Titel:
unzulässiger Asylantrag bei vorheriger Schutzzuerkennung in Italien, Gefahr der unmenschlichen Behandlung in Italien bei Abstellen auf gesamte Kernfamilie mit zwei kleinen Kindern
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GrCh Art. 4
EMRK Art. 3
Schlagworte:
unzulässiger Asylantrag bei vorheriger Schutzzuerkennung in Italien, Gefahr der unmenschlichen Behandlung in Italien bei Abstellen auf gesamte Kernfamilie mit zwei kleinen Kindern
Fundstelle:
BeckRS 2022, 28395
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2021 wird mit Ausnahme der in Satz 4 der Ziffer 3 getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht nach Somalia abgeschoben werden darf, aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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1. Der Kläger, somalischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben im Dezember 2020 erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 17. Februar 2021 einen weiteren Asylantrag. Seine persönliche Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erfolgte am 22. Februar 2021. Auf die dabei gemachten Angaben des Klägers wird Bezug genommen.
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Ausweislich der Eurodac-Datenbank hatte der Kläger zuvor bereits im Juni 2011 in Italien, im März 2014 in Schweden, im Februar 2016 erstmals in der Bundesrepublik Deutschland sowie im Oktober 2016 in Malta Asylanträge gestellt. Ausweislich eines Schreibens des Innenministeriums Italiens vom 31. März 2016 war dem Kläger in Italien bereits subsidiärer Schutz zuerkannt worden und ein Aufenthaltstitel, gültig bis 16. Mai 2015, ausgestellt worden.
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Mit Bescheid vom 15. März 2021 lehnte das Bundesamt den weiteren Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Ziffer 2). Gemäß Ziffer 3 wurde der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Sollte der Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er nach Italien abgeschoben. Der Kläger könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe und der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Der Kläger dürfe nicht nach Somalia abgeschoben werden (Ziffer 3, Satz 4). Das Einreise und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Ziffer 5). Wegen der Begründung wird auf den vorgenannten Bescheid Bezug genommen. In der dem Bescheid beigefügten Rechtsbehelfsbelehrungwar angegeben, dass gegen den Bescheid innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung Klage beim Verwaltungsgericht Würzburg erhoben werden könnte. Der Bescheid ging ausweislich der Behördenakten am 22. März 2021 bei der Aufnahmeeinrichtung ein und wurde dem Kläger dort am 23. März 2021 ausgehändigt.
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2. Am 24. März 2021 erhob der Kläger zur Niederschrift des Urkundsbeamten gegen den vorgenannten Bescheid des Bundesamts Klage und beantragt,
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2021 wird aufgehoben;
hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Italien vorliegen;
hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet, die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu verkürzen.
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Wegen der Begründung wurde zunächst auf die Angaben des Klägers beim Bundesamt Bezug genommen. Ergänzend wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass seine Ehefrau, mit der er seit Dezember 2014 nach muslimischen Ritus verheiratet sei, und die beiden gemeinsamen Kinder hier in Deutschland lebten. Stelle man auf die gelebte Kernfamilie ab, sei die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig rechtswidrig, da dem Kläger dann in Italien eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK drohe.
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3. Mit Schriftsatz des Bundesamts vom 31. März 2021 beantragte die Beklagte,
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Wegen der Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
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4. Mit Beschluss vom 5. Mai 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter übertragen.
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Die nach eigenen Angaben bereits im Dezember 2014 religiös angetraute Ehefrau des Klägers und die am 27. September 2015 in Mogadischu geborene gemeinsame Tochter sowie der am 28. August 2019 im Bundesgebiet geborene gemeinsame Sohn sind im Besitz von Aufenthaltstiteln nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Der Ehefrau und der Tochter des Klägers wurde bereits mit Bescheid des Bundesamts vom 28. Januar 2019 bestandskräftig die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Bundesamts- und Ausländerakten sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte im vorliegenden Fall über die Klage entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten bei der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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1. Die Klage ist größtenteils zulässig.
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Statthafte Klageart hinsichtlich der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung und unter Berücksichtigung der gesetzlichen Regelungssystematik, wie sie etwa in § 37 Abs. 1 AsylG zum Ausdruck kommt, die (isolierte) Anfechtungsklage (vgl. hierzu etwa BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4.16 - juris Rn. 16 ff.).
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Unzulässig ist die Klage jedoch hinsichtlich des klägerischen Hauptantrags, soweit er sich auf Ziffer 3, Satz 4 des streitgegenständlichen Bescheids bezieht, da diese Feststellung für den Kläger lediglich rechtlich vorteilhaft ist und damit eine Klagebefugnis des Klägers mangels Rechtsverletzung nicht ersichtlich ist.
