Titel:
Zurechnung von Prostitutionsleistungen an den Bordellbetreiber
Normenkette:
UStG § 1 Abs. 1 Nr. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Einem Bordellbetreiber können die von den Prostituierten in einem Bordell erbrachten Leistungen zugerechnet werden.
2. Ein Vorsteuerabzug aus den Leistungen der Prostituierten an den Bordellbetreiber kommt ohne weitere Kenntnisse über die Unternehmereigenschaft der Prostituierten auch dann nicht in Betracht, wenn man davon ausgeht, dass ein Vorsteuerabzug auch ohne Rechnung möglich ist.
Schlagworte:
Fahndungsprüfer, Leistungsempfänger, Mehrwertsteuersystemrichtlinie, Prostituiertenumsätze, Umsatzsteuerbescheid
Fundstelle:
BeckRS 2022, 28738
Tatbestand
1
I. Streitig ist, ob dem Kläger die Umsätze der in den Bordellen „P“ und „S“ tätig gewesen Prostituierten zuzurechnen sind bzw. ob ihm aus diesen Leistungen ein Recht auf Vorsteuerabzug zusteht.
2
Der Kläger war bis März 2010 im S, betrieben von O, als Barmann beschäftigt. Ab März 2010 trat er als offizieller Betreiber dieses Etablissements sowie des bordellartigen Betriebs P auf. O ist seit diesem Zeitpunkt beim Kläger als Arbeitnehmer beschäftigt worden.
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Der Kläger reichte für die Streitjahre Umsatzsteuervoranmeldungen sowie eine Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr 2010 ein. Die erklärten Umsätze setzten sich aus Eintrittsgeldern, Getränkeverkäufen und Zimmermieten zusammen.
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Im Rahmen einer beim Kläger für 2010 bis 2013 durchgeführten Steuerfahndungsprüfung stellte der Prüfer fest, dass keine Prostituiertenumsätze und die Einnahmen aus Zimmermieten sowie die von den Kunden und den Prostituierten gezahlten Eintrittsgelder nur zum Teil erklärt wurden. Sowohl für P als auch für S wurde im Internet sowie in verschiedenen Printmedien geworben. Der Kläger und O haben für das erforderliche Personal, einschließlich der in den Clubs tätigen Prostituierten, gesorgt.
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Es wurden die für die Dienstleistungen der Prostituierten erforderlichen Räumlichkeiten wie Kontaktraum, Bar, Toiletten, Einzelzimmer sowie - mit Ausnahme der persönlichen Utensilien (Kleidung, Schminke, Präservative) - alle notwendigen Arbeitsmittel wie Sauna, Pool, Bettwäsche zur Verfügung gestellt. Für die sexuellen Dienstleistungen in beiden Clubs gab es einen einzuhaltenden Leistungskatalog mit zum Teil festen Preisen (.. EUR für die halbe, .. EUR für die ganze Stunde). Den Prostituierten waren die Arbeitszeiten, die sich an den Öffnungszeiten der Clubs orientierten, vorgegeben. Dabei wurden die Zeiten auf den Zimmern vom Kläger bzw. O oder den Angestellten kontrolliert und protokolliert. Es wurde auch die Anzahl der Gäste pro Prostituierter und Nacht aufgezeichnet. Der Freier buchte die Prostituierte, die üblicherweise unter einem Künstlernamen arbeitete, für einen festen Zeitraum. Er kannte weder die wahre Identität noch die Anschrift der Prostituierten.
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Ferner ergaben die Ermittlungen, dass der Kläger zwar nur als Strohmann fungiert hatte und intern nur als „kleiner Chef“ die Bordelle leitete. Im Außenverhältnis trat er aber als Inhaber der Clubs auf und bot in der Print- und Internetwerbung sämtliche von den Kunden in einem Bordellbetrieb erwarteten Dienstleistungen einschließlich der Verschaffung von Geschlechtsverkehr an. Der Prüfer kam in Anbetracht der getroffenen Feststellungen zu dem Ergebnis, dass die Kunden nicht den Schluss ziehen konnten, dass eine Leistungsbeziehung zu den einzelnen Prostituierten bestanden habe.
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Leistender Unternehmer sei der nach Außen im Namen der Clubs auftretende Kläger gewesen. Der Prüfer ging davon aus, dass in den beiden Clubs 2010 und 2011 insgesamt durchschnittlich 16, 2012 durchschnittlich 20 und 2013 durchschnittlich 25 Prostituierte (vgl. Bl. 39 ErmAkte) anwesend gewesen seien und der jeweiligen Prostituierten nach Abzug der Miete ein monatlicher Umsatz von geschätzt … EUR verblieben sei. Nähere Erläuterungen, wie sich der Betrag errechnet, gab der Prüfer nicht.
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Das Finanzamt wertete die Prüfungsfeststellungen aus und schätzte den bisher vom Kläger erklärten Umsätzen die nicht erklärten Prostitutionsumsätze zu. Danach ergab sich für Lieferungen und sonstige Leistungen zu 19% eine Umsatzsteuer im Jahr 2010 in Höhe von .. EUR, 2011 in Höhe von …, 2012 in Höhe von … EUR, 2013 in Höhe von … EUR und 2014 in Höhe von … Nach dem Urteil des Amtsgerichts München vom 16. November 2017 erklärte der Kläger im Zeitraum 2010 bis 2013 die Umsätze aus Eintritten, Zimmervermietung, Getränken nicht vollständig und unterließ es, die Umsätze der Prostituierten anzugeben. Das Amtsgericht legte seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr (auf Bewährung) allerdings ausschließlich die nicht erklärten Umsätze aus den Zimmermieten und den Eintrittsgeldern der Kunden zu Grunde. Hinsichtlich der nicht ordnungsgemäß erklärten Umsätze der Prostituierten ging das Gericht davon aus, dass der Kläger nicht vorsätzlich handelte. Außerdem unterließ es die eigentlich gebotene Einbeziehung der höheren Getränkeumsätze, da die hierfür erforderlichen Ermittlungen durch das FA noch nicht einmal ansatzweise geführt worden seien.
