Inhalt

BayObLG, Urteil v. 07.10.2022 – 202 StRR 81/22
Titel:

Bestrafung wegen unerlaubten Aufenthalts außerhalb eines laufenden Rückführungsverfahrens

Normenketten:
AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3
AsylG § 34a Abs. 1, § 55 Abs. 1 S. 1, § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 5
StGB § 43
StPO § 335
Leitsatz:
Die Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98 -107) steht einer Bestrafung wegen unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nur dann entgegen, wenn im Zeitpunkt der strafgerichtlichen Entscheidung ein Rückführungsverfahren anhängig ist, nicht aber, wenn sich der Ausländer mittlerweile rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. (Rn. 13 – 14)
Schlagworte:
Revision, Sprungrevision, Sachrüge, Revisionsbeschränkung, Staatsanwaltschaft, Schuldspruch, Rechtsfolgenausspruch, Geldstrafe, Ersatzfreiheitsstrafe, Drittausländer, Aufenthalt, unerlaubt, Rückführungsrichtlinie, Überstellung, Überstellungsfrist, Mitgliedstaat, Drittstaat, Drittstaatsangehöriger, Elfenbeinküste, Türkei, Frankreich, Deutschland, Einreise, Ankunftsnachweis, Asylantrag, Asylverfahren, Gestattung, Gestattungswirkung, Aufenthaltsgestattung, Erlöschen, Bundesamt, BAMF, Abschiebung, Abschiebungsanordnung, Rückführung, Flughafen, Verfügungsverfahren, Zuständigkeit, Dublin-III-VO, Ablehnung, Bescheid, Bekanntgabe, Zustellung, Vollziehbarkeit, aufschiebende Wirkung, Zeitablauf, Zuständigkeitsübergang, Erledigung, Auslegung, europarechtskonform, Sanktion, Freiheitsentziehung, Verfahrensverzögerung, Legalitätsprinzip, Gemeinschaftsrecht, Anwendungsvorrang, unerlaubter Aufenthalt, Bestrafung, europarechtskonforme Auslegung
Fundstellen:
LSK 2022, 28615
NStZ-RR 2023, 27
BeckRS 2022, 28615