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2. Soweit die Klage zulässig ist, ist sie auch begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2021 ist zum hier maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) mit Ausnahme der Ziffer 3, Satz 4, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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2.1. Die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG war aufzuheben, weil unter Berücksichtigung der aktuellen Aufnahmebedingungen in Italien, der persönlichen Umstände des Klägers und des Umstandes, dass im Falle des Klägers hinsichtlich der anzustellenden Rückkehrprognose auf die gesamte Familie des Klägers, die zwei Kleinkinder mitumfasst, abzustellen ist, davon auszugehen ist, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
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2.1.1. Bei der Prüfung, ob Italien hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzberechtigten gegen Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK verstößt, ist jedoch ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 - juris; OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018 - 10 LB 201/18 - BeckRS 2018, 33662; U.v. 29.1.2018 - 10 LB 82/17 - juris Rn. 28). Denn Italien unterliegt als Mitgliedstaat der Europäischen Union deren Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verpflichtet. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden. Daraus hat der Europäische Gerichtshof die Vermutung abgeleitet, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. hierzu aus jüngerer Zeit etwa EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. juris Rn. 83 f.).
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Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung dieser Vermutung hat der Europäische Gerichtshof aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU), die Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) oder die Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) genügt, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu hindern. Denn Mängel des Asylsystems können nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen.
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Diese Schwelle ist nach der Rechtsprechung des EuGH im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 3 GrCh) erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn.89 ff.; aus der Rechtsprechung des EGMR siehe etwa EGMR, U.v. 4.11.2014 - 29217/12 - NVwZ 2015, 127 ff.).
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Selbst große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse erreichen diese Schwelle nicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 89 ff.). Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie genügen hierfür - wie bereits erwähnt - nicht (EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 92). Auch der Umstand, dass der Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Asylantragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 GrCh verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Schutzberechtigte aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 93).
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Ist dagegen ernsthaft zu befürchten, dass die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bzw. anerkannte Schutzberechtigte im zuständigen Mitgliedstaat derartige Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Personen im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK zur Folge haben, ist eine Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 87; BVerwG, B.v. 19.3.2014 -10 B 6.14 - juris Rn. 6).
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Hinsichtlich der Gefahrenprognose ist im Rahmen des Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK auf den Maßstab des „real risk“ der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzustellen (vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, S. 1330 Rn. 129; BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 32); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m.w.N. stRspr).
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Der Tatrichter muss sich unter Berücksichtigung des Untersuchungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) somit zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GrCh sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylsystems oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m.w.N.) einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
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Das erfordert eine aktuelle Gesamtwürdigung der zur jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen, wobei regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (BVerfG, B.v. 21.4.2016 - 2 BvR 273/16 - juris Rn. 11; vgl. auch EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - juris Rn. 90 f.). Das gilt insbesondere für die Stellungnahmen des UNHCR angesichts der Rolle, die diesem in Hinblick auf die Überwachung der Einhaltung der GFK (vgl. dort Art. 35) übertragen worden ist (vgl. EuGH, U.v. 30.5.2013 - C-528/11 - juris Rn. 44).
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2.1.2. Vorliegend gilt es zudem zu berücksichtigen, dass es sich beim Kläger mit seinen beiden Kleinkindern und seiner Ehefrau um eine in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie handelt, die somit aus Rechtsgründen (vgl. Art. 7 GrCh bzw. Art. 6 GG, jeweils in Verbindung mit Art. 8 EMRK) auch nur zusammen nach Italien abgeschoben werden können.
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Von einer gelebten Kernfamilie in diesem Sinne ist nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamteindruck auszugehen.
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So haben sowohl der Kläger als auch seine Ehefrau von Anfang an angegeben, miteinander verheiratet zu sein. Der Kläger stellte klar, dass die offizielle Heirat 2014 stattfand (vgl. S. 4 der Niederschrift der Anhörung zur Zulässigkeit). Auch dass der Kläger und seine Ehefrau eine im September 2015 in Somalia geborene Tochter haben, wurde stets übereinstimmend angegeben. Sowohl das Landratsamt Freyung-Grafenau als auch die Regierung von Niederbayern gehen insoweit mittlerweile von einer wirksamen Ehe aus (vgl. S. 2 des Bescheids der Regierung von Niederbayern vom 25.3.2022, Blatt 432 der Ausländerakte). Hinsichtlich des am 28. August 2019 in Passau geborenen Sohnes ist der Kläger als Vater ins Geburtenregister eingetragen. Angesichts dieser Umstände hat das Gericht keine Zweifel vom rechtlichen Bestehen einer Familie, auch wenn die Angaben des Klägers zum konkreten Ort der Eheschließung im Laufe des Asylverfahrens uneinheitlich waren.