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Die gegen die Bescheide vom 2. August 2016 eingelegten Einsprüche blieben ohne Erfolg (vgl. Einspruchsentscheidung vom 1. Juli 2019). Dem Kläger seien die Umsätze aus den Bordellbetrieben zuzurechnen, da ein nachhaltig tätiger Strohmann - wie er - aufgrund der von ihm unter seinem Namen getätigten Außenumsätzen Unternehmer sei. Er sei daher der zutreffende Inhaltsadressat der streitgegenständlichen Umsatzsteuerbescheide. Auch hätten die Kunden aufgrund der Gesamtumstände davon ausgehen müssen, dass der jeweilige Club, und somit der Kläger als Betreiber und nicht die einzelne Prostituierte, Vertragspartner und Leistungserbringer sämtlicher angebotener Leistungen gewesen sei.
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Insbesondere sei auch aufgrund des Umstandes, dass die Prostituierten auf der Homepage des Clubs zu finden gewesen seien, zum Ausdruck gekommen, dass für das jeweilige Etablissement geworben worden sei, um den Kunden zum Besuch des Bordells zu bewegen. Dabei käme es ausdrücklich nicht darauf an, dass der Kunde in einzelnen Fällen nicht sämtliche Leistungen in Anspruch nehme. Auch sei für die Zurechnung der Prostituiertenumsätze unbeachtlich, dass der Kläger insoweit vom Amtsgericht München nicht wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden sei. Ihm sei lediglich deshalb kein Schuldvorwurf gemacht worden, weil er steuerlich beraten gewesen sei.
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Da nach den Feststellungen der Fahndung die vorgelegten Aufzeichnungen hinsichtlich der Prostituiertenumsätze sowie der sonstigen Umsätze aus Eintrittsgeldern und Zimmermieten unvollständig gewesen seien, sei zu Recht eine Schätzung der Umsätze erfolgt. Da der Kläger keine eigenen Aufzeichnungen habe vorlegen können, habe man sich an den vorhandenen Beweismitteln wie Zeugenaussagen, Kontrollprotokollen sowie der Werbung orientieren müssen. Des Weiteren bewege sich der Ansatz von .. EUR Umsatz monatlich für jede Prostituierte unter Berücksichtigung eines Stundenpreises von .. EUR und des Umstandes, dass lediglich die Prostituiertenumsätze hinzu geschätzt worden seien, am untersten Schätzungsrahmen.
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Seine bei Gericht erhobene Klage begründet der Kläger im Wesentlichen damit, dass die Prostituiertenumsätze deshalb nicht in die Bemessungsgrundlage seiner Umsatzsteuererklärungen eingegangen seien, weil er der Ansicht gewesen sei, dass diese durch die Prostituierten selbst zu erklären seien.
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Auch gehe aus dem Ermittlungsbericht nicht eindeutig hervor, wer der leistende Unternehmer gewesen sei. Dort werde neben ihm auch O als Betreiber genannt und ausgeführt, dieser und er seien Steuerschuldner der Umsatzsteuer, was auf das Vorliegen einer GbR schließen lasse. Die Prostituiertenleistungen seien zudem nicht durch ihn erbracht worden; eine Zurechnung der entsprechenden Umsätze zu seinem Unternehmen sei daher nicht möglich.
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Unter Zugrundelegung der Ladenrechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) folge im Streitfall zwingend, dass die jeweilige Prostituierte als Unternehmerin anzusehen sei. Denn sie nehme nicht nur das Entgelt entgegen, sondern verhandle und schließe mit den Freiern auch den Vertrag ab und erbringe auch die zugrundeliegende sexuelle Leistung an den Kunden. Er habe aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers dem Freier nicht mit Hilfe der dort tätigen Prostituierten die Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr verschafft. So hätten im S sowohl die Prostituierten als auch die Clubbesucher Eintritt zahlen müssen. Die Besucher hätten mit der Zahlung lediglich die Einrichtungen im Club besuchen können, die Prostituiertenleistungen hätten damit in keinem Zusammenhang gestanden.
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Manche der Besucher hätten auch gar nicht beabsichtigt, überhaupt Prostituiertenleistungen in Anspruch zu nehmen. Die „Buchung“ der eigentlichen Prostituiertendienstleistung sei vielmehr über den direkten Kontakt des Freiers mit der Prostituierten zu Stande gekommen. Auch die Entlohnung sei allein und ausschließlich direkt gegenüber der Prostituierten erfolgt, worauf der Freier beim Eintritt hingewiesen worden sei. Insbesondere bei den „auf der Straße“ arbeitenden Prostituierten sei kaum vorstellbar, dass der Freier nach Vertragsanbahnung auf der Straße der Meinung gewesen sein könnte, die sexuelle Diensthandlung würde vom Betreiber des P erbracht, bei dem er erst später und nur für die Nutzung des Etablissements Eintritt bezahlt habe.