Tenor

I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts vom 15.02.2022 aufgehoben, soweit von der Verhängung einer Rechtsfolge abgesehen wurde.
II. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 15.02.2022 wegen unerlaubten Aufenthalts schuldig gesprochen, von der Verhängung einer Strafe jedoch abgesehen. Mit ihrer auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Revision rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts.
II.
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Das Amtsgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
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Der Angeklagte verließ im Jahr 2019 die Elfenbeinküste und gelangte über die Türkei nach Frankreich. Am 18.03.2019 reiste er von Frankreich in das Bundesgebiet ein und stellte am 25.03.2019 einen Asylantrag, woraufhin ihm für den Zeitraum vom 25.03.2019 bis 25.06.2019 eine „Aufenthaltsgestattung erteilt wurde“. Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden ‚BAMF‘ genannt) Frankreich zur Übernahme des Angeklagten zum Zwecke der Durchführung des Asylverfahrens ersucht hatte, lehnte es mit Bescheid vom 28.05.2019 den Asylantrag des Angeklagten als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Frankreich an. Der Bescheid wurde dem Angeklagten am 29.05.2019 zugestellt. Am 05.11.2019 wurde der Angeklagte zur Durchführung der Rückführung nach Frankreich zum Flughafen verbracht. Die Rückführung musste jedoch abgebrochen werden, weil sich der Angeklagte weigerte, in das Flugzeug zu steigen. Am 03.01.2020 wurde dem Angeklagten eine „Aufenthaltsgestattung erteilt“, die seither regelmäßig verlängert wird.
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Das Amtsgericht geht davon aus, dass die Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 vom 24.12.2008, S. 98 -107 - im Folgenden ‚Rückführungsrichtlinie‘ genannt) der Verhängung einer Strafe entgegenstehe.
III.
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Die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Sprungrevision (§ 335 StPO) der Staatsanwaltschaft hat aufgrund der Sachrüge Erfolg. Das Amtsgericht hat trotz Schuldspruchs wegen unerlaubten Aufenthalts gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu Unrecht von der Verhängung einer Strafe in entsprechender Anwendung des § 60 StGB abgesehen.
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1. Die Beschränkung der Revision auf den Rechtsfolgenausspruch ist wirksam.
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a) Die Wirksamkeit der Beschränkung des Rechtsmittels auf den Rechtsfolgenausspruch ist davon abhängig, ob die Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils eine hinreichende Grundlage für die Rechtsfolgenentscheidung bilden. Dies ist nur dann zu verneinen, wenn die Urteilsfeststellungen zum Schuldspruch so weitgehende Lücken aufweisen, dass sich Art und Umfang der Schuld nicht in dem zur Überprüfung des Strafausspruchs notwendigen Maße bestimmen lassen. Hiervon ist auszugehen, wenn die Tatsachenfeststellungen im Ersturteil unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder so dürftig sind, dass sie den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat nicht erkennen lassen. Gleiches gilt, wenn die Feststellungen zum nicht angefochtenen Schuldspruch überhaupt keine Verurteilung zulassen, nach den getroffenen Feststellungen des tatrichterlichen Urteils also offenbleibt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat (vgl. nur BayObLG, Beschluss vom 18.03.2021 - 202 StRR 19/21; 01.02.2021 - 202 StRR 10/21, jew. bei juris m.w.N.).
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b) Derartige Ausnahmekonstellationen liegen hier nicht vor. Insbesondere ergibt sich nach den Urteilsfeststellungen eindeutig, dass sich der Angeklagte des unerlaubten Aufenthalts schuldig gemacht hat, nachdem sein Asylantrag mangels Zuständigkeit der Bundesrepublik für die Durchführung des Verfügungsverfahrens gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG i.V.m. der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (im Folgenden „Dublin-III-VO“ genannt) mit Bescheid vom 28.05.2019, der dem Angeklagten am 29.05.2019 zugestellt wurde, als unzulässig abgelehnt wurde und gleichzeitig eine Abschiebungsanordnung gegen ihn erging.
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aa) Die mit dem Asylantrag bzw. Asylgesuch des Angeklagten kraft Gesetzes (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG) - im zweiten Fall ab Ausstellung des Ankunftsnachweises gemäß § 63a Abs. 1 AsylG - entstandene gesetzliche Aufenthaltsgestattung (vgl. nur BeckOK-AuslR/Neundorf [34. Ed. - Stand: 01.07.2020] AsylG § 55 Rn. 1; Huber/Mantel AufenthG/Amir-Haeri 3. Aufl. 2021 AsylG § 55 Rn. 1) erlosch nach § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt., Satz 2 AsylG, in dem Zeitpunkt, zu dem die mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.05.2019 ausgesprochene Abschiebungsanordnung vollziehbar wurde. Da einer etwaigen Klage gegen die Abschiebungsanordnung gemäß § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung zukommt (BeckOK-AuslR/Pietzsch [34. Ed. - Stand: 01.01.2022] AsylG § 34a Rn. 30), trat die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung mit der Bekanntgabe des Bescheids (§ 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG), mithin am 29.05.2019 ein, sodass ab diesem Zeitpunkt der Aufenthalt des Angeklagten unerlaubt war.