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Auch das Bestehen einer tatsächlich gelebten Kernfamilie haben die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts zweifelsfrei ergeben, selbst wenn der Kläger bislang nicht mit seiner Familie zusammenwohnen kann, weil ihm eine private Wohnsitznahme bislang nicht gestattet wurde (vgl. hierzu etwa Blatt 431 der Ausländerakte). Der Kläger hat auf die verschiedensten Einzelfragen des Gerichts zu seinen Kindern und dem familiären Alltag stets spontan und detailreich geantwortet, wie dies nur ein Elternteil vermag, der tagtäglich mit seiner Familie zusammenlebt.
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Aufgrund der bestehenden, tatsächlich gelebten Kernfamilie ist im Rahmen der Rückkehrprognose für den Kläger auf seine gesamte Familie abzustellen, selbst wenn der Ehefrau und den Kindern in der Bundesrepublik Deutschland bereits Flüchtlingsschutz zuerkannt wurde (vgl. zur Rückkehrprognose im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris). Denn die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Rückkehr im Familienverband als regelmäßige Grundlage der Rückkehrprognose nach § 60 Abs. 5 AufenthG (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris) ist aufgrund systematischer und teleologischer Überlegungen auf die vorliegende Konstellation übertragbar (in diesem Sinne etwa auch OVG BW, U.v. 7.7.2022 - A 4 S 3696/21 - juris Leitsatz 1; OVG Münster, U.v. 20.7.2021 - 11 A 1674/20.A - juris Rn. 207; OVG Koblenz, B.v. 20.10.2020 - 7 A 10889/18 - juris Rn. 68; OVG Lüneburg, B.v. 19.12.2019 - 10 LA 64/19 - juris Rn. 20; VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 - W 4 K 20.31210 - juris; enger dagegen OVG Bautzen, U.v. 15.6.2020 - 5 A 384/18.A - juris Rn. 35, das insoweit zumindest einen Bezug auch der Familienmitglieder zum jeweiligen Mitgliedsstaat fordert). Der EuGH hat sich zu dieser Frage, soweit ersichtlich, noch nicht dezidiert geäußert.
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Auch in der vorliegenden Konstellation ist es unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Gewährleistungen des Art. 7 GrCh i.V.m. Art. 8 EMRK, die bei der Umsetzung und Anwendung des Art. 33 Asylverfahrens-RL zu beachten sind, erforderlich, eine möglichst realitätsnahe Beurteilung der Situation im Rückkehrfall vorzunehmen. Dies umso mehr, als eine gelebte Kernfamilie in aller Regel aus Rechtsgründen (vgl. Art. 7 GrCh bzw. Art. 6 GG, jeweils in Verbindung mit Art. 8 EMRK) nur zusammen abgeschoben werden kann. Schließlich mindert diese Betrachtungsweise auch hier Friktionen, die sich daraus ergeben können, dass über die Schutzanträge der einzelnen Familienmitglieder nicht gleichzeitig, sondern zeitversetzt entschieden wird (vgl. hierzu nochmals BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 22). Andernfalls hinge es vom Zufall ab, ob für die Rückkehrprognose eine gemeinsame Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen ist (vgl. hierzu nur VG Bremen, B.v. 10.11.2020 - 6 V 796/20 - juris Rn. 19).
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Eine Übertragbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf die vorliegende Fallkonstellation steht schließlich auch nicht der Umstand entgegen, dass der Kläger nicht in sein Herkunftsland, sondern in einen anderen Mitgliedstaat abgeschoben werden soll (so aber VG Würzburg, U.v. 29.1.2021 - W 9 K 20.30260 - juris Rn. 32 a.E.). Denn die Grundrechte, insb. Art. 4 und Art. 7 GrCh, gelten gerade in und gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Eine Übertragbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hinsichtlich der anzustellenden Rückkehrprognose müsste in der vorliegenden Konstellation vielmehr nur dann ausscheiden, wenn eine Rückführung auch der Familienangehörigen des Klägers in den jeweiligen Zielmitgliedsstaat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen von vornherein unmöglich wäre. Dies ist bei in Italien anerkannten Schutzberechtigten jedoch nicht der Fall, da das Recht der Familienzusammenführung dort unabhängig vom Nachweis ausreichenden Wohnraums oder ausreichenden Einkommens besteht (vgl. hierzu AIDA, Country Report: Italiy, 06/2022, S. 178). Dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers mangels notwendiger Dokumente (vgl. hierzu AIDA, Country Report: Italy, 06/2000, S. 178) nicht nach Italien reisen könnten, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
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Auch ist es nicht überzeugend, wenn eine Übertragung der diesbezüglichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur anzustellenden Rückkehrprognose bei einer gelebten Kernfamilie nur dann in Frage kommen soll, wenn alle Familienmitgliedern bereits einen Bezug zum Mitgliedsstaat hatten, in dem der Asylbewerber bereits anerkannt wurde (so aber OVG Bautzen, U.v. 15.6.2020 - 5 A 384/18.A - juris Rn. 35). Eine auf die gesamte Kernfamilie abstellende Rückkehrprognose kann bei tatsachengestützten Missbrauchsfällen oder überwiegenden öffentlichen Interessen unabhängig von dieser weiteren Einschränkung unterbleiben (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 23). Der nicht näher begründeten Einschränkung des „vorherigen Bezugs zum Zielmitgliedsstaat“ bedarf es somit nach Auffassung des erkennenden Einzelrichters nicht.
