Inhalt

VG Bayreuth, Beschluss v. 15.02.2022 – B 10 S 22.93
Titel:

Bestimmtheitsanforderungen an Allgemeinverfügung, die wegen der Corona-Pandemie, Ausnahmen vom ArbZG für die „kritische Infrastruktur“ zulässt, Antragsbefugnis einer Gewerkschaft hinsichtlich verfügter Ausnahmen von tarifdispositiven Vorschriften

Normenketten:
ArbZG § 15 Abs. 2
ArbZG § 7
BayVwVfG Art. 35 S. 2
VwGO § 80 Abs. 5
BayVwVfG Art. 37 Abs. 1
Schlagworte:
Bestimmtheitsanforderungen an Allgemeinverfügung, die wegen der Corona-Pandemie, Ausnahmen vom ArbZG für die „kritische Infrastruktur“ zulässt, Antragsbefugnis einer Gewerkschaft hinsichtlich verfügter Ausnahmen von tarifdispositiven Vorschriften
Fundstelle:
BeckRS 2022, 2822

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller vom 03.02.2022 gegen die Allgemeinverfügung der … vom 20.01.2022 wird wiederhergestellt.
2. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller wenden sich mit ihrem Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Allgemeinverfügung der … - Gewerbeaufsichtsamt - vom 20.01.2022, mit der Ausnahmen von den Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) zur täglichen Höchstarbeitszeit, den Ruhezeiten und der Sonn- und Feiertagsruhe für Betriebe der kritischen Infrastruktur zugelassen werden.
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Mit E-Mail vom 19.01.2022 übermittelte das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales (StMAS) der … den Text einer Allgemeinverfügung mit der Bitte, ihn kurzfristig auszufertigen und zu veröffentlichen. Dem kam die … nach. Die Allgemeinverfügung wurde am 20.01.2022 im Oberfränkischen Amtsblatt (Sonderausgabe Nr. 1/2022, S. 2 ff) amtlich bekanntgemacht.
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Die Allgemeinverfügung vom 20.01.2022 der … (Az. …*) hat auszugsweise folgenden Wortlaut:
„1. Anwendungsbereich
Die Regelungen dieser Allgemeinverfügung gelten für Tätigkeiten in Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere schwerwiegende nachteilige Folgen eintreten würden (kritische Infrastruktur). Das sind insb. Tätigkeiten in den Bereichen
- der Energieversorgung
- der Wasserund Abwasserversorgung
- der Nahrungsmittelversorgung und Landwirtschaft
- der Kinder- und Jugendhilfe
- der Informationstechnik und Telekommunikation
- des Gesundheits- und Pflegebereichs einschließlich aller Bereiche zur Bekämpfung der Corona-Pandemie
- des Finanz- und Versicherungswesens, insb. der Geldversorgung
- des Transports und Verkehrs
- des öffentlichen Dienstes und der Rechtsprechung
- der öffentlichen Sicherheit, der Feuerwehr und des Katastrophenschutzes
- Presse und Rundfunk sowie
- der Abfallentsorgung.
Bei der Einstufung in einen der oben genannten Bereiche kann ein großzügiger Maßstab zugrunde gelegt werden.
2. Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
2.1 Abweichend von den §§ 3 und 6 Abs. 2 ArbZG darf die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei den in Nr. 1 genannten Tätigkeiten auf bis zu zwölf Stunden verlängert werden. Dies gilt nur, soweit die Verlängerung nicht durch vorausschauende organisatorische Maßnahmen einschließlich notwendiger Arbeitszeitdisposition, durch Einstellungen oder sonstige personalwirtschaftliche Maßnahmen vermieden werden kann. Die Verlängerung muss wegen der Corona-Pandemie zur Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur notwendig sein.“
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Ferner werden Abweichungen von § 5 Abs. 1 und § 7 Abs. 9 ArbZG (Ruhezeit; Ziffer 3) und von § 9 Abs. 1 ArbZG (Sonn- und Feiertagsbeschäftigung; Ziffer 4) verfügt sowie die sofortige Vollziehung der Allgemeinverfügung angeordnet (Ziffer 5). Sie trat am 21.01.2022 in Kraft und tritt mit Ablauf des 19.03.2022 außer Kraft (Ziffer 6).