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Im vorliegenden Fall seien die Prostituierten, die unstreitig ein Leistungsverweigerungsrecht hätten, auch nicht nur Subunternehmerinnen, sondern im eigenen Namen auftretende Hauptunternehmerinnen gewesen. Das der Prostituierten vom Freier gezahlte Entgelt habe sie als Gegenleistung für ihre eigene Leistung „Geschlechtsverkehr“ erhalten, die der Bordellbetreiber bei Leistungsverweigerung der Prostituierten nicht erbringen konnte, und dieses Entgelt stelle daher die Bemessungsgrundlage der Umsätze ihres Unternehmens dar.
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Da er als Bordellbetreiber keine Prostituiertenumsätze erbracht habe, schulde er auch keine Umsatzsteuer. Im Streitfall seien unterschiedliche Leistungen durch verschiedene (Haupt-) Unternehmer, den Bordellbetreiber und die Prostituierte, erbracht worden.
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Aber selbst wenn man der Auffassung des Finanzamts folgen würde, dürfte sich für den Bordellbetreiber keine Umsatzsteuerschuld ergeben. Denn aufgrund der Tatsache, dass an der tatsächlichen Leistungserbringung durch die Prostituierten, und somit an der Eingangsleistung, kein Zweifel bestehe, sei davon auszugehen, dass aufgrund der neuesten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) der Vorsteuerabzug für den Bordellbetreiber aus diesen Eingangsleistungen auch ohne Rechnung der Prostituierten in gleicher Höhe wie die geschätzte Umsatzsteuer möglich sein müsste.
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Schließlich könne die vorgenommene Schätzung der Besteuerung nicht zu Grunde gelegt werden. Wie im strafrechtlichen Verfahren festgestellt worden sei, sei weder die durch den Fahndungsprüfer vorgenommene Ermittlung der Anzahl der durchschnittlich in den Clubs tätigen Prostituierten noch deren ermittelter Umsatz nachvollziehbar.
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Das FA nehme eine Vollschätzung der umsatzsteuerpflichtigen Prostitutionsumsätze vor, obwohl nicht ausgeschlossen werden könne, dass diese noch in anderen Clubs gearbeitet hätten, sollten diese nicht (wenigstens nicht alle) Kleinunternehmerin gewesen sein.
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Die neuere Schätzung des FA im Schriftsatz vom 8. April 2022 sei eine völlig aus der Luft gegriffene Schätzung, denn bei der Steuerfahndung sei bislang keine Schätzung der übrigen Umsätze neben den Prostituiertenumsätzen vorgenommen worden. Außerdem hätten die Prostituierten im S Eintritt bezahlt und keine Zimmermiete entrichtet. Die Anzahl der Prostituierten sowohl im P als auch im S seien vom FA in diesem Schriftsatz frei erfunden und entbehrten jeder Grundlage. Das gelte auch für die geschätzte Anzahl der männlichen Gäste. Was den Umsatz der Getränke anbelange, unterstelle das FA, dass jeder Kunde mindestens ein bis zwei alkoholische Getränke konsumiert habe, obwohl nichtalkoholische Getränke im Eintrittspreis enthalten gewesen und Kunden des Straßenstrichs überhaupt nicht zu Getränken animiert worden seien. Die Schätzung des FA sei daher insgesamt rechtswidrig und nicht anzuerkennen.
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Der Kläger beantragt, die Umsatzsteuerbescheide 2010 bis 2014 jeweils in Gestalt der Änderungsbescheide vom 2. August 2016 und die Einspruchsentscheidung vom 1. Juli 2019 dahingehend abzuändern, dass die Umsatzsteuer für 2010 um …EUR, für 2011 um … EUR, für 2012 um … EUR, für 2013 um … EUR und für 2014 um … EUR herabgesetzt wird.
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Das Finanzamt beantragt, die Klage abzuweisen.
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Es verweist auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor, dass unter Einbeziehung der zu niedrig erklärten Umsätze für Getränke, Zimmermieten und Eintrittsgelder die Umsatzsteuerschuld noch höher festzusetzen gewesen wäre.
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Im Schriftsatz vom 8. April 2022 weist es auf weitere Schätzungsgrundlagen hin. Danach sei im Wege der Schätzung von Zahlungen in Höhe von … EUR pro Tag und Prostituierter an den Kläger auszugehen. Das entspreche der Zeugenaussage von A und C, die angegeben hätten, täglich .. EUR für das Zimmer gezahlt zu haben.
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Auch die Zahl der Prostituierten sei wesentlich höher als im Urteil des Amtsgerichts München angenommen worden sei. Im P seien in den Jahren 2010 und 2011 täglich im Durchschnitt mindestens 7 Damen und in den Jahren 2012 bis 2014 mindestens 8 Damen angewesen gewesen. Bei den Kunden gehe das FA davon aus, dass in den Jahren 2010 und 2011 mindestens 14 Kunden und von 2012 bis 2014 von 18 Kunden pro Tag auszugehen sei.
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Beim S gehe das FA davon aus, dass in 2020 und 2011 pro Tag durchschnittlich 10 Damen und in den Jahren 2012 bis 2014 je 14 Damen tätig gewesen seien. Im Jahr 2010 und 2011 seien 20 Kunden und in den Jahren 2012 bis 2014 jeweils 26 Kunden pro Tag im P der Berechnung zu Grunde zu legen.