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Schließlich ist vorliegend auch kein derartiger Missbrauchsfall ersichtlich, der es rechtfertigen würde, trotz gelebter Kernfamilie hinsichtlich der Rückkehrprognose allein auf den Kläger abzustellen (vgl. zur Frage etwaiger Missbrauchsfälle BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 23). Der Kläger hat seine Ehefrau zur Überzeugung des Gerichts schon im Dezember 2014, und damit lange vor der Einreise des Klägers und seiner Ehefrau ins Bundesgebiet, religiös geheiratet. Die Tochter des Klägers kam bereits im September 2015 in Somalia zur Welt.
35
Damit ist im Rahmen der auch hier anzustellenden Rückkehrprognose auf die gesamte Familie des Klägers abzustellen.
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2.2. Zwar geht der Einzelrichter unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel davon aus, dass arbeitsfähige, nicht vulnerable Personen, denen in Italien bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, auch derzeit nach Italien rücküberstellt werden können (in diesem Sinne aus jüngerer Zeit etwa auch VGH BW, U.v. 7.7.2022 - A 4 S 3696/21 - juris Rn. 28 f.; SächsOVG, U.v. 15.3.2022 - 4 A 506/19.A - juris; OVG Saarl, U.v. 15.2.2022, 2 A 46/21 - juris; OVG MV, U.v. 19.1.2022 - 4 LB 135/17 - juris; VG Würzburg, U.v. 29.9.2022 - W 4 K 22.30114; VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 - W 4 K 20.30192 - juris; a.A. OVG Münster, U.v. 20.7.2021 - 11 A 1674/20.A - juris, jedenfalls sofern keine Möglichkeit der Unterbringung in einem SAI-Zentrum mehr besteht; noch weitergehend VG Oldenburg, U.v. 2.7.2021 - 6 A 2745/19 - juris).
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Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass bei der Rückkehrprognose des Klägers auf seine gesamte Familie, die zwei Kleinkinder mitumfasst, abzustellen ist und aufgrund seiner persönlichen Umstände geht das Gericht allerdings davon aus, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
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Die Lebenssituation anerkannt Schutzberechtigter stellt sich nach der aktuellen Erkenntnislage in Italien dabei wie folgt dar:
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2.2.1. Anerkannte Schutzberechtigte erhalten in Italien eine Aufenthaltserlaubnis, die für fünf Jahre gültig ist und die in der Folge erneuert bzw. verlängert werden kann (vgl. hierzu AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 192; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 19). Die Erneuerung - oder im Falle des Verlusts die Ausstellung einer Kopie - beantragt man durch das Ausfüllen entsprechender Formulare und deren Versand per Post an die zuständige Questura (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 31.12.2020, S. 192). Für den Verlängerungs- bzw. Erneuerungsantrag benötigt man zudem einen eingetragenen Wohnsitz oder eine sogenannte „Erklärung der Gastfreundschaft“ („dichiarazione di ospitalita“, vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien: 18.9.2020, S. 5). Eine solche Erklärung der Gastfreundschaft kann dabei insbesondere auch von Privatpersonen abgegeben werden (vgl. ACCORD, 18.9.2020, S. 5). Darüber hinaus muss die zuständige Questura hierfür auch die Adresse einer Hilfsorganisation akzeptieren (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 192; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 19). Bei der Erneuerung einer Aufenthaltserlaubnis kommt es nach vorliegenden Erkenntnismitteln jedenfalls in einigen Provinzen zu ganz erheblichen Zeitverzögerungen. Dies stellt im Alltag aber in aller Regel deswegen kein Problem dar, weil Antragsteller nach der Beantragung eine Bestätigung (sog. „cedolino“) erhalten, die in allen Fällen, in denen eine Aufenthaltserlaubnis benötigt wird, vorgezeigt werden kann und allgemein akzeptiert wird (vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 5).
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2.2.2. Was die Unterkunftssituation anbelangt, so können anerkannte Flüchtlinge bzw. Schutzberechtigte in Italien für einen Zeitraum von sechs Monaten in einem sog. SAI-Zentrum (vorher SIPROIMI-Zentren) untergebracht werden, sofern es dort freie Plätze gibt und die Person nicht bereits zuvor in einem System der Zweitaufnahme untergebracht war.