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Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 03.02.2022, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tag, haben die Antragsteller Klage erheben lassen, mit der sie die Aufhebung der Allgemeinverfügung begehren (Az. B 10 K 22.92). Zugleich haben sie um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und diesbezüglich beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller vom 03.02.2022 gegen die Allgemeinverfügung des Antragsgegners zu Ausnahmen von der täglichen Höchstarbeitszeit, den Ruhezeiten und der Sonn- und Feiertagsruhe im Bereich der kritischen Infrastruktur vom 20.01.2022 wiederherzustellen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen Folgendes vorgetragen: Die Antragsteller seien antragsbefugt. Die Antragstellerin zu 1) könne sich als Gewerkschaft auf den Sonn- und Feiertagsschutz berufen. Die Allgemeinverfügung lasse zudem Abweichungen von tarifdispositiven Regelungen zu, wodurch die diesbezüglichen Gestaltungsrechte der Gewerkschaft vorübergehend außer Kraft gesetzt würden. Die Allgemeinverfügung sei schon deshalb offensichtlich rechtswidrig, weil sie nicht dem Bestimmtheitsgebot des § 37 Abs. 1 VwVfG genüge. Zudem lägen die Tatbestandsvoraussetzungen für die Ausnahmegenehmigung gemäß § 15 Abs. 2 ArbZG nicht vor. Die Allgemeinverfügung stelle nicht auf konkrete Einzelfälle ab, das Bestehen eines öffentlichen Interesses an der Gestattung der Abweichung sei behördlicherseits nicht geprüft worden und auch nicht dringlich; mildere Abweichungsmöglichkeiten hätten genügt. Die Allgemeinverfügung stehe ferner nicht mit dem verfassungsrechtlichen Gebot des Schutzes der Sonn- und Feiertage in Einklang. Überdies habe der Antragsgegner das ihm eingeräumte Ermessen nicht bzw. nicht hinreichend ausgeübt.
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Mit Schriftsatz vom 10.02.2022 hat der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung trägt der Antragsgegner im Wesentlichen Folgendes vor: Die Antragsteller seien nur insoweit antragsbefugt, als diese von der angegriffenen Allgemeinverfügung tatsächlich selbst betroffen seien. Die Antragstellerin zu 1) könne sich demzufolge nicht gegen die Allgemeinverfügung vom 20.01.2022 wenden, soweit diese für Bereiche der kritischen Infrastruktur Regelungen treffe, die nicht von deren satzungsmäßigen Organisationsbereich betroffen seien. Der Antragsteller zu 2) könne die Allgemeinverfügung vom 20.01.2022 allenfalls insoweit angreifen, als diese Ausnahmeregelungen für den Bereich der Nahrungsmittelversorgung treffe.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO sei aber jedenfalls unbegründet und daher abzulehnen. Die Folgenabwägung müsse zugunsten des Bestands des Sofortvollzugs der angegriffenen Allgemeinverfügung ausgehen. Die der Maßnahme unter anderem zu Grunde liegende Zweite Stellungnahme des Expertenrates der Bundesregierung zu COVID-19 vom 06.01.2022 gehe davon aus, dass das Infektionsgeschehen absehbar als weiteres drängendes Problem zu Personalausfällen führen werde, und zwar nicht nur im Bereich der medizinischen Versorgung (Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, ambulante Versorgungsstrukturen), sondern explizit auch im Bereich der kritischen Infrastruktur sowie anderen gesellschaftlich relevanten Sektoren. Das Gremium habe daher dringlich empfohlen, sich auf diese weitere Verschärfung der Personalsituation entsprechend vorzubereiten, insbesondere alle verfügbaren Personalressourcen mit einzubeziehen. Die Ministerpräsidentenkonferenz am 07.01.2022 habe sich der Einschätzung angeschlossen, dass der zu erwartende weitere Anstieg der Infektionszahlen zu Einschränkungen der Funktionsfähigkeit der kritischen Infrastruktur führen werde. Vor diesem Hintergrund hätten sich Bund und Länder dahingehend verständigt, dem mit entsprechenden Maßnahmen gegenzusteuern, und zwar insbesondere im Arbeitszeitbereich. Auch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gehe in seiner Stellungnahme vom 20.01.2022 davon aus, dass in dem außergewöhnlichen Notfall des aktuellen Infektionsgeschehens das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinwesens erheblich gefährdet sein könne und zur Bewältigung des Notfalls für eine befristete Zeit auch längere Arbeitszeiten, kürzere Ruhezeiten sowie die Beschäftigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen für bestimmte Tätigkeiten notwendig und zulässig sein könnten. Daher bestehe offenkundig ein erhebliches, wenn nicht gar äußerst vordringliches öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der Allgemeinverfügung vom 20.01.2022. Demgegenüber sei das Interesse der Antragsteller an der Aussetzung der Vollziehung der Allgemeinverfügung vom 20.01.2022 erheblich geringer zu bewerten.
