Inhalt

OLG Nürnberg, Endurteil v. 21.09.2022 – 12 U 1641/20
Titel:

Kein Schadensersatz für vom Diesel-Abgasskandal betroffenes Fahrzeug mit Laufleistung von mehr als 300.000 km

Normenketten:
BGB § 438, § 823 Abs. 2, § 826
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Weist ein Diesel-Fahrzeug zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Laufleistung von 326.473 Kilometer auf, ist die bei Fahrzeugerwerb zu erwartende Gesamtlaufleistung von 250.000 km bereits deutlich überschritten, so dass ein Schadensersatzanspruch des Käufers vollständig durch die gezogenen Nutzungen aufgezehrt ist. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
2. Selbst wenn entsprechend der in den Schlussanträgen des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 vertretenen Auffassung unterstellt würde, die RL 2007/46/EG solle (auch) das Interesse des individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, handelt es sich bei den zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen §§ 6 und 27 EG-FGV nicht um Schutzgesetze iSv § 823 Abs. 2 BGB. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es ist kein Grund erkennbar, weshalb ein Fahrzeughersteller gegenüber einem Erwerber, mit dem er keinen Vertrag geschlossen hat, bereits bei leichter Fahrlässigkeit umfassender haften müsste als nach den Regelungen des Kaufrechts, das einerseits die Möglichkeit der Nacherfüllung und andererseits eine kenntnisunabhängige zweijährige Verjährung von Mängelansprüchen ab Ablieferung vorsieht, während Ansprüche aufgrund Schutzgesetzverletzungen gegebenenfalls erst in zehn Jahren von ihrer Entstehung an verjähren. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 189, unzulässige Abschalteinrichtung, sittenwidrig, Nutzungsentschädigung, Gesamtlaufleistung, Software-Update, Thermofenster, Schlussanträge, Generalanwalt
Vorinstanz:
LG Amberg, Endurteil vom 30.04.2020 – 14 O 1317/19
Fundstelle:
BeckRS 2022, 28230

Tenor

1. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Landgerichts Amberg vom 30.04.2020, Az. 14 O 1317/19, wird zurückgewiesen.
2. Die Klagepartei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Amberg ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klagepartei kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 24.708,92 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Klagepartei begehrt von der Beklagten als Fahrzeugherstellerin Schadensersatz aus einem Kaufvertrag über einen Pkw.
2
Bei den von der Beklagten hergestellten Dieselmotoren (EA 189) wurde ab Anfang 2008 ein elektronisches Programm zur Steuerung der Abgase verwendet. Diese Software erkannte Messungen auf dem Prüfstand. In solchen Fällen (Modus 1) wurden höhere Mengen an Abgas dem Motor zugeführt, um den Ausstoß von Stickoxiden zu verringern. Diese erhöhte Rückführung von Abgasen unterblieb beim Betrieb des Fahrzeugs auf öffentlichen Straßen (Modus 0).
3
Ein Motor mit dieser Software war in den am 22.03.2011 von der Klagepartei mit einer Laufleistung von 9.350 Kilometern gekauften und von der Beklagten hergestellten Pkw VWGolf, FIN, eingebaut worden. Der Kaufpreis betrug 23.800,00 €.
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Mit Bescheid vom 14.10.2015 verpflichtete das Kraftfahrtbundesamt die Beklagte, die auch im Fahrzeug der Klagepartei befindliche als unzulässige Abschalteinrichtung gewertete Software zu entfernen.
5
Die Klagepartei beruft sich auf betrügerische Täuschung und sittenwidrige Schädigung durch die Beklagte. Deren verantwortlichen Personen sei bekannt gewesen, dass entgegen gesetzlichen Vorschriften das auf dem Prüfstand erhöhte Verringern von Abgasen beim Betrieb der Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen abgeschaltet gewesen sei. Diese unzulässige Maßnahme habe einen Mangel am Fahrzeug bewirkt sowie dessen Wert gemindert.