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Dieses Unterbringungssystem bestand zuletzt (Stand: April 2022) aus 848 kleineren, dezentralisierten Projekten mit insgesamt 35.898 Unterkunftsplätzen (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 214). Damit hat Italien die SAI-Unterbringungsmöglichkeiten im Vergleich zum Januar 2021 (30.049 Unterkunftsplätze in 706 Unterkunftszentren) deutlich aufgestockt (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 214). Grund für diese Erhöhung waren die gestiegene Zahl an Asylbewerbern aus Afghanistan sowie Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine (vgl. AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 216). Gleichwohl decken die nunmehr vorhandenen Plätze im SAI-Unterbringungssystem den entsprechenden Bedarf nicht immer vollständig ab (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20).
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Auch Rückkehrern mit einem abgelaufenen Aufenthaltstitel kann dabei eine Unterkunft in einem SAI-Zentrum zugeteilt werden (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20 f.). Jeder Fall eines internationalen Schutztitelinhabers, der sich in einen anderen EU-Staat begeben hatte und dort nochmal Asyl beantragt hat und in der Folge nach Italien rücküberstellt wird, wird vom sog. „Servizio Centrale“ geprüft. Bei der Prüfung durch den Servizio Centrale ist es aber nicht unbedingt nötig, im Besitz eines gültigen Aufenthaltspapiers zu sein; wichtig ist vielmehr, dass das Aufenthaltspapier ohne rechtliche Probleme verlängerbar ist. Rückkehrerinnen und Rückkehrer können dabei auch bereits im Vorfeld vor ihrer Rückkehr nach Italien einen Antrag beim Servizio Centrale stellen (vgl. hierzu VG Berlin, U.v. 19.5.2021 - 28 K 84.18 A - juris Rn. 29; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 7 f).
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Die gesetzlich vorgesehene Aufenthaltsdauer von sechs Monaten in einem SAI-Zentrum kann dabei um weitere sechs Monate verlängert werden (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 212, 215), beispielsweise um Integrationsmaßnahmen abzuschließen oder wenn besondere Umstände, wie z.B. gesundheitliche Probleme, vorliegen. Gleiches gilt für vulnerable Personen, zu denen unter anderem unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, schwangere Frauen, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel sowie Menschen mit ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen zählen. Bei schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen kann der Aufenthalt im SAI-Zentrum sogar ein zweites Mal um sechs Monate verlängert werden (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 212, 215).
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In den SAI-Zentren stehen anerkannten Schutzberechtigten spezielle Integrationsmaßnahmen zur Verfügung, bestehend aus Sprachtraining, Vermittlung von Grundkenntnissen zu in der Verfassung der Italienischen Republik verankerten Rechten und Pflichten, Orientierung bezüglich wesentlicher öffentlicher Dienstleistungen sowie Orientierung bezüglich der Arbeitsvermittlung (vgl. AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 214; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 12).
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Die Möglichkeit über ein SAI-Zentrum Unterstützung zu erhalten hängt dabei vor allem davon ab, ob und in welchem Umfang ein Schutzberechtigter bereits Leistungen der Sekundärunterbringung in Anspruch genommen hat. Das Recht auf Unterbringung in einem SAI-Zentrum besteht insbesondere dann nicht mehr, wenn einer Person bereits dort untergebracht war oder aber wenn eine Person die ihr vom Servizio-Centrale zugewiesene Unterkunft trotz entsprechender Zuteilung nicht genutzt hat und ihr daher der entsprechende Anspruch entzogen wurde (vgl. hierzu SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 56; zu den Entzugsgründen im Einzelnen vgl. AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 215 f.).
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Neben den staatlich finanzierten SAI-Projekten gibt es für anerkannte Schutzberechtigte auch die Möglichkeit eine Sozialwohnung zu beantragen. Ein solcher Antrag ist direkt in der jeweiligen Stadt bzw. Gemeinde zu stellen, wobei die Zugangsvoraussetzungen unterschiedlich geregelt sind. Dabei hat jede Provinz in Italien ein Netzwerk von Sozialdiensten (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9).
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Anerkannte Flüchtlinge und Schutzberechtigte haben dabei das selbe Recht auf Zugang zu sozialen Wohnraum wie italienische Staatsbürger (vgl. hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20; AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 217; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9 f.). In einigen Regionen Italiens erfordert der Zugang zu Sozialwohnungen jedoch einen Mindestaufenthalt im Land, wie z.B. in der Lombardei, wo man ununterbrochen fünf Jahre in der Region gewohnt haben muss (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20). Allerdings wurde diese Regelung vom italienischen Verfassungsgericht für gesetzeswidrig erklärt (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 218). Unabhängig davon ist die Warteliste für derartige Sozialwohnungen vielerorts lang und die entsprechende Wartezeit beträgt häufig mehrere Jahre (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20). Zudem muss regelmäßig nachgewiesen werden, dass bereits ein Wohnsitz in der Gemeinde besteht, in der eine Sozialwohnung beantragt wird. Das bedeutet, dass es Personen mit internationalem Schutzstatus in der Praxis regelmäßig sehr schwer fällt, Zugang zu öffentlichem Wohnraum bzw. Sozialwohnungen zu erhalten (vgl. hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9 f.).
