Titel:
Abgrenzung von "Kautabak" und "Tabak zum oralen Gebrauch"
Normenketten:
RL 2014/40/EU Art. 2 Nr. 6, Nr. 8, Art. 17
VwGO § 80 Abs. 3 S. 1, Abs. 5
TabakerzG § 11, § 29 Abs. 2 S. 1, Abs. 2 S. 2 Nr. 3, Nr. 4
Leitsätze:
1. Stellt sich ein Verbot, Erzeugnisse in den Verkehr zu bringen, in seiner praktischen Wirkung als dauerhafte Betriebsstilllegung dar, kann ein solches Verbot nur dann auf § 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 TabakerzG gestützt werden, wenn es die Beschaffenheit der Erzeugnisse als solche betrifft. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Begriff "Tabakerzeugnisse, die zum Kauen bestimmt sind" iSd § 1 Abs. 1 Nr. 1 TabakerzG iVm Art. 2 Nr. 6 der RL 2014/40/EU ist eng auszulegen, sodass er Lutschtabak wie solchen des Typs Snus nicht umfasst. (Rn. 34 – 36) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Gebrauchsbestimmung - zum Kauen oder Lutschen - ist anhand aller relevanten objektiven Merkmale der betreffenden Erzeugnisse wie ihrer Zusammensetzung, ihrer Konsistenz, ihrer Darreichungsform und gegebenenfalls ihrer tatsächlichen Verwendung durch die Verbraucher zu beurteilen (EuGH BeckRS 2018, 24927). (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
4. Aus Sicht des Gesetzgebers muss Tabak zum oralen Gebrauch wegen des erhöhten Krebsrisikos und der Anziehungskraft auf Jugendliche verboten werden. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verbot des Inverkehrbringens von Tabak zum oralen Gebrauch, Abgrenzung von „Kautabak“ und „Tabak zum oralen Gebrauch“, Kautabak, Inverkehrbringen, Verbot, Lebensmittelsicherheit, „Snus“, Interessenabwägung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29309
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen lebensmittelrechtliche Anordnungen, mit denen ihr untersagt wird, von ihr vertriebene Tabakerzeugnisse in den Verkehr zu bringen.
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Die Antragstellerin ist ein Tabakfachhandelsunternehmen mit 19 Filialen in Bayern, u.a. einer Betriebsstätte in der … Der Firmensitz befindet sich in … Mit Gutachten vom 6.7.2021 analysierte das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) Proben der Tabakerzeugnisse „…“ und „…“ und gelangte zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Proben nach Betrachtung der Zusammensetzung, Konsistenz, Darreichungsform und Freisetzung der wesentlichen Inhaltsstoffe um nicht verkehrsfähige Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch handelt. Aufgrund der Durchlässigkeit des Beutelinhalts und der Zusammensetzung des Beutelinhalts aus fein gemahlenem bzw. fein geschnittenen Tabak, seiner daraus resultierenden Offenheit für Speichel und der Daten aus den durchgeführten Nikotinfreisetzungsversuchen geben die vorliegenden Produkte nach Einschätzung des LGL ihre wesentlichen Inhaltsstoffe auch ohne das Kauen frei. Die Produkte seien nicht zum Kauen, sondern im Wesentlichen zum Lutschen bestimmt. Auf die Gutachten wird im Einzelnen Bezug genommen.
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Am 23.6.2022 erfolgte in der Filiale der Antragstellerin in … aufgrund einer bei der Antragsgegnerin eingegangenen Beschwerde eine anlassbezogene Kontrolle. Am 19.7.2022 ordnete die Antragsgegnerin gegenüber der gerade anwesenden Verkäuferin mündlich an, dass die folgenden Kautabakprodukte nicht mehr verkauft werden dürfen:
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Die vorgenannten Tabakerzeugnisse werden in der Filiale in … als „Kautabak“ bzw. „Kautabak in Portionsbeuteln“ zum Verkauf angeboten.
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Am 21.7.2022 erließ die Antragsgegnerin folgenden Bescheid:
1. Der … wird das Inverkehrbringen von
2. Der … wird das Inverkehrbringen von
- … untersagt, bis dem Umweltamt der Stadt Regensburg das Untersuchungsergebnis der Produkte vorliegt.
3. Mit diesem Bescheid werden die bereits am 19.7.2022 mündlich getroffenen Anordnungen des Umweltamtes der Stadt Regensburg bestätigt und präzisiert.
4. Die sofortige Vollziehung der vorstehenden Nrn. 1 und 2 wird angeordnet.
5. Im Falle der Zuwiderhandlung gegen das Verbot aus
- vorstehender Nr. 1 wird jeweils ein Zwangsgeld in Höhe von 350,- Euro zur Zahlung fällig.
- vorstehender Nr. 2 wird jeweils ein Zwangsgeld in Höhe von 350, Euro zur Zahlung fällig.
6. Die … hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
7. Die Gebühr für diesen Bescheid wird auf 255,- Euro festgesetzt. Auslagen sind in Höhe von 2,76 Euro entstanden.
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Zur Begründung des Bescheids wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Untersuchung des LGL der unter der Ziff. 1 aufgeführten Produkte ergeben habe, dass nach der Betrachtung der entscheidenden objektiven Merkmale (Zusammensetzung, Konsistenz, Darreichungsform und Freisetzung der wesentlichen Inhaltsstoffe) die Produkte nicht zum Kauen, sondern im Wesentlichen zum Lutschen bestimmt seien. Es handele sich bei den Produkten um „Tabak zum oralen Gebrauch“ i.S.v. 1 Abs. 1 Nr. 1 TabakerzG i.V.m. Art. 2 Nr. 8 RL 2014/40/EU, dessen Inverkehrbringen entsprechend § 11 TabakerzG verboten sei. Bei den unter der Ziff. 2 des Bescheids aufgeführten Produkte handele es sich um sehr ähnliche Produkte zu den unter der Ziff. 1 des Bescheids genannten Produkte. Das Gutachten des LGL stehe noch aus. Es sei jedoch davon auszugehen, dass auch diese Produkte aufgrund der entscheidenden objektiven Merkmale nicht als Kautabak eingestuft werden könnten. Auf den Inhalt des Bescheids wird Bezug genommen.