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Hinsichtlich der geöffneten Tage der beiden Betriebe folgt das FA weitgehend den Feststellungen des Amtsgerichts. Es geht lediglich für das Jahr 2010 für das S von 90 Tagen aus, weil dieses bereits am 17. September 2010 eröffnet und rein rechnerisch sogar auch 105 Tage Öffnungszeit vertretbar gewesen wäre.
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Hinsichtlich des Getränkekonsums geht das FA in seinem Schriftsatz vom 8. April 2022 von einer relativ hohen Preisstruktur aus (Piccolo oder Cocktail 40 EUR; Sekt und Champagner über 100 bis 200 EUR) und nimmt an, dass im Durchschnitt aller Kunden ein Betrag von 60 EUR für alkoholischen Getränkekonsum pro Kunde anzusetzen sei.
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Ein Vorsteuerabzug aus den Leistungen der Prostituierten an den Kläger komme nicht in Betracht, weil es hierfür an Rechnungen mangele, die für den Vorsteuerabzug unabdingbar seien. Dies habe auch der EuGH in seinem Urteil Vadan vom 21. November 2018 ausdrücklich festgestellt. Danach sei ein Vorsteuerabzug nicht allein auf der Grundlage einer Schätzung zu gewähren.
Entscheidungsgründe
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II. Die Klage ist zu einem geringen Teil begründet.
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Das Finanzamt ist bei seiner Schätzung der Umsätze zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger die von ihm erbrachten Prostituierten-Umsätze zu Unrecht nicht erklärt hat und ihm hinsichtlich dieser Umsätze auch kein Vorsteuerabzug zusteht. Eine weitere Hinzuschätzung von Umsätzen kommt allerdings nicht in Betracht, weil es hierzu an den notwendigen Feststellungen mangelt.
33
Der Kläger hat unter dem Namen „S“ sowie unter dem Namen „P“ Clubs betrieben und Bordellleistungen erbracht. Er ist somit Steuerschuldner für die Umsatzsteuer aus den in diesen Betrieben insgesamt erbrachten Leistungen, einschließlich der erbrachten sexuellen Dienstleistungen (§§ 13 Abs. 2 Nr. 1, 1 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes in der hier maßgebenden Fassung UStG).
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1. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unterliegen die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt, der Umsatzsteuer.
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a) Die Umsätze aus dem Betrieb der Bordelle sind dem Kläger als alleinigem Unternehmer zuzurechnen.
36
Wer bei einem Umsatz als Leistender anzusehen ist, ergibt sich regelmäßig aus dem der Leistung zugrunde liegenden Rechtsverhältnis. Daher kann auch ein „Strohmann“ leistender Unternehmer sein, sofern er aus den diesem Rechtsverhältnis zugrunde liegenden Vereinbarungen zivilrechtlich berechtigt und verpflichtet ist. Unbeachtlich ist das „vorgeschobene“ Strohmanngeschäft nach § 41 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) aber, wenn es nur zum Schein abgeschlossen wird, d.h. wenn die Vertragsparteien - der „Strohmann“ und der Leistungsempfänger - einverständlich oder stillschweigend davon ausgehen, dass die Rechtswirkungen des Geschäfts gerade nicht zwischen ihnen, sondern zwischen dem Leistungsempfänger und dem „Hintermann“ eintreten sollen. Letzteres ist insbesondere dann zu bejahen, wenn der Leistungsempfänger weiß oder davon ausgehen muss, dass der Strohmann keine eigene Verpflichtung aus dem Rechtsgeschäft übernehmen und dementsprechend auch keine eigenen Leistungen versteuern will (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 20. Oktober 2016 V R 36/14, BFH/NV 2017, 327, Rz 11 m.w.N.).
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Bei unternehmensbezogenen Rechtsgeschäften geht der Wille der Beteiligten im Zweifel dahin, dass der Inhaber des Unternehmens, in dessen Tätigkeitsbereich das rechtsgeschäftliche Handeln fällt, und nicht der für das Unternehmen Handelnde der Vertragspartner werden soll (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 31. Juli 2012 X ZR 154/11, Neue Juristische Wochenschrift 2012, 3368, Rz 10, m.w.N.).
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Das Finanzamt ging zu Recht davon aus, dass keine GbR zwischen O und dem Kläger bestand und er als leistender Unternehmer anzusehen ist.
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Ein Zusammenschluss natürlicher Personen erbringt regelmäßig nur dann als selbständiger Unternehmer Leistungen gegen Entgelt, wenn dem Leistungsempfänger diese Personenmehrheit als Schuldner der vereinbarten Leistung und Gläubiger des vereinbarten Entgelts gegenübersteht. Vorliegend hat weder die Steuerfahndung Feststellungen getroffen noch hat der Kläger entsprechende Nachweise erbracht, aus denen sich ergeben könnte, dass zwischen ihm und O eine GbR bestanden hat, die als solche aufgetreten ist.
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Auch wenn O, der bisherige Betreiber der Bordelle, nach den Feststellungen der Fahndung im Innenverhältnis nach wie vor die wesentlichen betrieblichen Entscheidungen getroffen haben soll, ist im Außenverhältnis - wenn auch ggf. nur als sog Strohmann - der Kläger gegenüber den Kunden als Leistungsempfänger aufgetreten.