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Darüber hinaus bieten NGOs und Wohltätigkeitsorganisationen auch Schlafplätze an, deren Kapazitäten jedoch beschränkt sind. Nicht selten leben Menschen mit internationalem Schutzstatus jedenfalls vorübergehend auch in Notunterkünften, die lediglich einen Platz zum Schlafen anbieten und die nicht speziell für Flüchtlinge gewidmet sind, sondern auch italienischen Staatsbürgern in Notsituationen offenstehen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20).
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Unter Berücksichtigung der vorstehenden Angaben ist festzuhalten, dass Schutzberechtigte in Italien häufig Probleme haben, eine Wohnung bzw. Unterkunft zu finden (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20), und für diesen Personenkreis auch die Gefahr der (vorübergehenden) Obdachlosigkeit besteht (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 12 f.). Es liegen jedoch keine Erkenntnismittel vor, wonach tatsächlich ein größerer Teil der anerkannten Schutzberechtigten obdachlos ist. Vielmehr ist ein im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl ein eher kleiner Teil der Migranten tatsächlich obdachlos bzw. lebt in besetzten Häusern. Nach Schätzungen der MÈDECINS SANS FRONTIÈRES (= Ärzte ohne Grenzen) gibt es in Italien ungefähr 10.000 obdachlose Menschen (MSF, „OUT of sight“ - Second edition, Stand: 8.2.2018), unter denen sich auch anerkannte Schutzberechtigte befinden. Dass anerkannt Schutzberechtigte somit regelhaft bzw. systematisch der Obdachlosigkeit anheimfallen würden, lässt sich den aktuellen Erkenntnismitteln aber gerade nicht entnehmen.
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2.2.3. Durch die anerkannten Schutzberechtigten erteilte Aufenthaltserlaubnis haben diese Zugang zum italienischen Arbeitsmarkt bzw. zu einer Berufsausübung wie italienische Staatsangehörige (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 21). Das italienische Asylsystem geht dabei davon aus, dass anerkannte Schutzberechtigte ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit selbst besorgen. Besondere Bedeutung für die Integration von anerkannten Flüchtlingen bzw. subsidiär Schutzberechtigten in den Arbeitsmarkt kommt dabei den örtlichen Arbeitsämtern sowie den SAI-Zentren zu. Anerkannte Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern anmelden und werden nach einer entsprechenden Registrierung über Stellenangebote informiert (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 10).
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Anerkannte Schutzberechtigte haben somit rein rechtlich den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt wie italienische Staatsangehörige. Die Situation für Arbeitssuchende stellt sich in Italien aufgrund der höheren Arbeitslosenzahl jedoch generell als schwierig dar (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 22). Weitere tatsächliche Zugangshindernisse zum Arbeitsmarkt stellen häufig fehlende Sprachkenntnisse und eine fehlende Berufsqualifikation bzw. die fehlende Anerkennung von solchen Qualifikationen dar (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 10). Nicht selten finden Schutzberechtigte nur Arbeit auf dem „informellen Arbeitsmarkt“ bzw. in der „Schattenwirtschaft“, wo sie häufig ausgebeutet werden (vgl. hierzu etwa BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 22; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13). Darüber hinaus arbeiten viele Zuwanderer in der Landwirtschaft, oft unter prekären Bedingungen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 21).
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Unabhängig von der insbesondere im Vergleich zur Bundesrepublik deutlich schwierigeren Arbeitsmarktsituation in Italien, die sich durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie zunächst deutlich verschlechtert hatte, ging die Erwerbslosenquote in Italien im Jahr 2020 auf 9, 3 Prozent zurück, lag im Jahr 2021 bei 9,5 Prozent und im August 2022 bei 7,8 Prozent (vgl. Eurostat, Arbeitslosenquote im Euroraum; Istat, Employment and unemployment - August 2022). Damit liegt die Arbeitslosenquote Italiens aktuell deutlich unter dem Niveau der Jahre 2019 und früher, als die Arbeitslosigkeit in Italien durchgängig (und teilweise deutlich) über 10,0 Prozent lag (vgl. Eurostat, Arbeitslosenquote - insgesamt, zuletzt abgerufen am 26.9.2022). Das BIP Italiens wuchs im Jahr 2021 um 6,7 Prozent, was deutlich über dem Durchschnitt aller EU-Länder lag (vgl. Eurostat, Wachstumsrate des realen BIP-Volumen, zuletzt abgerufen am 26.9.2022). Auch die Beschäftigungslage in Italien hat sich im Zuge dessen kontinuierlich verbessert.