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Die Klagepartei hat am 18.12.2019 beim Landgericht Amberg Klage eingereicht, die der Beklagten am 14.01.2020 zugestellt wurde.
7
Erstinstanzlich hat die Klagepartei zuletzt beantragt,
1.
Die Beklagte wird verurteilt, Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs VW Golf mit der Fahrgestellnummer an den Kläger 24.708,92 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozent über dem Basiszinssatz seit 22.03.2011 zu zahlen.
2.
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 17.10.2019 mit der Rücknahme des in Klageantrag Ziffer 1 bezeichneten Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet.
3.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten seines Rechtsanwalts in Höhe von 1.711,70 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit freizustellen.
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Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
9
Die Beklagte meint, die Steuerung der auf dem Prüfstand erfolgenden sowie im Normalbetrieb unterbleibenden Rückführung von Abgasen in den Motor habe keine gesetzlichen Regelungen verletzt. Daher liege auch kein Mangel vor. Zudem sei allgemein bekannt, dass die nach normierten Vorgaben (NEFZ) auf dem Prüfstand gemessenen Werte von den bei Fahrten auf Straßen ausgestoßenen Abgasen abweichen würden.
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Die Beklagte hat zudem die Einrede der Verjährung erhoben.
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Hinsichtlich der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
12
Am Tag der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Amberg belief sich die Laufleistung des Pkw auf 326.473 Kilometer.
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Das Landgericht Amberg hat die Klage abgewiesen. Auf die weiteren tatsächlichen Feststellungen dieser Entscheidung wird Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
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Gegen dieses ihr am 04.05.2020 zugestellte Urteil hat die Klagepartei am 08.05.2020 Berufung eingelegt und sie mit weiterem Schriftsatz, der am 20.05.2020 beim Oberlandesgericht eingegangen ist, begründet.
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Im Rahmen der mündlichen Verhandlung des Oberlandesgerichts Nürnberg am 17.08.2022 hat die Klagepartei unbestritten vorgetragen, der Kilometerstand des streitgegenständlichen Fahrzeugs habe an diesem Tag 392.844 km betragen.
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Die Klagepartei beantragt,
I. Unter Abänderung des am 30.04.2020 verkündeten Urteils des LG Amberg, Az.: 14 O 1317/19, wird die Beklagte verurteilt, Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs VW Golf mit der Fahrgestellnummer an den Kläger 24.708,92 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozent über dem Basiszinssatz seit 22.03.2011 zu zahlen.
II. Unter Abänderung des am 30.04.2020 verkündeten Urteils des LG Amberg, Az.: 14 O 1317/19, wird die Beklagte verurteilt, den Kläger von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten seines Rechtsanwalts in Höhe von 1.711,70 Euro nebst Zin sen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit freizustellen.
III. Unter Abänderung des am 30.04.2020 verkündeten Urteils des LG Amberg, Az.: 14 O 1317/19, wird festgestellt, dass sich die Beklagte seit dem 17.10.2019 mit der Rücknahme des in Klageantrag Ziffer 1 bezeichneten Fahrzeugs im Annahmeverzug befindet.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen .
18
Der Senat hat am 29.06.2022 und 17.08.2022 förmliche Hinweise an die Klagepartei erteilt.
19
Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Parteien in beiden Rechtszügen wird auf die gewechselten Schriftsätze und die gerichtlichen Sitzungsprotokolle verwiesen.
II.
20
Die zulässige Berufung der Klagepartei ist unbegründet. Das Landgericht hat die Klage zu recht abgewiesen, weil der Klagepartei aus dem streitgegenständlichen Fahrzeugkauf keine Ansprüche gegen die Beklagte zustehen.
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1. Die Klagepartei hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 826 BGB (vorsätzliche sittenwidrige Schädigung).
22
a) Der Senat folgt an sich der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19).