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Auch habe die Anfechtungsklage in der Hauptsache bei Betrachtung der im Rahmen des Eilverfahrens allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung keine Aussicht auf Erfolg. Es bestehe ein dringendes öffentliches Interesse nach § 15 Abs. 2 ArbZG. Der Allgemeinverfügung vom 20.01.2022 liege eine prognostische Lagebeurteilung eines dafür zuständigen Expertengremiums zugrunde. Es würden Regelungen zur Vermeidung und Verhinderung eines Schadenseintritts für hochrangige Rechtsgüter - die Versorgungssicherheit im Regierungsbezirk O* … - getroffen. Die Allgemeinverfügung lasse Ausnahmen von den generellen Bestimmungen des ArbZG gerade deswegen für bestimmte Tätigkeitsbereiche der kritischen Infrastruktur allgemein und nicht differenziert nach spezifischen Tätigkeitsfeldern zu, damit kurzfristige, vorliegend pandemiebedingte, Personalausfälle durch betriebsinterne Personalverschiebungen aufgefangen werden könnten. Eine Verlängerung der Arbeitszeit dürfe jeweils nur unter dem Vorbehalt erfolgen, dass diese „wegen der Corona-Pandemie zur Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur notwendig sei“. Entgegen der Auffassung der Antragstellerseite könne auch keine Rede davon sein, dass die Allgemeinverfügung nicht erforderlich wäre, weil das ArbZG anderweitige Ausnahmetatbestände, wie insbesondere §§ 10, 13, 14 ArbZG vorhalte. Der Gesetzgeber habe den § 15 Abs. 2 ArbZG gerade zur Bewältigung akuter Krisen geschaffen und den Aufsichtsbehörden insoweit bewusst einen weiten Spielraum eingeräumt, da auch der Gesetzgeber des ArbZG die erforderlichen Ausnahmen nicht für jede Art von Krise im Voraus typisieren habe können. Auch sei die Allgemeinverfügung vom 20.01.2022 hinsichtlich der Regelung ihres sachlich-persönlichen Anwendungsbereichs in Ziffer 1 nicht zu unbestimmt. Eine konkrete Benennung der einzelnen Betriebe und Unternehmen als Adressaten der Verfügung sei weder geboten noch erforderlich. Es liege in der Rechtsnatur einer Allgemeinverfügung nach Art. 35 Satz 2 BayVwVfG, dass diese sich nicht auf einen oder mehrere namentlich bestimmte Inhaltsadressaten beschränke. Einer Allgemeinverfügung, die sich wie die Vorliegende an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Adressatenkreis richte, sei es immanent, dass der potentielle Adressat erst noch einen eigenständigen Subsumtionsschritt unternehmen müsse, um sich Klarheit darüber verschaffen zu können, ob diese an ihn gerichtet sei oder nicht. Der Wortlaut der Ziffer 1 Satz 1 bestimme als Regelungsadressaten Organisationen und Einrichtungen der kritischen Infrastruktur und umschreibe diese im Hinblick auf die Versorgungsbedeutung der Tätigkeitsbereiche näher. Ziffer 1 Satz 2 enthalte ergänzend einen nicht abschließenden Beispielskatalog derjenigen Tätigkeitsbereiche, die der Regelungsgeber in erster Linie ins Auge gefasst habe. Darüber hinaus könne der Katalog als Auslegungshilfe für den Grundtatbestand in Satz 1 herangezogen werden. Ferner sei auch die Ermessensausübung des Antragsgegners bei Erlass der Allgemeinverfügung nicht zu beanstanden. Angesichts der akuten Notlage und der vom zuständigen Expertengremium prognostizierten, zu erwartenden weiteren pandemiebedingten Personalausfälle im Bereich der kritischen Infrastruktur hätten die Partikularinteressen der Antragsteller an der unbeschränkten Gewährleistung der Tarifautonomie, des Sonn- und Feiertagsschutzes sowie daran, von gegebenenfalls zu erwartenden Arbeitszeiterhöhungen verschont zu bleiben, im Ergebnis zurückzutreten. Dass dies angesichts der derzeitigen Ausnahmesituation sowie der zeitlich befristeten Geltung der in Rede stehenden Ausnahmeregelungen letztlich auch verhältnismäßig sei, stehe unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Bekämpfung der Corona-Pandemie und die Abfederung ihrer Auswirkungen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung seien, außer Frage.
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Zu den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakte, § 117 Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung analog (VwGO).
II.
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Der einstweilige Rechtsschutzantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
13
1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere sind die Antragsteller antragbefugt.