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Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat sich die Dynamik der italienischen Wirtschaft aufgrund der unsicheren Aussichten und der Energie- und Rohstoffversorgungskrise allerdings wieder etwas abgeschwächt. Der stärkste Wirtschaftssektor ist dabei der Dienstleistungssektor, der im Mai 2022 ein kräftiges Wachstum verzeichnete. Aus den jüngeren Prognosen geht hervor, dass im Jahr 2022 ein Bedarf an 1.531.450 Arbeitskräften besteht, von denen die meisten (1.209.060) im Dienstleistungssektor (insbesondere Dienstleistungen für Unternehmen, im Tourismus und in der Gastronomie) benötigt werden, gefolgt von der Industrie mit 322.400 vorgesehenen Neueinstellungen, vor allem im verarbeitenden Gewerbe und im öffentlichen Versorgungssektor. Die Provinzen mit den meisten Neueinstellungen sind Rom, Mailand und Neapel, während Triest, Reggio Emilia und Cuneo die meisten Stellen für junge Menschen bieten (vgl. hierzu Eures, Arbeitsmarktinformationen Italien, https://eures.ec.europa.eu/living-and-working/labour-market-information/labour-market-information-italy_de, zuletzt abgerufen am 26.9.2022).
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Landesweit blieben zuletzt 38,3% der angebotenen Stellen in Italien unbesetzt. Bei den Berufsgruppen, für die es große Personalfindungsschwierigkeiten gibt, handelt es sich in absteigender Reihenfolge um: Apotheker, Biologen und andere Biowissenschaftler, Ärzte und andere Gesundheitsfachkräfte, Führungskräfte und leitende Angestellte, Informatiker, Physiker und Chemiker, Arbeiter für Maschinenbau und Mechatronik, Kosmetik-Fachkräfte, Facharbeiter in der Holz- und Papierindustrie, Sozialarbeiter, Facharbeiter und Anlagenführer in der Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie, aber auch Köche, Kellner und weitere Dienstleistungsberufe im Tourismus sowie Personal für Empfang und Kundeninformation. Besonders schwierig ist dabei die Suche nach Bewerbern für Unternehmen in den Regionen des Nordostens, gefolgt von Unternehmen im Nordwesten, in Mittelitalien und im Süden und auf den Inseln (vgl. hierzu Eures, Arbeitsmarktinformationen Italien, https://eures.ec.europa.eu/living-and-working/labour-market-information/labour-market-information-italy_de, zuletzt abgerufen am 26.9.2022).
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In Italien bestehen unter Berücksichtigung dieser wirtschaftlichen Gesamtumstände zur Überzeugung des Gerichts durchaus realistische Beschäftigungsmöglichkeiten für rückkehrende Schutzberechtigte, auch wenn diese aufgrund fehlender Berufsqualifikation und schlechter Sprachkenntnisse häufig auf schlecht bezahlte Jobs in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor beschränkt sein werden.
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Darüber hinaus haben anerkannte Schutzberechtigte in Italien zwar keinen Anspruch auf staatliche Sozialhilfe, die mit der in Deutschland gewährten Sozialhilfe vergleichbar wäre (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 8/2016, S. 52). Einen solchen Anspruch haben aber auch italienische Staatsangehörige nicht. Das italienische Sozialsystem ist insgesamt sehr schwach ausgebildet, was daran liegt, dass es auf die in Italien traditionell starken Familienstrukturen aufsetzt und daher insbesondere keinerlei Nothilfen garantiert (vgl. hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 22).
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Gleichwohl gibt es seit März 2019 eine Art Grundeinkommen, ein sog. Bürgergeld. Voraussetzung für dessen Bezug ist jedoch, dass man mindestens die letzten zehn Jahre in Italien gewohnt hat, so dass anerkannt Schutzberechtigte diese Voraussetzungen in aller Regel nicht erfüllen (vgl. AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 221; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 21).
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Darüber hinaus gibt es in Italien einzelne, in den Zuständigkeitsbereich der Regionen oder Kommunen fallende Fürsorgeleistungen, die hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, des Empfängerkreises und der Leistungshöhe jedoch stark variieren (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 22; Raphaelswerk, 6/2020, S. 14 f.; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11 f.).
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2.2.4. Hinsichtlich der medizinischen Versorgung haben Anerkannte in Italien die gleichen Rechte und Pflichten wie italienische Staatsbürger, sobald sie beim Nationalen Gesundheitsdienst registriert sind. Die Registrierung gilt für die Dauer der Aufenthaltsberechtigung und erlischt auch nicht in der Verlängerungsphase (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 22). Für die Registrierung ist dabei eine gültige Aufenthaltserlaubnis oder ein Nachweis, dass die Verlängerung bzw. Ausstellung angefordert wurde, ein Wohnnachweis oder bei Nichtvorhandensein eine Erklärung zum aktuellen Wohnort sowie eine Steuernummer notwendig (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11). Nach der neueren Rechtslage ist die Einschreibung beim Nationalen Gesundheitsdienst jedoch bereits auf Basis des sog. „domicilio“ garantiert, der üblicherweise im Aufnahmezentrum liegt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 20).