23
Danach steht es wertungsmäßig einer unmittelbaren arglistigen Täuschung des Fahrzeugkäufers gleich, wenn ein Fahrzeughersteller - wie hier - im Rahmen einer von ihm bei der Motorenentwicklung getroffenen strategischen Entscheidung (Implementierung einer sog. Umschaltlogik) die Typgenehmigungen der Fahrzeuge durch arglistige Täuschung des Kraftfahrtbundesamts erschleicht und die derart bemakelten Fahrzeuge alsdann in Verkehr bringt und dadurch die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt ausnutzt.
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Im vorliegenden Fall bestehen zudem hinreichende Anhaltspunkte für die Kenntnis zumindest eines vormaligen Mitglieds des Vorstands von einer so getroffenen strategischen Entscheidung. Deshalb trägt die Beklagte als Herstellerin des Motors die sekundäre Darlegungslast für die Behauptung, eine solche Kenntnis habe nicht vorgelegen.
25
Dieser Darlegungslast ist die Beklagte nicht nachgekommen.
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b) Der der Klagepartei kausal entstandene Schaden liegt im Abschluss eines Kaufvertrags über ein infolge der erschlichenen Typgenehmigung bemakeltes Fahrzeug, den sie bei Kenntnis der Fakten nicht geschlossen hätte. Denn bei einem Kaufvertrag über einen Pkw ist nach allgemeiner Lebenserfahrung davon auszugehen, dass ein Käufer kein Fahrzeug erwerben würde, dem eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung droht und bei dem zum Zeitpunkt des Erwerbs nicht absehbar ist, ob dieses Problem behoben werden kann.
27
c) Zur Rückgängigmachung der Folgen des Abschlusses des Kaufvertrags hat die Beklagte an die Klagepartei eine Zahlung in Höhe des von dieser geleisteten Kaufpreises zu erbringen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch die Klagepartei.
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2. Die Klagepartei hat sich allerdings die von ihr durch die Nutzung des Fahrzeugs gezogenen Vorteile anrechnen zu lassen.
29
Denn die Grundsätze der Vorteilsausgleichung gelten auch für einen Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB.
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a) Die Höhe des anzurechnenden Nutzungsvorteils hat der Senat nach folgender Formel ermittelt:
Nutzungsvorteil = [Bruttokaufpreis x gefahrene Strecke (seit Erwerb) ] / erwartete Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt.
31
Dabei geht der Senat in ständiger und vom Bundesgerichtshof wiederholt gebilligter Rechtsprechung von einer zu erwartenden Gesamtlaufleistung des mit einem 4-Zylinder-Motor ausgestatteten klägerischen Fahrzeugs von 250.000 km aus (§ 287 ZPO); der Senat orientiert sich hierbei an den in der Gerichtspraxis anzutreffenden Schätzwerten bei Mittelklassewagen neueren Datums.
32
Insoweit ist nicht die mögliche Laufleistung des Motors an sich, sondern die Lebensdauer des (gesamten) Fahrzeugs maßgebend; dies kann nicht losgelöst von der Motorisierung, der Qualität und der Preisklasse des Fahrzeugs beurteilt werden. Da Fahrzeuge aus verschiedenen Teilen mit unterschiedlicher Lebensdauer bestehen und bei zunehmender Nutzungsdauer die Reparaturanfälligkeit steigt, werden in aller Regel bereits wirtschaftliche Erwägungen dazu führen, dass eine mögliche Lebensdauer des Motors nicht ausgeschöpft wird und daher nicht mit der maßgeblichen Gesamtnutzungsdauer des Fahrzeugs gleichzusetzen ist. Zudem kommt es auf die unter gewöhnlichen Umständen zu erzielende (durchschnittliche) Gesamtfahrleistung des Fahrzeugs an und nicht darauf, welche Gesamtlaufleistung das Fahrzeug unter günstigen Bedingungen im äußersten Fall erreichen kann oder in bestimmten Einzelfällen erreicht hat. Dementsprechend sind gezogene Gebrauchsvorteile pro gefahrenem Kilometer der Höhe nach unabhängig davon zu bemessen, ob der konkrete Nutzer eine schonende oder eine beanspruchende Fahrweise an den Tag gelegt hat. Der analog § 287 Abs. 1 ZPO vorzunehmenden Schätzung der in die Bemessung der gezogenen Gebrauchsvorteile einfließenden durchschnittlichen Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs haftet angesichts dieser Prämissen naturgemäß eine typisierte und pauschalisierende Betrachtung an, die je nach Fahrverhalten von den im konkreten Fall grundsätzlich zu erwartenden Werten abweichen kann. Bei einer Schätzung nach § 287 Abs. 1 ZPO wird in der Regel in Kauf genommen, dass das Ergebnis unter Umständen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt (BGH, Urteil vom 29.09.2021 - VIII ZR 111/20, Rn. 58 ff.; Urteil vom 27.07.2021 - VI ZR 480/19, Rn. 23 ff.; jeweils m.w.N.).