14
Die erforderliche Antragsbefugnis der Antragstellerin zu 1) als Gewerkschaft ist vorliegend gemäß § 42 Abs. 2 VwGO analog gegeben, da sie geltend machen kann, durch die Allgemeinverfügung möglicherweise in eigenen Rechten verletzt zu werden. Die Antragstellerin zu 1) kann sich auf den Sonn- und Feiertagsschutz gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV als subjektive Rechte begründende Norm berufen, da damit auch die sich aus Art. 9 GG ergebenden Schutzpflichten des Staates hinsichtlich der Koalitionsfreiheit konkretisiert werden. Die angegriffene Allgemeinverfügung gestattet in Ziffer 4 abweichend von § 9 ArbZG als einfachgesetzliche Ausgestaltung des Sonn- und Feiertagsschutzes auch die Arbeit an Sonn- und Feiertagen in einer Reihe von Bereichen, die dem Organisationsbereich der Antragstellerin zu 1) als Gewerkschaft … zuzuordnen sind. Sie kann sich daher zum Schutz von Arbeitnehmern gegen die Gestattung von Tätigkeiten an Sonn- und Feiertagen wenden (vgl. BVerfG, U.v. 01.12.2009 - 1 BvR 2857/07 und 1 BvR 2858/07, BVerwG, U.v. 27.01.2021 - 8 C 3.20 - juris). Nach ständiger Rechtsprechung dient die gesetzliche Ausgestaltung des Sonntagsschutzes auch dem Schutz des Interesses von Vereinigungen und Gewerkschaften am Erhalt günstiger Rahmenbedingungen für gemeinschaftliches Tun und ist in diesem Sinne drittschützend (vgl. BVerwG, U.v. 17.05.2017 - 8 CN 1.16 - juris Rn. 10 ff. m.w.N.).
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Hinsichtlich der Regelungen in Ziffer 2 und 3 der Allgemeinverfügung, namentlich der Erhöhung der Höchstarbeitszeit und der Verkürzung der Ruhezeiten, ergibt sich die Antragsbefugnis der Antragstellerin zu 1) aus einer möglichen Verletzung von § 7 ArbZG. Mittels dieser Vorschrift werden die Vorgaben des ArbZG in Teilen tarifdispositiv, was zur Folge hat, dass den Gewerkschaften das Recht zusteht, über Abweichungen zu verhandeln und mitzubestimmen (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 3, Abs. 2a ArbZG). Mit der Regelung in der Allgemeinverfügung wird dieses Gestaltungsrecht für die Gewerkschaften in ihrem satzungsmäßigen Organisationsbereich vorübergehend außer Kraft gesetzt.
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Die Antragsbefugnis des Antragstellers zu 2) liegt ebenfalls vor. Dieser hat glaubhaft gemacht, dass er aktuell in O* … in einem Betrieb der Nahrungsmittelversorgung angestellt ist, mithin von der Allgemeinverfügung betroffen ist.
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Soweit der Antragsgegner meint, die Antragsteller seien nur insoweit antragsbefugt, als sie von der Allgemeinverfügung tatsächlich betroffen sind, ist darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich hinsichtlich beider Antragsteller eine mögliche Rechtsverletzung glaubhaft gemacht wurde. Eine Beschränkung der Antragsbefugnis auf einzelne Teile der Allgemeinverfügung erscheint dagegen nicht angezeigt, da die Entscheidung ohnehin nur „inter partes“ wirkt.
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2. Der einstweilige Rechtsschutzantrag ist auch begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO kann das Gericht der Hauptsache in Fällen des Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, in denen - wie hier - die gesetzlich vorgesehene aufschiebende Wirkung aufgrund einer behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung entfällt, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise wiederherstellen. In einem derartigen Verfahren prüft das Gericht, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind und trifft im Übrigen eine eigene, originäre Abwägungsentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich, ist das Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
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Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist dem vorliegende Antrag stattzugeben, weil die Klage der Antragsteller nach summarischer Überprüfung offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat und im Übrigen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheids nicht deutlich schwerer wiegt als das Interesse der Antragsteller an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage.
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a) Die in der Allgemeinverfügung zugelassenen Ausnahmen verfügen mit § 15 Abs. 2 ArbZG über eine grundsätzlich ausreichende, gesetzliche Rechtsgrundlage. Nach dieser Norm können über die im Arbeitszeitgesetz vorgesehenen Ausnahmen hinaus weitergehende Ausnahmen zulassen werden, „soweit sie im öffentlichen Interesse dringend nötig werden.“ Die Zulassung kann hierbei nicht nur mittels Einzelverfügung i.S.d. Art. 35 Satz 1 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG), sondern auch mittels Allgemeinverfügung i.S.d. Art. 35 S. 2 BayVwVfG erfolgen. Nach Art. 41 Abs. 3 Satz 2 BayVwVfG darf eine Allgemeinverfügung öffentlich bekannt gegeben werden, wenn eine Bekanntgabe an alle Beteiligten untunlich ist.