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Am 18.8.2022 hat die Antragstellerin Klage erhoben (RO 5 K 22.2025) und zugleich um einstweiligen Rechtsschutz ersucht.
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Zur Begründung lässt die Antragstellerin im Wesentlichen vortragen, dass der Bescheid schon in formaler Hinsicht offenkundig rechtswidrig sei. Die Antragsgegnerin sei örtlich nicht für den Betrieb des Unternehmens der Antragstellerin zuständig, das seinen Sitz in München habe. Der Bescheid sei auch materiell offenkundig rechtswidrig. Bei den streitgegenständlichen Produkten handele es nach den vom EUGH genannten Kriterien (Zusammensetzung, Konsistenz, Darreichungsform und ggf. tatsächlicher Verwendung durch den Verbraucher) um erlaubten Kautabak. Die von der Antragsgegnerin vorgelegten Gutachten des LGL zum Produkt … seien zum Führen des Nachweises der Eigenschaft als Lutschtabak nicht ausreichend. Bezüglich der anderen fünf Produkte, die alleine wegen der Ähnlichkeit mit den …-Produkten von der Antragsgegnerin vorläufig verboten worden seien, fehle ein hinreichender Nachweis für die Voraussetzung des Einschreitens. Der Bescheid sei zudem gleichheitswidrig und ermessensfehlerhaft. Die Einzelverfügung gegen die Antragstellerin sei nicht geeignet, den Zweck des Gesundheitsschutzes zu fördern. Ein effektiver Gesundheitsschutz werde vielmehr durch eine einheitliche Regelung erreicht, die einen flächendeckenden Schutz aller Betroffenen gewährleiste. Mit erhöhten Gesundheitsgefahren lasse sich die vorzeitige Vollziehung nicht begründen. Es gebe keine Untersuchung, die einem Snusprodukt höhere Gesundheitsrisiken als dem konventionellen Kautabak zuspreche. Die Vollziehung des Verbots führe zu nicht mehr kompensierbaren Eingriffen in die Berufsfreiheit.
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Die Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 16. August 2022 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 21.7.2022 und die mit diesem Bescheid bestätigte, vorausgegangene mündliche Anordnung vom 19. Juli 2022 (Az.: RO 5 K 22.2025) in Bezug auf Ziff. 1 und 2 des Bescheids wiederherzustellen und in Bezug auf Ziff. 5 des Bescheids anzuordnen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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Der Bescheid sei formell rechtmäßig. Er sei dahingehend auszulegen, dass sich sein Regelungsgehalt konkret auf die Filiale …, beschränke und das Inverkehrbringungsverbot auf diese eine Filiale begrenzt bleibe. Dies ergebe sich zunächst aus den Umständen der mündlichen Anordnung vom 19.7.2022, die in Ziff. 3 des Bescheids bestätigt werde und den Bescheidsgründen unter I. Der Bescheid sei auch materiell rechtmäßig. Unter Bezugnahme auf die Gutachten des LGL vom 6.7.2021 handele es sich bei den im Bescheid unter Ziff. 1 genannten Produkten um Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch. In den LGL-Gutachten werde eine Gesamtbetrachtung der maßgeblichen vom EUGH aufgestellten Kriterien vorgenommen. Die LGL-Gutachten zeigten in erster Linie qualitativ, im Übrigen sogar auch quantitativ, dass die wesentlichen Inhaltsstoffe ohne Kauen freigesetzt würden. Die vorläufige Untersagungsanordnung unter Ziff. 2 des Bescheids stütze sich auf die Ähnlichkeit der Produkte mit den Produkten unter Ziff. 1 des Bescheids. Die Antragsgegnerin habe das ihr zukommende Auswahlermessen pflichtgemäß ausgeübt. Insbesondere die seitens der Antragstellerin geltend gemachte ungerechtfertigte Ungleichbehandlung liege nicht vor. Bei den im dreijährigen Turnus durchgeführten Routinekontrollen von Tankläden und Tankstellen seien diese Produkte nicht vorgefunden worden. Eine pauschale Kontrolle aller in Frage kommenden Verkaufsstätten sei ohne konkrete Anhaltspunkte aus Sicht der Antragsgegnerin nicht geboten. In den seitens der Antragstellerin angegebenen Verkaufsstellen seien bei den durchgeführten Beschwerdekontrollen festgestellt worden, dass dort keine derartigen Produkte zum Verkauf angeboten werden.
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Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wurde für das Produkt „…“ ein Gutachten des LGL vom 14.1.2022 vorgelegt. Die Probe wurde nach Betrachtung der Zusammensetzung, Konsistenz, Darreichungsform und Freisetzung der wesentlichen Inhaltsstoffe als nicht verkehrsfähiges Tabakerzeugnis zum oralen Gebrauch eingestuft.
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Im Übrigen wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die Gerichts- und Behördenakte, auch im Verfahren RO 5 K 22.2025, Bezug genommen
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Der Antrag hat keinen Erfolg.
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1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere statthaft. Bezüglich der Anordnung in den Ziff. 1 und 2 des Bescheids hat die Antragsgegnerin in Ziff. 4 des Bescheids den Sofortvollzug gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angeordnet, weshalb der Klage keine aufschiebende Wirkung zukommt. Insoweit ist ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft. Bezüglich der in Ziff. 5 des Bescheids enthaltenen Zwangsgeldandrohung ergibt sich die sofortige Vollziehbarkeit kraft Gesetzes, nämlich aus Art. 21a des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes (VwZVG). Diesbezüglich ist jeweils ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft.
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2. Der Antrag ist nicht begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsakts angeordnet ist, die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen den zugrundeliegenden Bescheid ganz oder teilweise wiederherstellen bzw. in den Fällen, in denen die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs kraft Gesetzes entfällt, die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anordnen.