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Ausweislich der Akten war es gerade das Ziel dieses Rollentausches, nach außen den Eindruck zu erwecken, dass sich O aus dem Rotlichtmilieu zurückgezogen hat. Demgemäß trat im Internet auch nur der Kläger als Inhaber des jeweiligen Clubs auf. Der Umstand, dass er in den Augen der Prostituierten als „kleiner Chef“ und O als „graue Eminenz“ im täglichen Geschäftsbetrieb agierte, ist unerheblich, da damit kein Auftreten im Namen einer GbR verbunden war. Unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass zwischen dem Kläger und O eine GbR bestand. Hinzu kommt, dass der Kläger auch gegenüber dem FA als Einzelunternehmer aufgetreten ist. So hat er im Fragebogen zur steuerlichen Erfassung dem Finanzamt am 29. Juli 2010 mitgeteilt, dass er in der …und in der …eine „Zimmervermietung“ betreibe. Zudem hat der Kläger die beiden Bordelle betrieben und auch die Umsatzsteuererklärungen beim FA eingereicht.
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Anders als der Kläger meint, verhilft ihm auch die sog. Ladenrechtsprechung des BFH (vgl. Urteile vom 7. Juni 1962 V 214/59 U, BStBl III 1962, 361, Rz 5; vom 13. Dezember 1963 V 74/61, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1964, 400; vom 9. April 1970 V R 80/66, BStBl II 1970, 506, Rz 9; vom 16. März 2000 V R 44/99, BStBl II 2000, 361; vom 15. Mai 2012 XI R 16/10, BStBl II 2013, 49, Rz 25) nicht zum Erfolg, weil ein Kunde, der in einem Laden Waren des täglichen Bedarfs kauft oder sonstige Leistungen bezieht, grundsätzlich mit dem Ladeninhaber in Geschäftsbeziehungen treten will (vgl. BFH-Beschlüsse vom 2. Januar 2018 XI B 81/17, BFH/NV 2018, 457; vom 3. Februar 2021 XI B 45/20, BFH/NV 2021, 673). Die Rechtsfolge der sog. Ladenrechtsprechung ist danach, dass eine Person, die ein Gewerbe angemeldet hat oder Inhaber der Konzession ist, in Bezug auf die umfassten Leistungen grundsätzlich als leistender Unternehmer anzusehen ist. So verhält es sich auch bei einer Gaststätte oder wie vorliegend bei einem Saunaclub oder einem Bordell, wo danach abzugrenzen ist, wer gegenüber den Behörden aufgetreten ist, was unstreitig der Kläger als Betreiber der Bordelle war.
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b) Bei der Zurechnung der Prostituiertenumsätze an den Kläger kommt es weiter darauf an, ob er gemäß den nach außen erkennbaren Gesamtumständen aufgrund von Organisationsleistungen selbst derjenige ist, der durch die Anwerbung von Prostituierten und deren Unterbringung das Bordell betreibt (vgl. BFH-Urteil vom 19. Februar 2014 XI R 1/12, BFH/NV 2014, 1398). Dabei kann maßgebend sein, ob der Unternehmer z.B. in seiner Werbung als Inhaber eines Bordells oder eines bordellähnlichen Betriebs als Erbringer sämtlicher vom Kunden erwarteten Dienstleistungen einschließlich der Verschaffung von Geschlechtsverkehr aufgetreten ist (vgl. BFH-Beschluss vom 3. März 2006 V B 181/05, BFH/NV 2006, 2138).
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Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob die Prostituierten weisungsgebunden als Arbeitnehmerinnen anzusehen sind (vgl. BFH-Beschluss vom 7. Februar 2017 V B 48/16, BFH/NV 2017, 629), wofür nach dem Beschluss des 8. Senats zur Lohnsteuerhaftung (vgl. Beschluss vom 10. Dezember 2018 8 V 2592/18, Seite 95 der entsprechenden AdV-Akte) des Klägers allerdings wenig spricht, weil das Gericht, dessen Erwägungen sich das FA im Ergebnis angeschlossen hat (vgl. Schriftsatz vom 17. Februar 2022), davon ausgegangen ist, dass die Prostituierten eher als Unternehmer einzuordnen sind. Aber auch wenn man von einer selbständigen Tätigkeit der Prostituierten ausgeht, ändert dies nichts daran, dass diese Leistungen an den Kläger erbracht worden sind und er diese wiederum an die Freier geleistet hat (vgl. BFH-Urteil vom 11. November 2015 V R 3/15, BFH/NV 2016, 795).
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Der Kläger hat als Inhaber des jeweiligen Clubs mit seinem Internetauftritt, trotz des Hinweises, dass die Damen selbständig tätig seien, den Eindruck erweckt, selbst Anbieter der sexuellen Dienstleistungen zu sein, indem er unter Einstellung von Fotos der unter Künstlernamen tätigen Prostituierten mit „unsere P-Girls“ und „unsere S-Girls“ geworben hat. Er hat auch unter dem Namen und der Telefonnummer des jeweiligen Clubs im Internet geworben. Zudem ist keine Kontaktmöglichkeit zu den einzelnen Prostituierten etwa mit deren eigenen Telefonnummern oder Adressen beworben und angeführt worden und das jeweilige Impressum auf der Internetseite deutet eindeutig auf den Kläger als Inhaber der Bordelle hin.
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Die Anwesenheit der einzelnen Dame musste unter Berücksichtigung der Öffnungszeiten im Club telefonisch erfragt werden (vgl. Internetauftritt Sunshine, RB-Akte, Bl. 10). Außerdem hat der Kläger die Prostituierten auch im Internet mit „werde ein S-Girl“ bzw. „werde ein P-Girl“ für seine Clubs angeworben.
