Geschädigten gegebenen Haftungs- und Beweiserleichterungen zu knüpfen (BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962, Rdnr. 73 m. w. N.).
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bb) Diese Voraussetzungen sind bezogen auf §§ 6, 27 EG-FGV nicht gegeben.
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Auch ohne eine Einordnung der §§ 6, 27 EG-FGV als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB stehen in der deutschen Rechtsordnung zahlreiche - abgestufte - Instrumente des Vertrags- und Deliktsrechts bereit, die nicht nur das Interesse des Erwerbers schützen, nicht ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben bzw. nutzen zu müssen, sondern zudem einen erheblichen Anreiz für die Hersteller von Motoren bieten, unionsrechtliche Vorschriften einzuhalten. So ist ein Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher unerlaubter Handlung gemäß § 826 BGB (in Verbindung mit § 31 BGB bzw. § 831 BGB) gegen den Hersteller eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Motors zwar von strengen Voraussetzungen abhängig; diese wurden allerdings bereits in vielen tausenden Fällen mit der Folge einer Haftung des Motorenherstellers bejaht. Überdies stehen dem Erwerber eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs in aller Regel - verschuldensunabhängig - vertragliche Ansprüche zu, die insbesondere auf Nacherfüllung gerichtet sind und gegebenenfalls - falls es sich bei dem Verkäufer des Fahrzeugs nicht um den Motorenhersteller handeln sollte - zu Regressansprüchen gegen den Hersteller des Motors führen. Schließlich sind auch die nach deutschem Recht vorgesehenen Strafen und Bußgelder (unter anderem § 37 Abs. 1 EG-FGV) und die hoheitlichen Befugnisse der Aufsichtsbehörden (vgl. § 25 EG-FGV) zu berücksichtigen. Die in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Nr. 58) wiedergegebene Auffassung des vorlegenden Gerichts, Hersteller hätten „nach derzeitigem Rechtsstand keine Inanspruchnahme zu befürchten“, trifft nach alldem erkennbar nicht zu.
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Das auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen mit unterschiedlichen Voraussetzungen basierende bestehende System zeichnet sich dadurch aus, dass die den Hersteller treffenden Sanktionen und die dem Erwerber zustehenden Ansprüche erheblich davon abhängen, welcher Verschuldensvorwurf dem Hersteller zu machen ist. So ist beispielsweise ein Hersteller, der im Sinne von § 826 BGB vorsätzlich sittenwidrig geschädigt hat, nicht nur inhaltlich, sondern - aufgrund differenzierter Verjährungsvorschriften - auch zeitlich deutlich weitergehenden Rechtsfolgen ausgesetzt als ein solcher, den lediglich der Vorwurf leichter Fahrlässigkeit trifft.
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(1) Mit der EG-FGV, der Verordnung über die EG-Genehmigung für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten für diese Fahrzeuge, - einer gemeinsamen Verordnung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und des Bundesministeriums des Innern - bezweckte der nationale Normgeber in Umsetzung der RL 2007/46/EG in nationales Recht die Harmonisierung des öffentlichrechtlichen Zulassungsrechts von Kraftfahrzeugen. Die Absicht, darüber hinaus die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs zu schützen, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, lässt sich weder dem Wortlaut der nationalen Normen entnehmen noch ergibt sie sich aus sonstigen Umständen. Vielmehr ist den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Nr. 42) zu entnehmen, dass die Bundesregierung - in Übereinstimmung mit der allgemeinen Ansicht (vgl. dazu oben) - sogar ihre gegenteilige Auffassung explizit zum Ausdruck gebracht hat.
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(2) In umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die §§ 6, 27 EG-FGV gestellt sind, erscheint es zudem weder sinnvoll noch tragbar, dem individuellen Erwerber eines Kraftfahrzeugs gestützt auf die genannten Normen einen Schadensersatzanspruch bereits dann einzuräumen, wenn ein Hersteller - gegebenenfalls sogar bloß fahrlässig - ein Kraftfahrzeug mit einer gemäß Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet hat. Das gilt auch unter Berücksichtigung dessen, dass die nationalen Gerichte gehalten sind, das Gemeinschaftsrecht möglichst wirksam anzuwenden (Effet utile), und nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufgrund des Umsetzungsgebots gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV und des Grundsatzes der Gemeinschaftstreue gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet sind, die Auslegung des nationalen Rechts unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen das nationale Recht einräumt, soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen (richtlinien- bzw. unionsrechtskonforme Auslegung, vgl. EuGH, Urteil vom 10.12.2020 - C-735/19, juris, Rdnr. 75; BGH, Urteil vom 18.11.2020 - VIII ZR 78/20, juris, Rdnr. 25; jeweils m. w. N.). Denn die Umsetzung von Richtlinien ist nur insoweit erforderlich, wie der bestehende Rechtszustand nicht bereits den Vorgaben der Richtlinie entspricht. Im Falle der Übereinstimmung von Richtlinienauftrag und nationalem Rechtszustand bedarf es daher weder einer Umsetzung noch eines Hinweises, dass die bestehenden nationalen Rechtsnormen nunmehr durch eine Richtlinienbestimmung festgeschrieben und in deren Licht zu interpretieren sind.