33
Die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu dieser Frage wäre nicht mit einem weiteren oder jedenfalls einem signifikanten Erkenntnisgewinn bezüglich der Anknüpfungstatsachen für eine Schätzung verbunden. Da - soweit ersichtlich - ein markengebundener Händlermarkt jenseits einer Laufleistung von 200.000 Kilometern nicht existiert, wäre vorliegend auch ein Sachverständiger letztlich darauf angewiesen, von ihm für bestimmte Fälle in Erfahrung gebrachte Laufleistungen dahin zu bewerten, ob dies für die entsprechende Fahrzeugqualität der - nach den beschriebenen Vorgaben zu bestimmenden - üblichen (durchschnittlichen) Erwartung entspricht (BGH, Urteil vom 29.09.2021 - VIII ZR 111/20, Rn. 61).
34
Auch der Schlussvortrag des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 in einem vor dem Europäischen Gerichtshof geführten Rechtsstreit (Az. C-100/21) veranlasst den Senat nicht zu einer Abkehr von seiner Rechtsprechung.
35
b) Im Streitfall wies das Fahrzeug ausweislich des Sitzungsprotokolls bereits zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht eine Laufleistung von 326.473 Kilometer auf. Damit war die bei Fahrzeugerwerb zu erwartende Gesamtlaufleistung des klägerischen Fahrzeugs von 250.000 km bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich überschritten. Der Schadensersatzanspruch der Klagepartei war schon an diesem Tag vollständig aufgezehrt. Darauf hatte der Senat die Klagepartei am 29.06.2022 und am 17.08.2022 hingewiesen.
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3. In Bezug auf die von der Beklagten implementierte sog. Umschaltlogik bestehen schon allein aus den unter 2. genannten Gründen auch keine Schadensersatzansprüche gemäß § 823 Abs. 2 BGB.
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4. Darüber hinaus haftet die Beklagte auch nicht wegen der Implementierung eines sog. Thermofensters in dem Software-Update. Dies gilt schon allein deshalb, weil die Klagepartei sich nicht auf den Einbau eines Thermofensters in das streitgegenständliche Fahrzeug beruft.
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Selbst wenn im Zuge eines Software-Update ein Thermofenster am Pkw der Klagepartei installiert worden wäre und die Klagepartei sich im Prozess hierauf berufen hätte, hätte sich daraus keine Haftung der Beklagten ergeben.
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a) Ein Anspruch gemäß § 826 BGB besteht nicht.
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Selbst wenn zugunsten der Klagepartei unterstellt wird, dass eine derartige temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren ist (vgl. EuGH, Urteil vom 17.12.2020 - C-693/18, Celex-Nr. 62018CJ0693 und zuletzt EuGH, Urteil vom 14.07.2022 - C - 128/20), reicht der darin liegende - unterstellte - Gesetzesverstoß nicht aus, um das Gesamtverhalten der Beklagten als sittenwidrig zu qualifizieren. Der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems ist nicht von vornherein durch Arglist geprägt. Sie führt nicht dazu, dass bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert und der Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert wird, sondern arbeitet in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise. Unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen (Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Widerstand etc.) entspricht die Rate der Abgasrückführung im normalen Fahrbetrieb derjenigen auf dem Prüfstand. Bei dieser Sachlage hätte sich die Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten durch die Implementation des Thermofensters nur dann fortgesetzt, wenn zu dem - hier unterstellten - Verstoß gegen Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 im Zusammenhang mit der Entwicklung und Genehmigung des Software-Updates „weitere Umstände“ hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Applikation der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine (weitere) unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (BGH, Beschluss vom 09.03.2021 - VI ZR 889/20, Rn. 23ff.).