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Dies ist hier der Fall. Das erkennende Gericht hat keine Zweifel daran, dass eine individuelle Bekanntgabe mit Blick auf die große Zahl der von der Allgemeinverfügung Betroffenen nicht sinnvoll war, mithin die Bekanntgabe mittels Veröffentlichung im O* … Amtsblatt erfolgen durfte. Eine vorherige Anhörung der Betroffenen war gem. Art. 28 Abs. 2 Nr. 4 BayVwVfG nicht erforderlich. Die befürchteten Auswirkungen der Omikron-Welle auf die kritische Infrastruktur sind allem Anschein nach auch grundsätzlich geeignet, Ausnahmen nach § 15 Abs. 2 ArbZG zu rechtfertigen. Die erwarteten erheblichen infektionsbedingten Personalausfälle können wohl entsprechende, temporäre Einschränkungen für Beschäftigte in essentiellen Bereichen der kritischen Infrastruktur erforderlich machen und damit im „öffentlichen Interesse dringend nötig“ sein. In Anbetracht der Vielzahl von betroffenen Organisationen und Einrichtungen sowie des dynamischen Infektionsgeschehens dürften sich auch Abweichungen nach § 14 ArbZG als nicht zweckmäßig erweisen, mithin kein milderes Mittel darstellen.
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b) Die streitgegenständliche Allgemeinverfügung steht jedoch nach im einstweiligen Rechtsschutz nur möglicher, aber auch ausreichender summarischer Prüfung mit höherrangigem Recht, namentlich mit dem Bestimmtheitsgebot des Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG, nicht in Einklang. Sie lässt höchstwahrscheinlich nicht hinreichend bestimmt erkennen, an wen sie sich richtet bzw. wer von ihr betroffen ist.
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Das im allgemeinen Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelnde Bestimmtheitsgebot dient der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit und verlangt, dass ein rechtsstaatlicher Mindeststandard eingehalten wird. Der Adressat muss in der Lage sein, zu erkennen, was von ihm gefordert wird (BVerwG, Urt. v. 27.06.2012 − 9 C 7/11 - beck-online Rn. 15). Für die inhaltliche Bestimmtheit eines Verwaltungsakts genügt es, dass aus dem gesamten Inhalt des Verwaltungsakts und aus dem Zusammenhang, vor allem aus der von der Behörde gegebenen Begründung und aus den den Beteiligten bekannten näheren Umständen des Erlasses im Wege einer an den Grundsätzen von Treu und Glauben orientierten Auslegung hinreichende Klarheit gewonnen werden kann (VGH BW, Urt. v. 06.11.2013 - 1 S 1640/12 - juris Rn. 45 m.w.N.). Hierbei ist entsprechend § 133 BGB auf den erklärten Willen aus der Sicht eines verständigen Empfängers abzustellen (ebd.). Art. 35 S. 2 BayVwVfG reduziert die Bestimmtheitsanforderungen an Allgemeinverfügungen. Aus der Norm folgt, dass ein Verwaltungsakt bereits dann nicht zu unbestimmt ist, wenn die hiervon betroffenen Adressaten und Betroffenen „bestimmbar“ sind. Der Personenkreis muss nicht konkret feststellbar i. S. von zählbar sein; es reicht zumindest bei öffentlicher Bekanntgabe, wie sie vorliegend erfolgt ist, aus, wenn er gattungsmäßig benannt wird (Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 35 Rn. 282, § 37 Rn. 13). Abstraktgenerelle Regelung können mit Allgemeinverfügungen aber nicht getroffen werden (ebd. § 35 Rn. 283). Gerade im Zeitpunkt, in dem das in der Allgemeinverfügung geregelte Ereignis eintritt, muss auf Grund der gattungsmäßigen Bestimmung klar erkennbar sein, welche Personen die Regelung betrifft (ebd. Rn. 284). Jedenfalls bei belastenden Maßnahmen muss für die „Gattungs-Merkmale“ auf äußerlich zweifelsfrei erkennbare Merkmale abgestellt werden können (ebd. § 37 Rn. 13).