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Das Gericht prüft bei ersterem, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind, und trifft im Übrigen jeweils eine eigene Abwägungsentscheidung. Bei der im Rahmen dieser Entscheidung gebotenen Interessenabwägung kommt vor allem den Erfolgsaussichten des Verfahrens in der Hauptsache besondere Bedeutung zu. Bleibt das Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos, so wird die Abwägung in der Regel zum Nachteil des Betroffenen ausfallen. Hat der Rechtsbehelf in der Hauptsache hingegen voraussichtlich Erfolg, so ist dessen aufschiebende Wirkung wiederherzustellen bzw. anzuordnen. Wenn sich bei der im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage dagegen weder die offensichtliche Rechtswidrigkeit noch die offensichtliche Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung feststellen lässt, hängt der Ausgang des Verfahrens vom Ergebnis einer vom Gericht vorzunehmenden weiteren Interessenabwägung ab (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2019 - 12 CS 18.2658 - juris Rn. 47; B.v. 5.3.2015 - 10 CS 14.2244 - juris).
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Der angeordnete Sofortvollzug ist vorliegend in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden (dazu Buchst. a)). Die Erfolgsaussichten der Klage des Hauptsacheverfahrens sind aus Sicht der entscheidenden Kammer nach der im Eilverfahren gebotenen aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage im Hinblick auf die Anordnungen in Ziff. 1 und 2 des Bescheids als offen anzusehen (dazu Buchst. b)) Die vorzunehmende Interessenabwägung fällt zulasten der Antragstellerin aus (dazu Buchst. c)). Rechtliche Bedenken gegen die Zwangsgeldandrohung in Ziff. 5 des Bescheids bestehen nicht (dazu Buchst. d))
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a) Die Vollziehungsandrohung ist formell rechtmäßig. Die Antragsgegnerin hat die Anordnung des Sofortvollzuges gem. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ordnungsgemäß begründet.
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Hat die Behörde die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet, so ist gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Die Begründungspflicht ist auch Ausdruck des aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Gebots effektiven Rechtsschutzes gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgesehene aufschiebende Wirkung ist eine adäquate Ausprägung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Die Pflicht zur Begründung nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO soll der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung vor Augen führen und sie veranlassen, mit Sorgfalt zu prüfen, ob tatsächlich ein überwiegendes öffentliches Interesse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert. Diese vom Gesetzgeber beabsichtigte „Warnfunktion“ beruht letztlich auf dem besonderen Stellenwert, den die Verfassung der aufschiebenden Wirkung beimisst (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 80 Rn. 84 m.w.N.). Dem Erfordernis einer schriftlichen Begründung ist nicht bereits genügt, wenn überhaupt eine solche gegeben wird. Es bedarf vielmehr einer schlüssigen, konkreten und substantiierten Darlegung der wesentlichen Erwägungen, warum aus Sicht der Behörde gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist und das Interesse des Betroffenen am Bestehen der aufschiebenden Wirkung ausnahmsweise zurückzutreten hat (so ausdrücklich: BVerwG, B.v. 18.9.2001 - 1 DB 26.01 - juris Rn. 6 m.w.N. aus Rspr. und Lit.). Andererseits kommt es im Rahmen des formellen Begründungserfordernisses auf die inhaltliche Richtigkeit oder Tragfähigkeit der Begründung nicht an, da § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO eine formelle und keine materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung normiert (BayVGH, B.v. 7.9.2020 - 11 CS 20.1436 - juris Rn. 20; Schoch in Schneider/Schoch, VwGO, 41. EL Juli 2021, § 80 Rn. 246).
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Diesen Vorgaben wird die streitgegenständliche Begründung des Sofortvollzugs gerecht. Die Antragsgegnerin hat im streitgegenständlichen Bescheid u.a. ausgeführt, dass sich das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit aus dem Interesse des Endverbrauchers ergebe. Untersuchungen des Internationalen Krebsforschungszentrums hätten ergeben, dass Tabake zum oralen Gebrauch besonders große Mengen an Krebserregern enthielten. Das Ziel der Anordnungen, der Schutz der Verbraucher vor erheblichen Gesundheitsgefahren, könnte durch ein Zuwarten der Unanfechtbarkeit der Entscheidung gefährdet werden.
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Die Begründung des Sofortvollzugs ist vorliegend fallbezogen und nicht lediglich floskelhaft erfolgt. Mit Blick darauf, dass an den Inhalt der schriftlichen Begründung des Sofortvollzugs keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind, genügt die Begründung des Sofortvollzugs vorliegend den Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 VwGO. Eine Aufhebung der Anordnung des Sofortvollzugs aus formellen Gründen war daher nicht veranlasst. Der Funktion des Begründungserfordernisses aus § 80 Abs. 3 VwGO, die vor allem darin besteht, der Behörde die besondere Ausnahmesituation bewusst zu machen, wurde jedenfalls ausreichend Rechnung getragen. Ob die behördliche Begründung inhaltlich zutreffend ist, ist im Rahmen der Prüfung nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO unerheblich.
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b) Da der vorliegende Fall mehrere schwierig zu klärende Sachfragen aufwirft, kann im Rahmen der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung weder von einer (offensichtlichen) Rechtswidrigkeit noch von einer (offensichtlichen) Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 21.7.2022 ausgegangen werden, sodass die Erfolgsaussichten als offen zu bewerten sind.
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(1) Der Bescheid ist formell rechtmäßig. Die Antragsgegnerin war zu seinem Erlass sachlich nach Art. 27 Abs. 1 Satz 1 Tabakerzeugnisgesetz (TabakerzG), Art. 1 Abs. 2 Nr. 3, Art. 2 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, Art. 14 Abs. 2 Nr. 2 Gesundheitliches Verbraucherschutz- und Veterinärwesengesetz (GVVG) und nach Art. 3 Abs. 1 Nr. 2 BayVwVfG örtlich zuständig.