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Die Berufung zeigt aber keinen Sachvortrag der insoweit darlegungsbelasteten Klagepartei (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, Rn. 35; Beschluss vom 19.01.2021 - VI ZR 433/19, Rn. 19) auf, dem Anhaltspunkte zu entnehmen wären für ein solches Vorstellungsbild der für die Beklagte handelnden Personen.
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b) Der Klagepartei steht auch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 VO 715/2007/EG) kein Schadensersatzanspruch zu. Die vorgenannten Normen sind keine Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB; das Interesse der Klagepartei, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, ist von den genannten Vorschriften nicht geschützt (BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20, Rn. 10ff.; Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, Rn. 74). Die RL 2007/46/EG selbst scheidet mangels unmittelbarer Geltung (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV) als Schutzgesetz im Sinn von § 823 Abs. 2 BGB aus (vgl. Sprau in Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, § 823 Rn. 57 m.w.N.).
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aa) Dafür, dass der EU-Verordnungsgeber durch die VO (EG) Nr. 715/2007 (Grundverordnung) oder die RL 2007/46/EG sowie der nationale Gesetzgeber in Umsetzung der RL 2007/46/EG durch die EG-FGV auch die wirtschaftlichen Interessen individueller Erwerber von Kraftfahrzeugen schützen wollen, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich.
44
Die Grundverordnung soll dem Umweltschutz (vgl. Erwägungsgrund Nr. 1), insbesondere der Verbesserung der Luftqualität (vgl. Erwägungsgründe 4, 5, 6 und 13) - und damit auch der Gesundheit der EU-Bürger - sowie der Harmonisierung des Binnenmarktes (vgl. Erwägungsgründe Nr. 1, 17) dienen, nicht aber dem Schutz der Vermögensinteressen einzelner EU-Bürger. Auch die Rahmenrichtlinie 2007/46/EG, die durch die EG-FGV in deutsches Recht umgesetzt worden ist, dient nicht dem Schutz der Vermögensinteressen der einzelnen EU-Bürger. Durch sie soll vielmehr eine vollständige Harmonisierung der Zulassungsvorschriften für Fahrzeuge erreicht werden. Daneben wird in den Erwägungsgründen neben dem Ziel einheitlicher Vorgaben für die Hersteller die Verkehrssicherheit, der Gesundheits- und Umweltschutz, eine rationelle Energienutzung und ein wirksamer Schutz gegen unbefugte Benutzung genannt (vgl. Erwägungsgrund Nr. 3 Satz 2 der Rahmenrichtlinie), aber eben nicht der Schutz der Vermögensinteressen der einzelnen EU-Bürger (vgl. auch BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20, juris Rn. 11; Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, juris Rn. 74.
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Daran ändern auch die Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 19.12.2019 in der Rechtssache C-663/19 und die Schlussanträge des Generalanwalts vom 23.09.2021 in den Rechtssachen C-128/20, C-134/20 und C-145/20 nichts (vgl. BGH, Beschluss vom 14.02.2022 - VIa ZR 204/21 m.w.N.). Gleiches gilt für die Stellungnahme der EU-Kommission vom 05.07.2021 in der Rechtssache C-100/21. Diese deckt sich inhaltlich mit der Stellungnahme der EU-Kommission zum bereits aus dem Register des Gerichtshofs der Europäischen Union gestrichenen Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Gera, in der sie zur RL 2007/46/EG und zur Grundverordnung ausführt, dass diese „den Schutz aller Käufer eines Fahrzeugs einschließlich des Endkunden vor Verstößen des Herstellers gegen seine Verpflichtung, neue Fahrzeuge in Übereinstimmung mit ihren genehmigten Typen beziehungsweise den für ihren Typ geltenden Rechtsvorschriften nach Anhang IV zur RL 2007/46 … in den Verkehr bringen“ (bezwecke). Dies besagt aber für die hier allein interessierende Frage, ob damit auch der Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages erfasst sein soll, nichts (vgl. BGH, Beschluss vom 10.11.2021 - VII ZR 280/21, juris Rn. 27).