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Dieses abgestufte und interessengerechte System würde im Ergebnis zerstört, wenn die §§ 6, 27 EG-FGV in der Weise als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ausgelegt würden, dass beispielsweise schon ein auf leichter Fahrlässigkeit beruhender Verstoß gegen sich aus der VO (EG) Nr. 715/2007 ergebenden Verpflichtungen einen auf Rückabwicklung des Kaufvertrags gerichteten deliktischen Schadensersatzanspruch eines Fahrzeugerwerbers zur Folge hätte, der noch viele Jahre nach Herstellung des Motors geltend gemacht werden könnte. Eine derartig weitgehende, den Grad des Verschuldens nicht ausreichend berücksichtigende Haftung von Motorenherstellern würde einen durch nichts gerechtfertigten Fremdkörper in der deutschen Rechtsordnung darstellen, der den - unter anderem in Art. 5 Abs. 4 EUV verankerten - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Grundsätze des Vertrauensschutzes verletzen und in Hinblick auf Regelungen des Kaufrechts und die Haftung für sonstige Konstruktionsfehler Wertungswidersprüche mit sich bringen würde. So ergäben sich auch für weit zurückliegende Produktionszeiträume erhebliche Haftungsrisiken, mit denen Fahrzeug- und Motorenhersteller bislang nicht rechnen mussten und für die sie keine Rückstellungen bilden konnten.
18
Es wäre auch nicht einzusehen, weshalb unzulässige Abschalteinrichtungen anders als alle anderen Konstruktionsfehler von Fahrzeugen behandelt werden sollten (z. B. vorzeitig alternde Bremsschläuche), die im Rahmen des Zulassungsverfahrens nicht auffallen, die Zulassungsfähigkeit der Fahrzeuge aber gleichwohl gefährden, so dass der weitere Betrieb des Fahrzeugs untersagt werden müsste, falls sich der Erwerber der Nachrüstung widersetzt.
19
Schließlich ist auch kein Grund erkennbar, weshalb ein Fahrzeughersteller gegenüber einem Erwerber, mit dem er keinen Vertrag geschlossen hat, bereits bei leichter Fahrlässigkeit umfassender haften müsste als nach den Regelungen des Kaufrechts, das einerseits die Möglichkeit der Nacherfüllung und andererseits eine kenntnisunabhängige zweijährige Verjährung von Mängelansprüchen ab Ablieferung vorsieht (§ 438 BGB), während Ansprüche aufgrund Schutzgesetzverletzungen gegebenenfalls erst in zehn Jahren von ihrer Entstehung an verjähren (vgl. § 199 Abs. 3 Nr. 1 BGB).
20
Solche Wertungswidersprüche und die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der Grundsätze des Vertrauensschutzes werden mit der RL 2007/46/EG nicht angestrebt und sind zu ihrer Umsetzung nicht erforderlich. Das gilt auch dann, wenn man - entsprechend den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Nr. 50 und Nr. 78) - unterstellt, die Richtlinie diene (auch) dem wirtschaftlichen Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Denn jedenfalls ist nicht ersichtlich - und auch aufgrund der weiteren Ausführungen des Generalanwalts in den Schlussanträgen vom 02.06.2022 nicht anzunehmen -, dass die Richtlinie bezogen auf das genannte Interesse des Fahrzeugerwerbers ein bestimmtes Rechtsschutzniveau vorgäbe, das in Deutschland unterschritten wäre, falls die §§ 6 und 27 EG-FGV nicht als Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB angesehen würden. Soweit der Generalanwalt in den Schlussanträgen vom 02.06.2022 (dort Nr. 65 und Nr. 78) die Ansicht vertritt, die Mitgliedstaaten müssten vorsehen, dass „ein Erwerber eines Fahrzeugs einen Ersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller hat, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 12 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist“, kann damit sinnvollerweise nicht gemeint sein, ein solcher Ersatzanspruch müsse unabhängig von weiteren Voraussetzungen eingeräumt werden. Vielmehr ergibt sich Gegenteiliges schon aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und wird auch in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 dadurch angedeutet, dass dort (Nr. 59) die Auffassung des vorlegenden Gerichts wiedergegeben wird, „auch fahrlässige Verstöße“ sollten einen Anspruch begründen. Denn das legt nahe, dass Ansprüche von einem Verschulden des Herstellers abhängig gemacht werden dürfen. Soweit in den Schlussanträgen des Generalanwalts (dort Nr. 58 und Nr. 59) zum Ausdruck kommt, die dem Erwerber eines Fahrzeugs mit unzulässiger Abschalteinrichtung derzeit nach deutschem Recht zustehenden Ansprüche seien unzureichend, handelt es sich nicht um eine eigene Bewertung des Generalanwalts, sondern um eine Wiedergabe der „Auffassung des vorlegenden Gerichts“, die ihrerseits ‒ wie ausgeführt ‒ auf falschen Annahmen beruht.
21
IV. Unabhängig davon hat der für sämtliche Anspruchsvoraussetzungen einer deliktischen Haftung der Beklagten beweisbelastete Kläger (BGH, Urteil vom 19.07.2004 - II ZR 218/03, juris, Rdnr. 43, für § 826 BGB; BGH, Urteil vom 19.07.2011 - VI ZR 367/09, juris, Rdnr. 13 für § 823 Abs. 2 BGB) die Kausalität eines etwaigen sittenwidrigen Verhaltens oder eines auch nur fahrlässigen Schutzgesetzverstoßes der Beklagten durch den Verbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung für den behaupteten Schaden nicht nachgewiesen. Denn der Kläger hat die (bereits in der ersten Instanz aufgestellte) substantiierte Behauptung der Beklagten,er habe das Fahrzeug am 08.11.2018 mittels des vom Kraftfahrtbundesamt geprüften Software-Updates nachgerüstet, nicht widerlegt. Ein Bestreiten mit Nichtwissen ist hierfür nicht ausreichend.
22
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen ihre Rücknahme nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).
23
Hierzu erhält der Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Hinweises.