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Diesen Anforderungen wird die angegriffene Allgemeinverfügung nicht gerecht, weil sich der Adressaten- bzw. Betroffenenkreis nicht hinreichend klar bestimmen lässt. Die Allgemeinverfügung lässt in ihren Ziffern 2 bis 4 Ausnahmen vom Arbeitszeitgesetz für die in ihrer Ziffer 1 genannten Tätigkeiten zu. Ziffer 1 beschreibt die Tätigkeiten selbst jedoch nicht näher, sondern grenzt sie nur insoweit ein, als die Allgemeinverfügung „für Tätigkeiten in Organisationen und Einrichtungen“ der kritischen Infrastruktur gilt. Es erfolgt also ausschließlich eine Beschränkung auf bestimmte Wirtschaftsbereiche (Sektoren). Selbst wenn man annehmen wollte, dass die Allgemeinverfügung für alle Tätigkeiten in Organisationen und Einrichtungen der kritischen Infrastruktur gilt, wozu sie jedoch schweigt, bleibt unklar, welche Wirtschaftsbereiche hierunter konkret fallen. Die Definition der kritischen Infrastruktur in Ziffer 1 Satz 1 der Allgemeinverfügung allein ist nicht zuletzt aufgrund der vielen darin enthaltenen unbestimmten, normativen Wertungen zugänglichen Rechtsbegriffe („nachhaltig wirkende“, „erhebliche“, „schwerwiegend nachteilige“) nicht hinreichend aussagekräftig. Weder aus dem Text noch aus der insoweit unergiebigen Begründung der Allgemeinverfügung geht mit hinreichender Gewissheit hervor, welche Bereiche sie zur kritischen Infrastruktur zählt. Es hat sich auch noch kein allgemein anerkanntes, festes Begriffsverständnis der Kritischen Infrastruktur gebildet, wie bereits ein Blick auf die Seite des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) eindrucksvoll zeigt. Dort heißt es beispielsweise: „Die Einteilung der Kritischen Infrastrukturen in die einzelnen Sektoren und Branchen unterliegt einem stetigen Evaluierungsprozess, der die Entwicklungen des politischen Diskurses widerspiegelt“ (https://www...de/DE/Themen/Kritische-Infrastrukturen/Sektoren-Branchen/sektoren-branchen_node.html; jsessionid=28CA7547EAAD5ED1B7C637E20E68A07D.live132 zuletzt abgerufen am 15.02.2022). Die danebenstehende Abbildung auf dieser Internetseite zeigt, dass nach dem Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI-Gesetz - BSIG) acht Sektoren, nach der Bund Länder AG jedoch nur sieben davon, aber dafür zwei andere Sektoren zur kritischen Infrastruktur zählen.
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Dass die Definition in Ziffer 1 Satz 1 der Allgemeinverfügung die relevanten Wirtschaftsbereiche nicht hinreichend bestimmbar macht, dürfte auch dem Antragsgegner bewusst gewesen sein, weshalb er der abstrakten Beschreibung des Anwendungsbereichs in Ziffer 1 Satz 1 der Allgemeinverfügung eine konkretisierende, aber ausdrücklich nicht abschließend gemeinte („insbesondere“) Aufzählung von Regelbeispielen für Tätigkeiten in Bereichen der Kritischen Infrastruktur beigefügt hat. Der Begriff der kritischen Infrastruktur ist daher unter maßgeblicher Berücksichtigung der aufgelisteten Regelbeispiele auszulegen (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2021 - 20 NE 21.3012 - juris Rn. 12 ff.; B.v. 29.12.2021 - 20 NE 21.3037 - juris Rn. 12; vgl. auch BVerwG, U.v. 29.01.2014 - 6 C 16.09 - juris Rn. 44; BVerwG, U.v. 29.08.2019 - 7 C 33.17 - juris Rn. 16). Vorliegend führt jedoch die Heranziehung der Regelbeispiele nicht zu einer hinreichenden Klärung des Begriffsverständnisses, sondern im Gegenteil zu einem nicht auflösbaren Widerspruch. So ist als Regelbeispiel in Ziffer 1 Satz 2 der Allgemeinverfügung der „öffentliche Dienst“ ohne nähere Eingrenzung genannt. Der Begriff öffentlicher Dienst beinhaltet sowohl die Gesamtheit des Staatspersonals als auch das besondere Arbeitsverhältnis der Staatsbeschäftigten zu ihrem Arbeitgeber (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, https://www...de/kurz-knapp/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/202082/oeffentlicher-dienst/ zuletzt abgerufen am 15.02.2022); hierzu zählen in Bayern ca. 800.000 Beschäftigte. Damit wäre die Allgemeinverfügung beispielsweise auch auf alle Tätigkeiten in staatlichen Archiven, Museen, Forstbetrieben, Bädern und Thermen anzuwenden, die zumindest nicht generell unter die Definition in Ziffer 1 Satz 1 der Allgemeinverfügung subsumiert werden können. Zudem soll nach Ziffer 1 Satz 3 der Allgemeinverfügung bei der Einstufung der in Satz 2 genannten Bereiche ein „großzügiger Maßstab zugrunde gelegt werden“. Auch bei wohlwollender Auslegung und unter Berücksichtigung der besonderen Zwänge, welche die Ausnahmesituation der COVID19-Pandemie mit sich bringt, kann daher nicht mehr von einer hinreichenden Bestimmbarkeit des Adressaten- bzw. Betroffenenkreises ausgegangen werden (vgl. zur ähnlichen Auslegungsfragen BayVGH, B.v. 19.01.2022 - 20 NE 21.3119 - beck-online Rn. 24). Entsprechend des Begriffs „öffentlicher Dienst“ verhält es sich u.a. auch mit den Bereichen „Landwirtschaft“ und „Versicherungswesen“ in Ziffer 1 Satz 2 der Allgemeinverfügung. Auch diese sind sehr weit und weder kongruent zur Definition in Ziffer 1 Satz 1 noch stimmig mit der Begründung der Allgemeinverfügung, die auf Ausnahmen für „lebensnotwendig[e]“ Dinge abstellt.