46
bb) Auch die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 führen zu keiner anderen Bewertung. Selbst wenn entsprechend der in diesen Schlussanträgen (dort Rn. 50 und Rn. 78 Nr. 1) vertretenen Auffassung zu Argumentationszwecken unterstellt würde, die RL 2007/46/EG solle (auch) das Interesse des individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, handelt es sich bei den zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen §§ 6 und 27 EG-FGV nicht um Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB. Der VO (EG) Nr. 715/2007, die unmittelbar anwendbar ist, misst der Generalanwalt selbst keine Schutzwirkung zugunsten von Vermögensinteressen von Fahrzeugerwerbern zu.
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(1) Eine Rechtsnorm ist ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, wenn sie zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zu Gunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mitgewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch das Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie dasjenige der Allgemeinheit im Auge haben. Nicht ausreichend ist aber, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm nur als ihr Reflex objektiv erreicht wird; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen. Außerdem muss die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheinen, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, zu prüfen ist, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zugunsten des Geschädigten gegebenen Haftungs- und Beweiserleichterungen zu knüpfen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 Rn. 73 m.w.N.).
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(2) Diese Voraussetzungen sind bezogen auf §§ 6, 27 EG-FGV nicht gegeben. Denn mit diesen Vorschriften bezweckte der nationale Normgeber nicht den Schutz des Interesses eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, und die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs erschiene im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Normen gestellt sind, weder sinnvoll noch tragbar.
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Mit der Verordnung über die EG-Genehmigung für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten für die Fahrzeuge (EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung - EG-FGV) - einer gemeinsamen Verordnung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und des Bundesministeriums des Innern - bezweckte der nationale Normgeber in Umsetzung der RL 2007/46/EG in nationales Recht die Harmonisierung des öffentlichrechtlichen Zulassungsrechts von Kraftfahrzeugen, nicht jedoch den Schutz der Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Die letztgenannte Zielrichtung ergibt sich weder aus dem Wortlaut der nationalen Normen noch aus sonstigen Umständen. Vielmehr ist den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Rn. 42) im Gegenteil zu entnehmen, die Bundesregierung habe - in Übereinstimmung mit der allgemeinen Ansicht (vgl. dazu oben) - die Auffassung zum Ausdruck gebracht, die RL 2007/46/EG diene nicht dem Zweck, auch die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, zu schützen.
50
Auch in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die §§ 6, 27 EG-FGV gestellt sind, erschiene es weder sinnvoll noch tragbar, dem individuellen Erwerber eines Kraftfahrzeugs gestützt auf die genannten Normen einen Schadensersatzanspruch bereits dann einzuräumen, wenn ein Hersteller - gegebenenfalls bloß fahrlässig - ein Kraftfahrzeug mit einer gemäß Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 715/2007 unzulässigen 24 U 115/22 - 26 - Abschalteinrichtung ausgestattet hat.
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Dabei ist zu berücksichtigen, dass die nationalen Gerichte gehalten sind, das Gemeinschaftsrecht möglichst wirksam anzuwenden (effet utile), und nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufgrund des Umsetzungsgebots gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV und des Grundsatzes der Gemeinschaftstreue gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet sind, die Auslegung des nationalen Rechts unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen das nationale Recht einräumt, soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen (richtlinien- bzw. unionsrechtskonforme Auslegung, vgl. EuGH, Urteil vom 10.12.2020 - C-735/19 Rn. 75; BGH, Urteil vom 18.11.2020 - VIII ZR 78/20 Rn. 25; jeweils m.w.N.). Einer Umsetzung von Richtlinien bedarf es allerdings nur insoweit, wie der bestehende Rechtszustand nicht bereits den Vorgaben der Richtlinie entspricht. Im Falle der Übereinstimmung von Richtlinienauftrag und nationalem Rechtszustand bedarf es weder einer Umsetzung noch eines Hinweises, dass die bestehenden nationalen Rechtsnormen nunmehr durch eine Richtlinienbestimmung festgeschrieben und in deren Licht zu interpretieren sind.