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Gemäß § 37 Abs. 1 BayVwVfG muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. In ihm ist bestimmt anzugeben, wer von der Regelung des Verwaltungsakts materiell betroffen, d.h. hieraus verpflichtet oder berechtigt sein soll (sog. Inhaltsadressat). Die Angabe des Inhaltsadressaten, d.h. desjenigen, dem gegenüber der Einzelfall geregelt werden soll, ist konstituierender Bestandteil jedes Verwaltungsakts (BVerwG, U.v. 27.6.2012 - 9 C 7.11 - juris). Das Bestimmtheitserfordernis verlangt, dass der Adressat in einem schriftlich erlassenen Verwaltungsakt so genau angegeben werden muss, dass eine Verwechslung mit anderen Personen nicht möglich ist (vgl. OVG Saarland, U.v. 20.2.2017 - 2 A 34/16 - juris Rn. 25 m.w.N.). Der Adressat selbst muss entweder namentlich benannt werden oder in sonstiger Weise erkennbar sein (Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 37 Rn. 10).
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In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass der Adressat eines Verwaltungsakts zwar einerseits hinreichend bestimmt bezeichnet sein muss, dass aber andererseits ein Verwaltungsakt mit Blick auf die Bezeichnung des Inhaltsadressaten auslegungsfähig sein und die Auslegung etwaige Zweifel an der Bestimmtheit beseitigen kann (vgl. BVerwG, U.v. 27.6.2012 - 9 C 7/11 - juris Rn. 11; so auch BayVGH, B.v. 22.4.2020 - 15 CS 20.184 - juris).
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Hinreichende Bestimmtheit liegt dann vor, wenn sich die Regelung aus dem gesamten Inhalt des Bescheides, insbesondere seiner Begründung, sowie den weiteren, den Beteiligten bekannten oder ohne Weiteres erkennbaren Umständen unzweifelhaft erkennen lässt (vgl. BVerwG, U.v. 3.12.2003 - 6 C 20.02 - juris Rn. 17). Erst wenn auch unter Anwendung der anerkannten Auslegungsgrundsätze keine Klarheit über den Behördenwillen geschaffen werden kann bzw. Widersprüchlichkeiten nicht beseitigt werden können, ist Unbestimmtheit anzunehmen (vgl. Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 37 Rn. 7).
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Unter Anwendung dieser Maßstäbe ergibt die Auslegung des Bescheids vom 21.7.2022 in der Zusammenschau mit den beigegebenen Gründen und den sonstigen bekannten Umständen, dass die Betriebsstätte der Antragstellerin in …, Inhaltsadressatin ist, d.h. von den Regelungen des Bescheids vom 21.7.2022 materiell betroffen ist. Dies ergibt sich zum einen aus Ziffer 3 des Tenors des Bescheids, der die am 19.7.2022 mündlich getroffenen Anordnungen der Antragsgegnerin bestätigt und präzisiert. Die mündlichen Anordnungen haben sich auf die Betriebsstätte der Antragstellerin in … bezogen. Zum anderen ergibt sich diese Auslegung aus den Gründen des Bescheids, dort unter Ziff. I. In der Sachverhaltsschilderung wird ausschließlich auf die Filiale der Antragstellerin in … Bezug genommen. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass den Beteiligten auch aufgrund der vor Bescheidserlass stattfindenden Anhörung zur Einleitung des Strafverfahrens bekannt war, dass von den Regelungen allein die Filiale in … betroffen sein soll (Bl. 17 d. Behördenakte).
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Darüber hinaus sind keine formellen Fehler vorgetragen oder ersichtlich.
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(2) Rechtsgrundlage für die Anordnungen in Ziff. 1 und 2 des Bescheids vom 21.7.2022 ist die Befugnisnorm des § 29 Abs. 2 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 Nrn. 3 und 4 TabakerzG.
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Danach treffen die Marktüberwachungsbehörden die erforderlichen Maßnahmen, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass ein Erzeugnis nicht die Anforderungen dieses Gesetzes, der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen und der unmittelbar geltenden Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union im Anwendungsbereich dieses Gesetzes erfüllt. Sie sind insbesondere befugt, das Inverkehrbringen eines Erzeugnisses zu verbieten (§ 29 Abs. 2 Nr. 4 TabakerzG) bzw. vorübergehend zu verbieten, bis das Ergebnis einer entnommenen Probe oder einer von der Marktüberwachungsbehörde veranlassten Prüfung vorliegt (§ 29 Abs. 2 Nr. 3 TabakerzG). Stellt sich ein Verbot, Erzeugnisse in den Verkehr zu bringen, in seiner praktischen Wirkung als dauerhafte Betriebsstilllegung dar, kann ein solches Verbot nur dann auf § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 TabakerzG gestützt werden, wenn es die Beschaffenheit der Erzeugnisse als solche betrifft (Boch, TabakerzG, § 29 Rn. 2). § 29 Abs. 2 Satz 1 TabakerzG verpflichtet die zuständige Behörde, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn die dort genannten Voraussetzungen vorliegen. Sie hat dabei kein Entschließungsermessen. Es steht ihr jedoch ein Auswahlermessen zu, welche von verschiedenen zulässigen Maßnahmen sie trifft (Boch, TabakerzG, § 29 Rn. 2; Horst in Zipfel/Rathke LebensmittelR, 182. EL November 2021, TabakerzG, § 29 Rn. 24; BayVGH, U.v. 10.10.2019 - 20 BV 18.2231 - juris Rn. 31).