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Auch der in der Antragserwiderung vom 10.02.2022 vom Antragsgegner erfolgte Verweis auf die Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen nach dem BSI-Gesetz (BSI-Kritisverordnung - BSI-KritisV) und die vom BBK herausgegebene Übersicht kann keine hinreichende Klarheit schaffen. Erstens sind diese Quellen weder in der Allgemeinverfügung noch deren Begründung erwähnt. Zweitens ist die Definition der kritischen Infrastruktur in § 2 Abs. 10 Nr. 2 BSIG zwar ähnlich, aber nicht identisch mit der in Ziffer 1 Satz 1 der Allgemeinverfügung. Drittens geht aus den vom Antragsgegner zitierten Quellen hervor, dass danach nur einzelne Tätigkeiten innerhalb der jeweiligen zur kritischen Infrastruktur gezählten Sektoren als „kritische Dienstleitungen“ einzustufen sind (z.B. im Sektor „Staat und Verwaltung“ nur die „Umsetzung von Recht im Rahmen der Eingriffs- und Leistungsverwaltung“, die Gefahrenabwehr, die Verteidigung, die Gesetzgebung, die Kontrolle der Regierung und die Rechtsprechung und deren Vollzug). Eine solche, sinnvolle Eingrenzung nach einzelnen kritischen Dienstleistungen findet sich in der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung jedoch gerade nicht.
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Hinzu kommt vorliegend, dass der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG besonders hohe Anforderungen an straf- und bußgeldbewehrt Regelungen stellt. Diese Grundgesetznorm enthält die Verpflichtung, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Diese Verpflichtung dient u.a. dem rechtsstaatlichen Schutz des Normadressaten: Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist (zum Ganzen: BVerfG, B.v. 22.06.1988 - 2 BvR 234/87 - juris Rn. 25 m.w.N.). Diese erhöhten Bestimmtheitsanforderungen finden vorliegend zumindest entsprechend Anwendung. § 22 Abs. 1 Nrn. 1, 3 und 5, § 23 Abs. 1 ArbZG bedroht nämlich Verstöße gegen die hier relevanten Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes mit Bußgeld bzw. Strafe und deren Reichweite ist letztlich von den mit der Allgemeinverfügung zugelassenen Ausnahmen abhängig.
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Die Frage, ob der Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot hier zur Rechtswidrigkeit oder sogar zur Nichtigkeit der Allgemeinverfügung führt, kann im vorliegenden Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO dahingestellt bleiben. Denn die Schutzfunktion des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO, der ohnehin nur eine Interimslösung herbeiführt, wird auch durch einen nichtigen Verwaltungsakt ausgelöst (vgl. Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Juli 2021, § 80 Rn. 37-37a). Das Gericht kann folglich auch im Fall eines nichtigen Verwaltungsakts gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen.