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Nach diesen Maßstäben bedarf es in der deutschen Rechtsordnung über die bestehenden Institute des Vertrags- und Deliktsrechts hinaus nicht der Einordnung der §§ 6, 27 EG-FGV als Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB, um das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, angemessen zu schützen. Bereits das bestehende Recht hält zahlreiche - abgestufte - Instrumente bereit, die das Interesse des Erwerbers schützen, nicht ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben bzw. nutzen zu müssen, und auch einen erheblichen Anreiz für die Hersteller von Motoren bieten, unionsrechtliche Vorschriften einzuhalten. So ist ein Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher unerlaubter Handlung gemäß § 826 BGB (i.V.m. § 31 BGB bzw. § 831 BGB) gegen den Hersteller eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Motors zwar von strengen Voraussetzungen abhängig; diese wurden allerdings bereits in vielen tausenden Fällen mit der Folge einer Haftung des Motorenherstellers bejaht. Überdies stehen dem Erwerber eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs in aller Regel - verschuldensunabhängig - vertragliche Ansprüche zu, die insbesondere auf Nacherfüllung gerichtet sind und gegebenenfalls - falls es sich bei dem Verkäufer des Fahrzeugs nicht um den Motorenhersteller handeln sollte - zu Regressansprüchen gegen den Hersteller des Motors führen. Schließlich sind auch die nach deutschem Recht vorgesehenen Strafen und Bußgelder (u.a. § 37 Abs. 1 EG-FGV) und die hoheitlichen Befugnisse der Aufsichtsbehörden (vgl. § 25 EG-FGV) zu berücksichtigen. Die in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Rn. 58) wiedergegebene Auffassung des vorlegenden Gerichts, Hersteller hätten „nach derzeitigem Rechtsstand keine Inanspruchnahme zu befürchten“, trifft nach alledem erkennbar nicht zu.
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Das auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen mit unterschiedlichen Voraussetzungen basierende bestehende System zeichnet sich dadurch aus, dass die den Hersteller treffenden Sanktionen und die dem Erwerber zustehenden Ansprüche erheblich davon abhängen, welcher Verschuldensvorwurf dem Hersteller zu machen ist. So ist beispielsweise ein Hersteller, der im Sinne von § 826 BGB vorsätzlich sittenwidrig geschädigt hat, nicht nur inhaltlich, sondern - aufgrund differenzierter Verjährungsvorschriften - auch zeitlich deutlich weitergehenden Rechtsfolgen ausgesetzt als ein solcher, den lediglich der Vorwurf leichter Fahrlässigkeit trifft.