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Unabhängig davon besteht auch für anerkannte Schutzberechtigte bis zur Registrierung im Gesundheitssystem ein Zugang zu medizinischen Basisleistungen und insbesondere einer medizinischen Notfallversorgung (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 16).
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2.5. Unter Berücksichtigung der dargestellten Aufnahmebedingungen in Italien, der persönlichen Umstände des Klägers und des Umstandes, dass im Falle des Klägers hinsichtlich der Rückkehrprognose auf seine gesamte Familie samt der zwei Kleinkinder abzustellen ist, ist zur Überzeugung des Gerichts im vorliegenden Einzelfall davon auszugehen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh i.V.m. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden.
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Der Kläger hat zwar in Somalia für neun Jahre die Schule besucht und dort nach eigenen Angaben als Journalist bzw. Kinobetreiber gearbeitet. In Europa hat der Kläger jedoch bislang immer nur Tätigkeiten als Hilfsarbeiter (z.B. Verpacker) ausgeübt. Auf Italienisch kann der Kläger nur wenige Sätze sprechen, zumal sein letzter längerer Aufenthalt in Italien schon rund zehn Jahre zurückliegt.
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Aufgrund dieser persönlichen Umstände des Klägers geht das Gericht davon aus, dass der Kläger in Italien aktuell zwar eine Arbeitsstelle als ungelernte Arbeitskraft finden kann, die für ihn alleine auch zur Sicherung des Existenzminimums reichen würde. Für ihn und die gesamte Familie reicht eine solche Arbeit, die regelmäßig dem Niedriglohnsektor zuzurechnen ist, allerdings nicht aus (vgl. hierzu etwa BFA, LIB Italien, 11.11.2020, S. 24; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13). Dies gilt umso mehr, als die Kinder des Klägers noch klein sind (drei bzw. sieben Jahre), und somit die Ehefrau des Klägers aufgrund notwendiger Kinderbetreuung bis auf weiteres kein Einkommen zum Familienunterhalt beisteuern können wird. Im Übrigen ist das soziale Sicherungsnetz in Italien sehr grobmaschig, eine Sozialwohnung ist regelmäßig nur nach längerer, oft mehrjähriger Wartezeit zu erhalten. Das Gericht ist daher im vorliegenden Einzelfall überzeugt, dass es dem Kläger in Italien nicht gelingen wird, die Existenzgrundlage für sich und seine Familie zu sichern und sich daher zeitnah in einer Situation extremer materieller Not befinden würde.
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Hiervon geht das Gerichts selbst dann aus, wenn der Kläger und seine Familie noch für sechs Monate in einer Unterkunft der Sekundärunterbringungen unterkommen könnten. Denn selbst in dieser Übergangszeit würde es dem Kläger zur Überzeugung des Gerichts nicht gelingen, seine Einkommensverhältnisse derart zu verbessern, dass er das Existenzminimum für die gesamte Familie einschließlich ausreichenden Wohnraums selbst sichern könnte. Ob der Kläger also tatsächlich zusammen mit seiner Familie vorübergehend in einer SAI-Unterkunft unterkommen könnte, da die Ehefrau und die Kinder des Klägers nur in Deutschland internationalen Schutz zuerkannt bekommen haben, kann daher dahinstehen.
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Die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG war daher im Falle des Klägers aufzuheben.
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3. Nachdem die Unzulässigkeitsentscheidung im angegriffenen Bescheid keinen Bestand haben kann und das Bundesamt den Asylantrag des Klägers erneut prüfen muss, ist die Entscheidung über Abschiebungsverbote jedenfalls verfrüht ergangen (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG) und daher ebenfalls aufzuheben (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 - juris Rn. 21). Des Weiteren ist zwangsläufig auch die verfügte Abschiebungsandrohung rechtswidrig und aufzuheben, soweit sie sich auf die Abschiebung nach Italien bezieht, da die Voraussetzungen des § 35 AsylG nicht vorliegen (vgl. hierzu ebenfalls BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 - juris Rn. 21). Gleichermaßen konnte die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG keinen Bestand haben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzung für die Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG) entfallen ist.
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Nach alledem war der angegriffene Bescheid im tenorierten Umfang aufzuheben, da er insoweit den Kläger in seinen Rechten verletzt. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
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4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Kosten konnten der Beklagten ganz auferlegt werden, da der Kläger nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
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Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.