33
Nach § 1 Nr. 1 TabakerzG gelten die Begriffsbestimmungen des Art. 2 der RL 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der RL 2001/37/EG (nachfolgend RL 2014/40/EU) auch im Anwendungsbereich des TabakerzG. Damit ist es nach § 11 TabakerzG, der Art. 17 der RL 2014/40/EU in deutsches Recht umsetzt, verboten, Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch in den Verkehr zu bringen. Gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 TabakerzG i.V.m. Art. 2 Nr. 8 der RL 2014/40/EU sind „Tabak zum oralen Gebrauch“ alle Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch - mit Ausnahme von Erzeugnissen, die zum Inhalieren oder Kauen bestimmt sind -, die ganz oder teilweise aus Tabak bestehen und die in Pulver - oder Granulatform oder in einer Kombination aus beiden Formen, insbesondere in Portionsbeuteln oder porösen Beuteln, angeboten werden. Kautabak ist dabei gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 TabakerzG i.V.m. Art. 2 Nr. 6 der RL 2014/40/EU ein rauchloses Tabakerzeugnis, das ausschließlich zum Kauen bestimmt ist.
34
Zum Kauen bestimmt in diesem Sinne sind nach der Rechtsprechung des EUGH (U.v. 17.10.2018 - C-425/17 - juris Rn. 32) nur Tabakerzeugnisse, „die an sich nur gekaut konsumiert werden können, d.h. die ihre wesentlichen Inhaltsstoffe im Mund nur durch Kauen freisetzen können“. Mit dieser Vorgabe soll insbesondere eine Abgrenzung zu „Lutschtabak“ ermöglicht werden, der zum Konsum zwischen Zahnfleisch und Lippe geschoben wird. Derartige Erzeugnisse - wie etwa „Snus“ - sind von dem Verbot des Inverkehrbringens von Tabak zum oralen Gebrauch nach Art. 17 der RL 2014/40/EU erfasst (vgl. BVerwG, B.v. 12.5.2020 - 3 B 5/20 - juris Rn. 9). Dies gilt auch dann, wenn sie zur Umgehung des bestehenden Verbots als Kautabak vermarktet werden (vgl. EUGH, U.v. 17.10.2018 - C-425/17 - juris Rn. 31).
35
Der EuGH stellt in seinem Urteil fest, dass sich sowohl aus dem Zusammenhang als auch der Zielsetzung der RL 2014/40/EU, insbesondere aus dem Ausnahmecharakter der Bestimmung des Art. 2 Nr. 8 der RL 2014/40/EU ergebe, dass der Begriff „Tabakerzeugnisse, die zum Kauen bestimmt sind“ eng auszulegen sei, sodass er Lutschtabak wie solchen des Typs Snus nicht umfassen könne. Damit stellt der EuGH einen allgemeinen Grundsatz, der von den nationalen Gerichten bei der ihnen obliegenden Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung auf den konkreten Sachverhalt bzw. hier das jeweilige Tabakerzeugnis (Rn. 35 des EuGH-Urteils) zu beachten ist, auf. Dieser entspricht auch allgemeinem juristischen Verständnis, wonach Ausnahmebestimmungen grundsätzlich eng auszulegen sind (vgl. BayVGH, U.v. 10.10.2019 - 20 BV 18.2231 - Rn. 37).
36
Die nach der Rechtsprechung des EUGH eng auszulegende Ausnahme für Kautabak erfasst daher ein Tabakerzeugnis nicht, „das obwohl es auch gekaut werden kann, im Wesentlichen zum Lutschen bestimmt ist, d.h. ein Erzeugnis, das nur im Mund gehalten werden muss, damit seine wesentlichen Inhaltsstoffe freigesetzt werden“ (EUGH, U.v. 17.20.2018 - C-425/17 - juris Rn. 33). Dass ein Tabakerzeugnis überhaupt zum Kauen geeignet ist, bedeutet noch nicht, dass es auch zum Kauen bestimmt ist. Denn die Eignung zum Kauen ist nach der vom EuGH vorgenommenen Auslegung eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für die Bewertung als zum Kauen bestimmt i.S.v. Art. 2 Nr. 8 der RL 2014/40/EU (EUGH, U.v. 17.20.2018 - C-425/17 - juris Rn 35). Die Gebrauchsbestimmung - zum Kauen oder Lutschen - ist anhand aller relevanten objektiven Merkmale der betreffenden Erzeugnisse wie ihrer Zusammensetzung, ihrer Konsistenz, ihrer Darreichungsform und ggf. ihrer tatsächlichen Verwendung durch die Verbraucher zu beurteilen (EUGH, U.v. 17.20.2018 - C-425/17 - juris Rn. 35). Im Ergebnis hat sich nach der verbindlichen Rechtsauslegung des EuGH jedes rauchlose Tabakerzeugnis zum oralen Gebrauch einer Beurteilung nach den in der Entscheidung vom 17.10.2018 dargestellten Kriterien zu stellen.
37
Gemessen hieran lässt sich im Eilverfahren nicht hinreichend klären, ob die Voraussetzungen der Befugnisnorm erfüllt sind. Auf tatsächlicher Ebene ist in einem Hauptsacheverfahren zu klären, ob es sich bei den betreffenden Produkten nach den vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit Urteil vom 17.10.2018 (C - 425/17) zur Abgrenzung entwickelten Kriterien (Zusammensetzung, Konsistenz, Darreichungsform und ggf. die tatsächliche Verwendung durch die Verbraucher) um Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch handelt, die nicht zum Kauen bestimmt sind i.S.v. Art. 2 Nr. 8 der RL 2014/40/EU.
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Die Antragsgegnerin hat für die Beurteilung, ob die unter der Ziff. 1 des Bescheids aufgeführten Produkte „…“ und „…“ als Tabak zum oralen Gebrauch i.S.d. Art. 2 Nr. 8 der RL 2014/40/EU einzustufen sind, die beiden Gutachten des LGL vom 6.7.2021 zugrunde gelegt.