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Dieses abgestufte und interessengerechte System würde im Ergebnis zerstört, wenn die §§ 6, 27 EG-FGV in der Weise als Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB ausgelegt würden, dass beispielsweise schon ein auf leichter Fahrlässigkeit beruhender Verstoß gegen sich aus der VO (EG) Nr. 715/2007 ergebende Verpflichtungen einen auf Rückabwicklung des Kaufvertrages gerichteten deliktischen Schadensersatzanspruch eines Fahrzeugerwerbers zur Folge hätte, der noch viele Jahre nach Herstellung des Motors geltend gemacht werden könnte. Eine derartig weitgehende, den Grad des Verschuldens nicht ausreichend berücksichtigende Haftung von Motorenherstellern stellte einen durch nichts gerechtfertigten Fremdkörper in der deutschen Rechtsordnung dar, der den - unter anderem in Art. 5 Abs. 4 EUV verankerten - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Grundsätze des Vertrauensschutzes verletzte und in Hinblick auf Regelungen des Kaufrechts und die Haftung für sonstige Konstruktionsfehler Wertungswidersprüche mit sich brächte. So ergäben sich auch für weit zurückliegende Produktionszeiträume erhebliche Haftungsrisiken, mit denen Fahrzeug- und Motorenhersteller bislang nicht rechnen mussten und für die sie keine Rückstellungen bilden konnten. Es wäre auch nicht einzusehen, weshalb unzulässige Abschalteinrichtungen anders als alle anderen Konstruktionsfehler von Fahrzeugen behandelt werden sollten (z.B. vorzeitig alternde Bremsschläuche), die im Rahmen des Zulassungsverfahrens nicht auffallen, die Zulassungsfähigkeit der Fahrzeuge aber gleichwohl gefährden, so dass der weitere Betrieb des Fahrzeuges untersagt werden müsste, falls sich der Erwerber der Nachrüstung widersetzt. Schließlich ist auch kein Grund erkennbar, weshalb ein Fahrzeughersteller gegenüber einem Erwerber, mit dem er keinen Vertrag geschlossen hat, bereits bei leichter Fahrlässigkeit umfassender haften müsste als nach den Regelungen des Kaufrechts, das einerseits die Möglichkeit der Nacherfüllung und andererseits eine kenntnisunabhängige zweijährige Verjährung von Mängelansprüchen ab Ablieferung vorsieht (§ 438 BGB), während Ansprüche aufgrund Schutzgesetzverletzungen gegebenenfalls erst in zehn Jahren von ihrer Entstehung an verjähren (vgl. § 199 Abs. 3 Nr. 1 BGB).
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Solche Wertungswidersprüche und die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der Grundsätze des Vertrauensschutzes werden mit der RL 2007/46/EG nicht angestrebt und sind zu ihrer Umsetzung nicht erforderlich. Das gilt auch dann, wenn man - entsprechend den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Rn. 50 und Rn. 78 Nr. 1) - unterstellte, die Richtlinie diene (auch) dem Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Denn jedenfalls ist nicht ersichtlich - und auch aufgrund der weiteren Ausführungen des Generalanwalts in den Schlussanträgen vom 02.06.2022 nicht anzunehmen -, dass die Richtlinie bezogen auf das genannte Interesse des Fahrzeugerwerbers ein bestimmtes Rechtsschutzniveau vorgäbe, das in Deutschland unterschritten wäre, falls die §§ 6 und 27 EG-FGV nicht als Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB angesehen würden. Soweit der Generalanwalt in den Schlussanträgen vom 02.06.2022 (dort Rn. 65 und Rn. 78 Nr. 2) die Ansicht vertritt, die Mitgliedstaaten müssten vorsehen, dass „ein Erwerber eines Fahrzeugs einen Ersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller hat, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 12 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist“, kann damit sinnvollerweise nicht gemeint sein, ein solcher Ersatzanspruch müsse unabhängig von weiteren Voraussetzungen eingeräumt werden. Vielmehr ergibt sich die Notwendigkeit weiterer Voraussetzungen schon aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, und sie wird auch in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 dadurch angedeutet, dass dort (Rn. 59) die Auffassung des vorlegenden Gerichts wiedergegeben wird, „auch fahrlässige Verstöße“ sollten einen Anspruch begründen - was nahelegt, dass Ansprüche von einem Verschulden des Herstellers abhängig gemacht werden dürfen. Soweit in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Rn. 58 und 59) zum Ausdruck kommt, die dem Erwerber eines Fahrzeugs mit unzulässiger Abschalteinrichtung derzeit nach deutschem Recht zustehenden Ansprüche seien unzureichend, handelt es sich nicht um eine eigene Bewertung des Generalanwalts, sondern um eine Wiedergabe der „Auffassung des vorlegenden Gerichts“, die ihrerseits auf falschen Annahmen beruht (vgl. dazu oben).
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5. Nach alledem stehen der Klagepartei auch die geltend gemachten Nebenforderungen nicht zu.
III.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG, § 3 ZPO.
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Die Revision wird nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.