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Vom jeweiligen Club wurde neben den Räumlichkeiten wie Kontaktraum, Bar, Sauna usw. auch - mit Ausnahme der persönlichen Utensilien wie Kleidung, Schminke, Präservative - die zur Ausübung der Prostitution erforderliche Ausstattung wie Zimmer, Bettwäsche und Handtücher usw. zur Verfügung gestellt. Der Kunde musste daher - unabhängig davon, ob ihm die sexuellen Dienstleistungen von einer Prostituierten im Club oder von einer auf der Straße vor dem Club (P) angeboten wurden - durch diese Gestaltung der Räumlichkeiten davon ausgehen, dass der jeweilige Club auch für die sexuellen Dienstleistungen sein Vertragspartner sein solle.
48
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass am Empfang des Clubs ein Mann stand, der dem Gast den Ablauf erklärt und mitgeteilt hat, welche Leistung für welchen Betrag aufzuwenden war. All diese Umstände lassen nur den Schluss zu, dass die Clubs durch Organisationsleistungen und durch das Auftreten nach außen selbst die Prostitutionsleistungen angeboten und erbracht haben. Dass es sich bei den Prostitutionsumsätzen dabei um höchstpersönliche Leistungen handelt, spielt keine Rolle (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2019, 127). Auch wenn die „Buchung“ und Entlohnung direkt mit bzw. an die Prostituierte erfolgt ist, sprechen die übrigen äußeren Umstände aus Sicht des Freiers eindeutig dafür, dass der die Clubs betreibende Kläger der Unternehmer war.
49
Der Zurechnung der sexuellen Dienstleistungen zum Unternehmen steht auch nicht entgegen, dass die Prostituierten selbst ebenfalls Clubeintritt zahlen mussten, denn für die Zurechnung kommt es lediglich auf das Außenverhältnis an (vgl. BFH-Beschluss vom 29. Januar 2008 V B 201/06, BFH/NV 2008, 827).
50
Die streitgegenständlichen Prostitutionsleistungen wurden daher durch den Kläger erbracht, der nicht nur ein bloßer Namensgeber, sondern derjenige war, der nach Außen gegenüber den Kunden, aber auch gegenüber den Behörden als Leistungserbringer aufgetreten ist.
51
2. Die Schätzungen dieser Leistungen des FA sind dem Grunde nach auch nicht zu beanstanden.
52
a) Soweit die Finanzbehörde oder das FG die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen können, haben sie sie zu schätzen. Dabei sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind (§ 162 Abs. 1 AO i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
53
Zu schätzen ist insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag oder weitere Auskunft verweigert (§ 90 Abs. 2 Satz 1 AO). Eine Schätzungsbefugnis besteht unter anderem auch dann, wenn der Steuerpflichtige keine Steuererklärungen abgibt (vgl. Buciek in Beermann/Gosch, AO und FGO, § 162 AO Rz. 36 m.w.N.).
54
Nach § 162 Abs. 2 Satz 2 AO gilt das Gleiche u.a., wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann oder wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen, die der Steuerpflichtige zu führen hat, nicht nach § 158 AO der Besteuerung zugrunde gelegt werden können.
55
Gem. § 158 AO sind die Buchführung und die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen dann der Besteuerung zu Grunde zu legen, wenn sie den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO entsprechen, soweit nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlass besteht, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden.
56
Der Kläger hat nach den Feststellungen des FA und des Amtsgerichts, denen das Gericht folgt, in den abgegebenen Umsatzsteuerjahreserklärungen bzw. Umsatzsteuervoranmeldungen nur die Umsätze aus Getränkeverkauf, Eintrittsgeldern und Mieteinnahmen (unvollständig) erklärt (vgl. Bl. 54 ErmAkte: Steufa, Urteil des Amtsgerichts, Seite 12).
57
Das Finanzamt war daher auch befugt, die Prostitutionsumsätze dem Grunde nach zu schätzen. Allerdings hat sich das FA bei der Höhe der zugeschätzten Prostitutionsumsätze zu Unrecht allein auf die Angaben des Ermittlungsbericht des Fahndungsprüfers vom 29. Juli 2015 gestützt, die das Amtsgericht in seinem Urteil vom 16. November 2017 in wesentlichen Punkten als nicht maßgebend eingeordnet und verworfen hat.
58
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH müssen die im Wege der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen nach § 162 Abs. 2 Satz 1 AO gewonnen Schätzungsergebnisse schlüssig sein (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 20. März 2017 X R 11/16, BStBl II 2017, 992).
59
b) Im Streitfall ist das zahlenmäßige Ergebnis der Schätzung, insbesondere die Grundlage in der Höhe des angenommenen Monatslohns von … EUR der jeweiligen Prostituierten, wie das Amtsgericht München in seinem Urteil zutreffend festgestellt hat, nicht nachvollziehbar.
60
Es hat hierzu ausgeführt (vgl. Bl. 271, Rb Vorgang), dass die einzelnen Basisdaten zu den durchschnittlich am Tag in den Betrieben tätigen Prostituierten und deren Umsatz aus der Schätzung des Fahndungsprüfers nicht übernommen werden können, da dieser sein Zahlenwerk bei seiner Zeugeneinvernahme nicht oder nicht nachvollziehbar habe erklären können. Insbesondere beruhe der von ihm gewählte Ansatz eines Tagesumsatzes von … EUR pro Prostituierte nach Abzug der an den Betreiber zu entrichtenden Abgaben nicht auf konkreten Feststellungen.