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Zwar sprechen die Ausführungen der Gutachten des LGL zu den Produkten „…“ und „…“ vom 6.7.2021 zur Zusammensetzung, Konsistenz und Darreichungsform der Erzeugnisse (fein gemahlener Tabak; fein geschnittener Tabak, dessen Partikelgröße sich maximal im unteren Millimeterbereich befinde; Darreichung in porösen Portionsbeuteln; bröseliger und leicht loser Charakter des Beutelinhalts) sowie die Untersuchungsergebnisse zur Speichelinkubation und Nikotinextraktion dafür, dass die betreffenden Produkte als Tabak zum oralen Gebrauch einzustufen sind. Die Gutachten lassen jedoch konkrete Ausführungen zum Durchmesser, der Breite und der Länge des Tabakblattes vermissen. Die Beurteilung der Zusammensetzung der Tabakerzeugnisse und damit die Frage, ob die Struktur des Tabakblattes zerstört ist, was die Freigabe der Inhaltsstoffe erleichtert, kann daher im Eilverfahren nicht abschließend beurteilt werden (vgl. zur Beurteilung des Kriteriums Zusammensetzung: BayVGH, U.v. 10.10.2019 - 20 BV 18.2231 - juris Rn. 47). Offen bleibt nach gegenwärtig erkennbarem Sachstand weiter, ob die verwendete nicht validierte und nicht akkreditierte Untersuchungsmethode (Messung der Nikotinfreigabe in Speichelsubstanz nach Ablauf von 20 min und 40 min) geeignet ist, um zuverlässig beurteilen zu können, ob die wesentlichen Inhaltsstoffe der untersuchten Produkte durch bloßes Im-Mund-Halten freigesetzt werden. All dem steht nicht entgegen, dass es für die hier vorzunehmende Abgrenzung unerheblich ist, ob durch Kauen des Tabakerzeugnisses ein größerer Teil der wesentlichen Inhaltsstoffe freigesetzt werden könnte als einer durch bloßes Im-Mund-Halten für den Konsum wesentlichen Menge (BVerwG, B.v. 12.5.2020 - 3 B 5/20 - juris Rn. 11).
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Diese noch offenen Fragen werden im Rahmen des Hauptsacheverfahrens seitens der Kammer aufzuklären sein. Die (lediglich) summarische Prüfung im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bedeutet, dass, auch wenn hier gleichfalls der Amtsermittlungsgrundsatz des § 86 Abs. 1 VwGO gilt und keine grundsätzliche Beschränkung auf präsente Beweismittel besteht, in der Regel keine umfassende Klärung des Sachverhalts, insbesondere mittels einer förmlichen Beweisaufnahme, erfolgt. Für die unter Ziff. 2 des Bescheids genannten Produkten „…“, „…“, „…“, „…“ und „…“ hat die Antragsgegnerin für die Frage, ob diese Produkte als Tabak zum oralen Gebrauch i.S.d. Art. 2 Nr. 8 der RL 2014/40/EU einzustufen sind, auf die Ähnlichkeit der Produkte zu den …-Produkten abgestellt. Für die streitgegenständlichen Produkte liegen dem Gericht im Zeitpunkt der Entscheidung keine Gutachten vor. Eine Bewertung der streitgegenständlichen Produkte nach Zusammensetzung, Konsistenz und Darreichungsform, wie sie der EuGH dem nationalen Gericht zur Aufgabe macht, kann daher im Eilverfahren nicht vorgenommen werden. Im Rahmen des Hauptsacheverfahrens wird daher seitens der Kammer aufzuklären sein, ob es sich bei den betreffenden Produkten jeweils um ein Tabakerzeugnis zum oralen Gebrauch handelt, das nicht zum Kauen bestimmt ist i.S.v. Art. 2 Nr. 8 der RL 2014/40/EU.
41
Das im gerichtlichen Verfahren vorgelegte Gutachten des LGL vom 14.1.2022 betrifft das Produkt „…“. Dieses Produkt ist nicht von den Anordnungen in den Ziff. 1 und 2 des Bescheids umfasst. Es ist nicht identisch zu den unter der Ziff. 2 des Bescheids genannten Produkten „…“ und „…“. Bei dem Produkt „…“ sind die Portionsbeutel, in denen sich die Tabakmischung befindet, im Gegensatz zu den Portionsbeuteln des Produkts „…“ etwas kleiner (vgl. …), sodass das Gutachten vom LGL vom 14.1.2022 für die Beurteilung des Produkts „…“ anhand der vom EUGH aufgestellten Kriterien voraussichtlich keine hinlänglich tragfähige Grundlage bilden kann.
42
c) Bei diesem Stand der Prognose für das Hauptsacheverfahren überwiegt im Rahmen der gebotenen gerichtlichen Interessenabwägung das besondere öffentliche Interesse an der behördlich angeordneten vorläufigen Vollziehbarkeit der (vorläufigen) Verbote des Inverkehrbringens der streitgegenständlichen Produkte gegenüber dem privaten Interesse der Antragstellerin, die streitgegenständlichen Produkte vorläufig weiter in der Filiale in … verkaufen zu können.
43
Die RL 2014/40/EU verfolgt nach ihrem Art. 1 ein doppeltes Ziel, nämlich, ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern (EUGH, U.v. 22.11.2018 - C-151/17 - juris Rn. 40 m.w.N.). Was genauer das Ziel des in Art. 17 der RL 2014/40/EU vorgesehenen Verbots von Tabak zum oralen Gebrauch betrifft, ist festzustellen, dass dieses Verbot durch die RL 92/41/EWG des Rates vom 15.5.1992 zur Änderung der RL 89/622 (ABl. 1992, L 158, S. 30) eingeführt wurde. Aus den Erwägungsgründen der RL 92/41 ergibt sich, dass dieses Verbot, das später von den einschlägigen Nachfolgerechtsakten dieser Richtlinie und zuletzt von der RL 2014/40/EU bestätigt und übernommen wurde, insbesondere damit begründet wurde, dass zum einen dem Risiko entgegengetreten werden sollte, dass neuartige Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch vor allem von Kindern und Jugendlichen verwendet werden und damit eine Nikotinabhängigkeit verursacht wird, falls nicht rechtzeitig einschränkende Maßnahmen getroffen werden (15. Begründungserwägung der RL 92/41). Zum anderen haben Untersuchungen des Internationalen Krebsforschungszentrums ergeben, dass Tabake zum oralen Gebrauch besonders große Mengen an Krebserregern enthalten und deshalb diese neuartigen Erzeugnisse vor allem Krebserkrankungen der Mundhöhle erzeugen (16. Begründungserwägung der RL 92/41). Um von einem Gesundheitsschutz von hohem Niveau auszugehen, erscheine ein Totalverbot von Tabakerzeugnissen zum oralen Gerbrauch geeignet (17. Begründungserwägung der RL 92/41).