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bb) Der Aufenthalt des Angeklagten im Bundesgebiet war in der Folge zunächst weiter unerlaubt bis zum Ablauf der 6-monatigen Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin-III-VO, weil nach dieser Vorschrift aufgrund des Zeitablaufs die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf die Bundesrepublik Deutschland überging, sodass mit diesem Zeitpunkt die Gestattungswirkung des § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG und damit das hieraus resultierende Aufenthaltsrecht wieder in Kraft traten. Die mit Bescheid vom 28.05.2019 ausgesprochene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig - verbunden mit der Abschiebungsanordnung - gründete sich allein auf die fehlende Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland, beinhaltete also keine Entscheidung in der Sache, sodass der Bescheid aufgrund der mittlerweile eingetretenen Zuständigkeit seine Erledigung fand.
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c) Soweit die Verteidigung die Auffassung vertritt, aus dem Vorrang des Rückführungsverfahrens, der aus der Rückführungsrichtlinie folgt, ergebe sich eine „Straflosigkeit“ des Angeklagten, sodass schon deswegen die Beschränkung der Revision auf den Rechtsfolgenausspruch nicht wirksam sei, trifft dies nicht zu. Denn selbst wenn ein Anwendungsvorrang der Rückführungsrichtlinie bestünde, was allerdings, wie noch auszuführen ist, nicht zutrifft, würde dies nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung einen Schuldspruch gerade nicht ausschließen, sondern lediglich dazu führen, dass keine Strafe verhängt werden dürfte (vgl. BGH, Urt. v. 24.06.2020 - 5 StR 671/19 = NSW StGB § 244 = NSW AufenthG § 95 = NJW 2020, 2816 = InfAuslR 2020, 415 = StraFo 2020, 428 = NStZ 2020, 679).
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2. In der Sache hat sich das Amtsgericht zu Unrecht an der Verhängung einer Strafe gehindert gesehen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urt. v. 06.12.2011, C-329/11 = EuGRZ 2011, 687 = InfAuslR 2012, 77), auf die das Amtsgericht maßgeblich abstellt und die auch von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aufgegriffen wird (BGH a.a.O.), steht der Verhängung einer Strafe nicht entgegen.
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a) Zwar hat das Amtsgericht im Ansatz zutreffend erkannt, dass der Straftatbestand des unerlaubten Aufenthalts (§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Vorrang des Rückführungsverfahrens gemäß der Rückführungsrichtlinie europarechtskonform auszulegen ist (vgl. nur EuGH [Große Kammer], Urt. v. 07.06.2016, C-47/15 [„Affum“] = ABl EU 2016, Nr C 296, 11 = Asylmagazin 2016, 238 = InfAuslR 2016, 269 = ZAR 2016, 344 = EzAR-NF 57 Nr. 52; 06.12.2011, C-329/11 [„Achughbabian“] = Slg 2011, I-12695-12734 = EuGRZ 2011, 687 = InfAuslR 2012, 77 = EzAR-NF 52 Nr. 6]; 19.03.2019 - C-444/17 [„Arib“] = Asylmagazin 2019, 198 = InfAuslR 2019, 220 = NVwZ 2019, 947 = ZAR 2019, 382 = EzAR-NF 20 Nr. 6). Um den Vorrang des Rückführungsverfahrens auch praktisch wirksam zu sichern, sollen gegen Drittstaatsangehörige, die sich illegal in einem Mitgliedsstaat aufhalten, für diesen illegalen Aufenthalt keine freiheitsentziehenden Sanktionen verhängt und vollstreckt werden, weil diese geeignet sind, das Rückführungsverfahren zu verzögern (EuGH [Große Kammer] „Achughbabian“, a.a.O. Rz. 50; „Affum“ a.a.O. Rz. 52, 63). Diesen Vorgaben folgend, hat der Bundesgerichtshof judiziert, dass in solchen Fällen die Rückführungsrichtlinie zwar einem Schuldspruch nicht entgegensteht, aber von Strafe abzusehen ist (BGH, Urt. v. 24.06.2020 - 5 StR 671/19 a.a.O.). Da das deutsche Recht bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe regelmäßig die Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe vorsieht (§ 43 StGB), ergibt die richtlinienkonforme Auslegung von § 95 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 AufenthG, dass gegen illegal einreisende und hier aufhältige Drittausländer wegen dieser Straftaten weder Freiheits- noch Ersatzfreiheitsstrafen verhängt oder vollstreckt werden dürfen, sofern ein Rückführungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist (BGH a.a.O.).
14
b) Zu Unrecht ist aber das Amtsgericht davon ausgegangen, dass diese Grundsätze auch im vorliegenden Fall Anwendung finden. Dabei hat das Amtsgericht verkannt, dass es bei der Frage des illegalen Aufenthalts, auf den die zitierte Rechtsprechung bei der Auslegung der Rückführungsrichtlinie abstellt, keineswegs auf den Zeitpunkt des Verstoßes ankommt, sondern allein auf den Zeitpunkt der strafgerichtlichen Entscheidung. Der Europäische Gerichtshof begründet den Anwendungsvorrang der Rückführungsrichtlinie gegenüber innerstaatlichen Strafvorschriften, die den unerlaubten Aufenthalt sanktionieren, explizit damit, dass es durch die Verhängung und Vollstreckung freiheitsentziehender Maßnahmen zu einer mit der Rückführungsrichtlinie nicht vereinbaren Verzögerung des Rückführungsverfahrens kommen kann. Wenn aber, wie hier, im Zeitpunkt der strafgerichtlichen Entscheidung der Aufenthalt des Ausländers gar nicht mehr unerlaubt ist, gibt es schon kein Rückführungsverfahren (mehr), das durch die mögliche Vollstreckung von Freiheits- bzw. Ersatzfreiheitsstrafen verzögert werden könnte (vgl. auch BGH, Urt. v. 10.02.2022 - 1 StR 437/21 = StV 2022, 642, wo ausdrücklich hervorgehoben wird, dass es auf ein laufendes Rückführungsverfahren ankommt). Eine Einschränkung des Legalitätsprinzips aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts, hier der Rückführungsrichtlinie, ist damit nicht mehr gerechtfertigt.
IV.
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Wegen des aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mangels ist das Urteil des Amtsgerichts im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO). Die zugehörigen Feststellungen werden von den aufgezeigten Wertungsfehlern nicht berührt, sodass sie gemäß § 353 Abs. 2 StPO bestehen bleiben können. Weitergehende Feststellungen, die den bislang getroffenen nicht widersprechen, sind möglich.