61
Aufgrund der nicht nachvollziehbaren Schätzung macht das Gericht von seiner eigenen Schätzungsbefugnis (§ 96 Abs. 1 FGO i.V. m. § 162 AO) Gebrauch und folgt im Wesentlichen den getroffenen Feststellungen des Amtsgerichts, das aufgrund einer umfangreichen Beweisaufnahme zu seinen im Urteil ausgeführten Erkenntnissen gekommen ist.
62
Der erkennende Senat folgt den überzeugenden Ausführungen des Amtsgerichts und macht sich diese zu eigen, soweit es darum geht, wie viele Prostituierte in den Streitjahren durchschnittlich im P und im S Leistungen an den Kläger erbracht haben und welcher Durchschnittspreis hierfür zu Grunde zu legen ist.
63
Außerdem geht der Senat in Übereinstimmung mit dem Fahndungsprüfer und dem Amtsgericht davon aus, dass in den Streitjahren im P … EUR und im S … EUR als Eintritt von den Freiern zu entrichten waren.
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Hinsichtlich der vom Amtsgericht in seinem Urteil nicht detailliert berechneten Prostituiertenumsätze geht der Senat aufgrund dessen umfangreicher Beweisaufnahme und den vernommenen Zeuginnen davon aus, dass der durchschnittliche Tagessatz einer Prostituierten vor Abzug der Zimmermiete … EUR betrug (vgl. Urteil des Amtsgerichts, Seite 23).
65
c) Im Übrigen schließt sich der Senat auch den weiteren Feststellungen des Amtsgerichts auf Seite 19 des Urteils hinsichtlich der Anzahl der beschäftigten Prostituierten und der von diesen im Durchschnitt bedienten Kunden an.
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Soweit das FA in seinem Schriftsatz vom 8. April 2022 von einer weit höheren Anzahl an Prostituierten ausgeht, vermag dem der Senat nicht zu folgen. Das Amtsgericht hat hierzu auf Seite 17 seines Urteils überzeugend ausgeführt, dass die vom Fahndungsprüfer angegeben Zahlen nicht nachvollziehbar seien und daher nicht zu Grunde gelegt werden konnten. Die nunmehr vom FA vorgebrachten Zahlen beruhen gleichfalls nicht auf neuerlichen Ermittlungen, sondern sind bloße Vermutungen, die durch keine weiteren Erkenntnisse belegt werden konnten.
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Von einer weiteren Hinzurechnung von Mieteinnahmen hat der Senat abgesehen, weil dem Kläger bereits die gesamten Bordellumsätze zugerechnet worden sind, die die geleisteten Mietzahlungen der Prostituierten umfassen. Auch zur Schätzung eines Getränkeumsatzes besteht keine Möglichkeit, weil das FA hierzu während seiner Prüfung keine Feststellungen getroffen hat. Es gibt insbesondere kein Anhaltspunkt dafür, wie oft Getränke geordert worden sind bzw. in welcher Größenordnung dies erfolgte.
68
Das Amtsgericht hat hierzu einleuchtend ausgeführt, ein schätzungsweiser Ansatz sei nicht möglich, insbesondere weil es an Lieferantenrechnungen und der Durchführung einer Ausbeutekalkulation bzw. einer Schätzung anhand der amtlichen Richtsatzsammlung fehle.
69
Auch der erkennende Senat sieht für eine Schätzung der Getränkeumsätze keine Handhabe, weil alle denkbaren Ausgangsparameter nicht zur Verfügung stehen. Soweit das FA in seinem Schriftsatz vom 8. April 2022 von einem Getränkeumsatz von 60 EUR pro Kunden ausgeht, vermag das Gericht eine solche Behauptung, die sieben Jahre nach Erstellung des Ermittlungsberichts erfolgt, nicht nachzuvollziehen. Es ist naheliegend, dass auch Getränke in einem bestimmten Umfang von den Freiern verköstigt worden sind. Das FA hat sich aber bei seinen Ermittlungen ausschließlich auf die Prostituiertenumsätze konzentriert und dem Kläger nicht vorgeworfen, dass er den Getränkeumsatz nicht oder nicht vollständig erklärt habe. Daher besteht weder ein Anhaltspunkt dafür, dass der Getränkeumsatz zu niedrig erklärt worden ist, noch dafür, in welcher Höhe die verkauften Getränke in die Erklärungen des Klägers eingegangen sind. Der diesbezügliche Vortrag des FA eines Getränkeumsatzes von 60 EUR pro Kunde entbehrt daher jeder Grundlage.
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d) Es verbleibt somit bei einer Schätzung des Gesamtumsatzes unter Einbeziehung der Prostituiertenumsätze und der von den Kunden erhaltenen Eintrittspreise.
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Die vom Amtsgericht ermittelten Zahlen bilden dabei die Schätzungsgrundlage für den Senat, der zusätzlich davon ausgeht, dass die im Jahr 2013 geschätzten Umsätze auch für die ersten beiden Monate im Jahr 2014 maßgebend sind. Der Kläger hat hierzu keine substantiierten Einwendungen vorgebracht, die einer Übernahme der Zahlen aus dem Jahr 2013 für die ersten Monate im Jahr 2014 entgegenstehen könnten. Danach berechnen sich die Umsätze des Klägers unter Einbeziehung der Prostituiertenumsätze jeweils wie folgt..(Berechnungen des FG folgen)
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Neben den geschätzten und unstreitig nicht erklärten Prostitutionsumsätzen, sind für eine zutreffende Schätzung des Gesamtumsatzes noch die vom Amtsgericht ermittelten Eintrittsgelder der Kunden hinzuzurechnen (vgl. Urteil des Amtsgerichts auf Seite 19).