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c) Im Übrigen wäre für den Fall, dass man die Ziffer 1 der Allgemeinverfügung - entgegen der in Ziffer 1 Satz 1 erkennbaren behördlichen Intension - dadurch hinreichend bestimmt machen wollte, dass man die betroffenen Bereiche kritischer Infrastruktur entsprechend der Regelbeispiele in Ziffer 1 Sätze 2, 3 sehr weit und umfassend verstehen würde, die Allgemeinverfügung ebenfalls rechtswidrig. Denn die verfügten Ausnahmen wären dann höchstwahrscheinlich nicht verhältnismäßig. Mit der Allgemeinverfügung werden - wenngleich nur temporäre - so doch erhebliche Ausnahmen vom Arbeitszeitgesetz für eine große Zahl von Betroffenen zugelassen. Hierfür bedarf es entsprechend gewichtige Gründe, die in den befürchteten Auswirkungen der Omikron-Welle zwar grundsätzlich bestehen können (s.o.), aber eben nicht für solche Wirtschaftsbereiche und Dienstleistungen, deren eingeschränkte Verfügbarkeit bzw. Ausfall für einige Wochen keine ernsten Gefahren für das Gemeinwesen bzw. Einzelne mit sich bringt. Überdies hat der Antragsgegner nicht glaubhaft gemacht, dass ernstzunehmende Funktionsbeeinträchtigungen bereits konkret eingetreten sind oder zumindest unmittelbar bevorstehen.
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d) Ob die Allgemeinverfügung aus weiteren Gründen rechtswidrig ist, braucht nicht entschieden werden. Insbesondere offenbleiben kann demnach, ob eine hinreichende Ermessensausübung stattgefunden hat. Hierzu ist daher nur Folgendes anzumerken: Der vorgelegten Behördenakte der …, die für den Erlass der Allgemeinverfügung zuständig ist, lässt sich nicht entnehmen, dass sie Ermessen ausgeübt hat. Vielmehr ist ihr der Text der Allgemeinverfügung vollständig vom StMAS zur Verfügung gestellt worden. Eine Ermessensausübung durch das StMAS könnte ausnahmsweise dann genügen, wenn das StMAS die … angewiesen hätte, die Allgemeinverfügung zu erlassen. Dies kann der E-Mail des StMAS vom 19.01.2022 („darf Sie bitten“) eher nicht zu entnehmen sein. Ob die vom StMAS gefertigte Begründung der Allgemeinverfügung oder die Behördenakte des StMAS eine hinreichende Ermessensausübung erkennen lässt, musste daher nicht nachgegangen werden; eine Aufforderung des Antragsgegners zur Vorlage des StMAS-Behördenaktes war entbehrlich.
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e) Jedenfalls aufgrund der aufgezeigten Unbestimmtheit der Allgemeinverfügung, die sich auf alle darin enthaltenen einzelnen Ausnahmeregelungen auswirkt, sind die Antragsteller auch allem Anschein nach in ihren Rechten verletzt. So können auch Dritte einen Verwaltungsakt unter Berufung auf Bestimmtheitsmängel angreifen, wenn ein Regelungsbereich betroffen ist, der für die Gewährleistung ihrer subjektiven Rechtspositionen von Bedeutung ist (Schröder in Schoch/Schneider, VwVfG, Stand: August 2021, § 37 Rn. 47).
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f) Die eigene, originäre Abwägungsentscheidung des Gerichts zwischen den Vollzugsinteressen des Antragsgegners und den Supensivinteressen der Antragsteller geht hier klar zugunsten der Letzteren aus. Da die angegriffene Allgemeinverfügung höchstwahrscheinlich rechtswidrig ist, überwiegt regelmäßig das Suspensivinteresse (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 80 Rn. 90). Im vorliegenden Fall sind auch keine aktuell bestehenden, so gewichtigen Vollzugsinteressen vom Antragsgegner glaubhaft gemacht worden, die das durch den wahrscheinlichen Erfolg der Anfechtungsklage in der Hauptsache begründete Suspensivinteresse übersteigen würden.
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3. Abschließend sei angemerkt, dass der vorliegende Beschluss - anders als beispielsweise eine stattgebende Entscheidung im Normenkontrollverfahren nach § 47 Abs. 5 S. 2, Abs. 6 VwGO - nicht erga omnes, sondern nur inter partes wirkt, die aufschiebende Wirkung also nur gegenüber den Antragstellern wiederherstellt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, § 80 Rn. 172). Die … hat es letztlich in der Hand, Maßnahmen bezüglich aller von der Allgemeinverfügung Betroffenen zu ergreifen oder die Streitigkeit von der nächsthöheren Gerichtsinstanz weiterzuverfolgen.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG), wobei das erkennende Gericht von einer Reduzierung des Streitwerts gemäß Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 absieht, da die Antragsteller mit dem Eilverfahren faktisch eine Vorwegnahme der Hauptsache begehren (so auch Hess. VGH, B.v. 29.9.2017 - 8 B 1977/17 - juris Rn. 28). Eine Verbandsklage nach Nr. 1.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 ist vorliegend nicht gegeben, da auch die Antragstellerin zu 1) eine Verletzung eigener Rechte und nicht die ihrer Mitglieder geltend macht.