44
In der 32. Begründungserwägung der RL 2014/40/EU wird zu den Gründen des Verkehrsverbots ausgeführt, dass damit verhindert wird, dass ein Produkt in die Union (abgesehen von Schweden) gelangt, das suchterzeugend ist und gesundheitsschädigende Wirkungen hat. Bei anderen rauchlosen Tabakerzeugnissen, die nicht für den Massenmarkt hergestellt werden, werden strengere Kennzeichnungsvorschriften und bestimmte Vorschriften in Bezug auf ihre Inhaltsstoffe als ausreichend angesehen, um eine über den herkömmlichen Konsum dieser Erzeugnisse hinausgehende Expansion auf den Märkten einzudämmen.
45
Ausgehend hiervon kann das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch erhebliche Gefahren für den Gesundheitsschutz als ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zur Folge haben. Dem stehen die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin gegenüber. Auf das Inverkehrbringen von Erzeugnissen gerichtete Verbote greifen als Berufsausübungsregelungen auf der untersten Ebene in die Berufsfreiheit der Antragstellerin ein und sind grundsätzlich bereits durch vernünftige, dem Übermaßverbot entsprechende Erwägungen des Gemeinwohls gerechtfertigt (BayVGH, B.v. 6.8. 6.2008 - 9 CS 08.1391 - juris Rn. 15).
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Die Verfolgung eines hinreichenden Gemeinwohlziels ist angesichts der Bedeutung des Schutzes der menschlichen Gesundheit zu bejahen.
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Die Kammer verkennt nicht und gesteht der Argumentation der Antragstellerin auch zu, dass der Jugendschutz durch § 10 Abs. 1 Jugendschutzgesetz (JSchG), wonach die Abgabe von Tabakerzeugnisse an Kinder oder Jugendliche untersagt ist, weiter gewährleistet ist. Was das Ziel der Richtlinie betrifft, einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit besonders für junge Menschen zu gewährleisten, erschöpft sich der Zweck der Richtlinie jedoch nicht im Schutz der Gesundheit junger Menschen. Durch die Bestimmungen soll ein hohes Schutzniveau der menschlichen Gesundheit, d.h. aller Verbraucher, gewährleistet werden.
48
Hier ist den Begründungen der Richtlinien, auf denen schließlich § 11 TabakerzeugG beruht, zu entnehmen, dass aus Sicht des Gesetzgebers Tabak zum oralen Gebrauch wegen des erhöhten Krebsrisikos und der Anziehungskraft auf Jugendliche verboten werden muss. Der EUGH (U.v. 22.11.2018 - C-151/17 - juris Rn. 40 ff.) führt zur Gültigkeit von Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der RL 2014/40 im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wie folgt aus:
„Was das Ziel betrifft, einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit besonders für junge Menschen zu gewährleisten, ergibt sich aus der Folgenabschätzung (S. 62 ff.), dass die Kommission die verschiedenen politischen Optionen in Bezug auf die verschiedenen Tabakerzeugnisse, u. a. die Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch, erwogen hat. Insbesondere hat sie die Möglichkeit, das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch aufzuheben, im Licht der neuen wissenschaftlichen Studien zur Gesundheitsschädlichkeit dieser Erzeugnisse und der Erkenntnisse zu den Konsumgewohnheiten in Bezug auf Tabakerzeugnisse in den Ländern, die den Verkauf von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch erlauben, geprüft.
Hierzu hat die Kommission zunächst darauf hingewiesen, dass rauchlose Tabakerzeugnisse nach wissenschaftlichen Studien zwar weniger gesundheitsgefährdend seien als Rauchtabakerzeugnisse, sämtliche rauchlosen Tabakerzeugnisse jedoch Kanzerogene enthielten, nicht wissenschaftlich erwiesen sei, dass die in Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch enthaltene Menge an Kanzerogenen das Krebsrisiko verringern könne, sie das Risiko eines tödlichen Herzinfarkts erhöhten und bestimmte Anzeichen dafür sprächen, dass ihr Gebrauch zu Schwangerschaftskomplikationen führen könne.
Des Weiteren hat die Kommission darauf hingewiesen, dass die Studien, die nahelegten, dass „Snus“ die Raucherentwöhnung erleichtern könne, überwiegend auf Erkenntnissen aus empirischer Beobachtung beruhten und daher nicht als schlüssig angesehen werden könnten.
Außerdem könne die Auswirkung der Entscheidung, das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch aufzuheben, auf die Politik der Kontrolle des Konsums von Tabakerzeugnissen auswirken und Personen, die bis dahin keine Tabakerzeugnisse konsumiert hätten, insbesondere junge Menschen, dazu verleiten. Eine solche Entscheidung führe damit zu gewissen Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung.
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber im Einklang mit der in den Rn. 36 und 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung auf der Grundlage wissenschaftlicher Studien und nach dem weiten Ermessen, über das er insoweit verfügt, sowie dem Vorsorgeprinzip zu dem Ergebnis gelangen durfte, dass die Wirksamkeit von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch als Hilfe zur Raucherentwöhnung im Fall der Aufhebung des Verbots des Inverkehrbringens dieser Erzeugnisse ungewiss ist und Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung bestehen, etwa - insbesondere wegen der Anziehungskraft dieser Erzeugnisse auf junge Menschen - die Gefahr des Einstiegs in den Konsum von Rauchtabakerzeugnissen.