73
Das ergibt einen Gesamtumsatz (brutto) in Höhe von…(Berechnung folgt).
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Daraus ergibt sich für den Kläger eine Herabsetzung der Steuer für die Jahre 2010 und 2013 bzw. 2014. Hinsichtlich der Streitjahre 2011 und 2012 ist die Steuerfestsetzung des FA nicht zu beanstanden.
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3. Ein Vorsteuerabzug aus den Prostituiertenumsätzen kommt nicht in Betracht, weil über die Umsätze keine Rechnungen geschrieben worden sind, die dokumentieren könnten, in welcher Höhe Umsätze getätigt wurden bzw. ob die leistenden Prostituierten tatsächlich zum Ausweis der Umsatzsteuer berechtigt waren.
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Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG ist Voraussetzung für den Vorsteuerabzug, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt (vgl. BFH-Beschlüsse vom 16. Mai 2019 XI B 13/19, BStBl II 2021, 950, vom 18. Mai 2020 XI B 105/19, BFH/NV 2020, 1097, BFH-Urteile vom 10. Juli 2019 XI R 28/18, BFH/NV 2020, 313; vom 15. Oktober 2019 V R 29/19 (V R 44/16), BFH/NV 2020, 298; vom 15. Oktober 2019 V R 14/18, BStBl II 2020, 596).
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Nach der EuGH-Rechtsprechung legt Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL) zu den Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug, die formalen Bedingungen gleichstehen, fest, dass der Steuerpflichtige eine gemäß den Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 MwStSystRL ausgestellte Rechnung besitzen muss (EuGH-Urteile vom 11. November 2021 C-281/20, Ferimet, UR 2022, 65; vom 15. September 2016 C-518/14, Senatex, UR 2016, 800).
78
Das Recht auf Vorsteuerabzug ist grundsätzlich für den Zeitraum auszuüben, in dem zum einen dieses Recht entstanden ist und zum anderen der Steuerpflichtige im Besitz einer Rechnung ist (EuGH-Urteil vom 29. April 2004 C-152/02, Terra Baubedarf-Handel, UR 2004, 323, Rn 34; vgl. hierzu auch BFH-Beschluss vom 16. Mai 2019 XI B 13/19, BStBl II 2021, 950).
79
Zwar hat der EuGH die Erfüllung der Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Rechnung dahingehend eingeschränkt, dass das Grundprinzip der Mehrwertsteuerneutralität verlangt, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Voraussetzungen nicht genügt hat (EuGH-Urteile vom 21. November 2018 C-664/16, Vadan, UR 2018, 962; vom 15. September 2016 C-516/14, Barlis 06, UR 2016, 795). Diese Einschränkungen betrafen jedoch jeweils die formellen Anforderungen der Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 MwStSystRL an den Inhalt einer Rechnung, nicht hingegen die sich unmittelbar aus Art. 178 Buchst. a MwStSystRL ergebende Voraussetzung, dass der Steuerpflichtige im Besitz einer Rechnung sein muss (vgl. auch FG Münster, Gerichtsbescheid vom 23. März 2022 5 K 2093/20 U, juris).
80
Der EuGH hat zudem im Urteil Vadan (C-664/18, DStR 2018, 2524) festgestellt, dass nationale Gerichte bei - bereits von Anfang an - fehlenden Rechnungen nicht verpflichtet sind, Schätzungen auf der Grundlage von Sachverständigengutachten durchzuführen. Er bezieht sich ausdrücklich auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der gewahrt sei, wenn der Steuerpflichtige den Vorsteuerabzug für den Erklärungszeitraum vorzunehmen hat, in dem sowohl die Voraussetzung des Besitzes einer Rechnung oder eines als Rechnung zu betrachtenden Dokuments als auch die der Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts erfüllt sind. Soweit der EuGH ausführt, dass die strikte Anwendung des formellen Erfordernisses, Rechnungen vorzulegen, gegen die Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit verstößt, da dadurch dem Steuerpflichtigen auf unverhältnismäßige Weise die steuerliche Neutralität seiner Umsätze verwehrt würde, ergibt sich hieraus unter Berücksichtigung seiner weiteren Rechtsprechung nur, dass zunächst fehlerhaft erteilte Rechnungen mit Rückwirkung berichtigt oder unter Berücksichtigung weiterer Umstände ergänzt werden können (vgl. BFH-Beschluss vom 16. Mai 2019 XI B 13/19, a.a.O.).
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Die Frage, ob in extremen Ausnahmefällen ein Vorsteuerabzug auch ohne Rechnung gewährt werden kann, weil zweifelsfrei alle materiellen Voraussetzungen vorliegen und die Verweigerung des Vorsteuerabzugs als bloße Förmelei anzusehen wäre, stellt sich im Streitfall bereits deswegen nicht, weil hier - neben den geschätzten Eingangsumsätzen an den Kläger durch die Prostituierten - auch völlig unklar ist, ob die leistenden Unternehmerinnen zur Ausweisung von Umsatzsteuer berechtigt waren oder ob es sich etwa um (eine Vielzahl von) Kleinunternehmerinnen gehandelt hat. Unter diesen Umständen kommt ein Vorsteuerabzug aus den Leistungen der Prostituierten ohne Eingangsrechnung jedenfalls nicht in Betracht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 FGO vorliegt.