Zur Geeignetheit des Verbots des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch, das Ziel der Gewährleistung eines hohen Schutzes der menschlichen Gesundheit zu erreichen, ist nämlich darauf hinzuweisen, dass diese nicht bloß im Hinblick auf eine einzige Kategorie von Verbrauchern beurteilt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C-547/14, ECLI:EU:C:2016:325, Rn. 176).
Da im Fall einer Aufhebung des Verbots des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch die positiven Wirkungen für die Gesundheit der Verbraucher, die diese Erzeugnisse als Hilfe bei der Entwöhnung verwenden möchten, ungewiss wären und darüber hinaus Gefahren für die Gesundheit der anderen Verbraucher, insbesondere junger Menschen, bestünden, die gemäß dem Vorsorgeprinzip den Erlass beschränkender Maßnahmen erfordern, können Art. 1 Buchst. c und Art. 17 der RL 2014/40 nicht als offensichtlich ungeeignet angesehen werden, um einen hohen Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten.
Dagegen erscheinen weniger einschränkende Maßnahmen wie die in der RL 2014/40 für die anderen Tabakerzeugnisse vorgesehenen, etwa die Verstärkung von Gesundheitswarnhinweisen und das Verbot von aromatisiertem Tabak, nicht als ebenso geeignet, das angestrebte Ziel zu erreichen.
Wegen des hohen Wachstumspotenzials des Markts für Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch, das von den Herstellern dieser Erzeugnisse selbst bestätigt wird, wie auch der Einführung rauchfreier Zonen sind diese Erzeugnisse nämlich besonders geeignet, Personen, die bisher keine Tabakerzeugnisse konsumiert haben, vor allem junge Menschen, dazu zu verleiten.
Im Übrigen sind Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch besonders gefährlich für Minderjährige, da ihr Konsum schwer zu bemerken ist. Gewöhnlich wird das Produkt nämlich zwischen Zahnfleisch und Oberlippe geschoben und dort behalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2004, Arnold André, C-434/02, ECLI:EU:C:2004:800, Rn. 19).
Somit geht das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen zum oralen Gebrauch offenkundig nicht über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, einen hohen Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten, erforderlich ist.
Außerdem ist nach ständiger Rechtsprechung dem Schutz der Gesundheit gegenüber wirtschaftlichen Erwägungen vorrangige Bedeutung beizumessen (Urteil vom 19. April 2012, Artegodan/Kommission, C-221/10 P, ECLI:EU:C:2012:216, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung), die negative wirtschaftliche Folgen selbst beträchtlichen Ausmaßes rechtfertigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C-581/10 und C-629/10, ECLI:EU:C:2012:657, Rn. 81 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Selbst wenn man im vorliegenden Fall annimmt, das ein hohes Wachstumspotenzial des Markts für Tabakerzeugnisse zum oralen Gebrauch besteht, bleiben die wirtschaftlichen Folgen des Verbots des Inverkehrbringens dieser Erzeugnisse aber jedenfalls ungewiss, da sich diese Erzeugnisse zum Zeitpunkt des Erlasses der RL 2014/40 nicht auf dem Markt der von Art. 17 der RL 2014/40 erfassten Mitgliedstaaten befanden.“
49
Für das Gericht sind keine Gründe ersichtlich, diese Einschätzung in Zweifel zu ziehen.
50
Es ist nicht ersichtlich, dass das Abwarten einer Hauptsacheentscheidung über die Untersagung des Inverkehrbringens der streitgegenständlichen Produkte für die Antragstellerin unzumutbar wäre. Sie lässt insoweit lediglich auf ihre Wettbewerbsfähigkeit hinweisen. Das (vorläufige) Verbot, die betreffenden Erzeugnisse in den Verkehr zu bringen, stellt sich in seiner praktischen Wirkung nicht als Stilllegung der gesamten Betriebsstätte der Filiale in … dar, da in dieser Filiale nach unbestrittenem Vortrag der Antragsgegnerin auch andere Produkte verkauft werden. Eigenen Angaben der Antragstellerin zufolge machen die Produkte nur einen kleinen Teil der Einnahmen aus. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung ist unter Berücksichtigung vorstehender Erwägungen nicht ersichtlich. Danach rechtfertigt der Schutz der menschlichen Gesundheit die Einschränkung der Berufsfreiheit.
51
d) Die Zwangsgeldandrohungen in Ziff. 5 des angegriffenen Bescheides stützen sich auf die Art. 18, 19 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, 29, 30, 31 und 36 VwZVG. Sie sind jeweils hinreichend bestimmt formuliert. Gegen die Höhe der angedrohten Zwangsgelder bestehen aus Sicht der Kammer keine Bedenken. Im Übrigen hat auch die Antragstellerin insoweit nichts vorgetragen.
52
Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen, § 154 Abs. 1 VwGO.
53
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) unter Berücksichtigung der Ziff. 1.5 und Ziff. 25.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, dessen Empfehlungen die Kammer folgt. Gemäß Ziff. 25.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist für sonstige Maßnahmen im Lebensmittelrecht der Jahresbetrag der erwarteten wirtschaftlichen Auswirkung, sonst der Auffangwert anzusetzen. Das Gericht orientiert sich dabei nicht an der seitens der Antragstellerin angegebenen Gewinnmarge. Die Angaben der Antragstellerin zu dem erwarteten Jahresgewinn für die streitgegenständlichen Erzeugnisse beziehen sich wohl auf alle 19 Filialen der Antragstellerin in Bayern. Von den Anordnungen in den Ziff. 1 und 2 des Bescheids ist jedoch nur die Filiale in …, von den Regelungen des Bescheids materiell betroffen. Anhaltspunkte, ob der in den Betriebsstätten der Antragstellerin generierte Umsatz und der erwartete Jahresgewinn in etwa gleich verteilt ist, liegen nicht vor, sodass der Auffangwert anzusetzen war. Im Hinblick auf den vorläufigen Charakter der Entscheidung hat das Gericht diesen Wert für die Streitwertfestsetzung halbiert (vgl. Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs).