Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 22.04.2022 – AN 4 K 19.30236 , AN 4 K 19.30767
Titel:

Abschiebungsverbot für alleinerziehende Mutter mit minderjährigen Kindern – Demokratische Republik Kongo

Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
GG Art. 6
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK und ein daraus resultierendes Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG kann sich allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung ergeben. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Lebt der Ausländer in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Eine derartige Prognose setzt jedoch voraus, dass die familiäre Gemeinschaft zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden; für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Demokratische Republik, Kongo, Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG wegen drohender existenzieller Gefahrenlage für alleinerziehende Mutter und ihre zwei minderjährigen Kinder ohne Unterstützung durch die Familie oder einen Mann, keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, keine Gefahr einer Zwangsverheiratung oder weiblichen Genitalverstümmelung, alleinerziehend, minderjährige Kinder, kein familiäres Netzwerk, kein soziales Netzwerk, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Demokratische Republik Kongo, Kernfamilie, Prognose, Existenzminimum
Fundstelle:
BeckRS 2022, 28091

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Februar 2019 wird in Ziffern 4 bis 6 aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass bei den Klägern zu 1) und 2) ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo vorliegt (AN 4 K 19.30236).
2. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Juni 2019 wird in Ziffern 4 bis 6 aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass bei der Klägerin zu 3) ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo vorliegt. Im Übrigen wird die Klage gegen den Bescheid vom 17. Juni 2019 abgewiesen (AN 4 K 19.30767).
3. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte zu zwei Dritteln und die Klägerin zu 3) zu einem Drittel. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
4. Das Urteil ist in Ziffer 3 vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Kläger sind Staatsangehörige der Demokratischen Republik Kongo und christlichen Glaubens. Die Kläger zu 1) und 2) reisten am 10. September 2018 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 25. September 2018 Asylanträge. Ausweislich der beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 14. März 2019 eingegangenen Geburtsanzeige wurde die Klägerin zu 3) am 21. Februar 2019 in der Bundesrepublik Deutschland geboren.
2
In der persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 1. Oktober 2018 zu den Asylanträgen der Kläger zu 1) und 2) trug die Klägerin zu 1) im Wesentlichen vor, dass sie vor ihrer Ausreise in K. gelebt habe. Am 10. August 2017 sei sie nach B.Republik Kongo (Aufenthalt drei Wochen), von dort mit dem Flugzeug nach Benin (Aufenthalt vom 2. September 2017 bis 2. August 2018), dann mit dem Flugzeug nach Russland (Aufenthalt vom 4. August 2018 bis 10. September 2018) und schließlich mit dem Flugzeug nach Deutschland gereist. Sie sei 12 Jahre zur Schule gegangen, habe anschließend die Uni besucht, aber keinen Abschluss gemacht. Im Kongo und in Benin habe sie kleinen informellen Handel z.B. mit Kleidung betrieben.
3
Der Ziehvater der Klägerin zu 1) habe eine Druckerei gehabt, in der er Werbematerial der Opposition gedruckt habe. Die Leute an der Regierung seien damit nicht zufrieden gewesen. Trotz Drohungen gegen ihn habe der Ziehvater der Klägerin zu 1) weitergearbeitet. Am 24. Juli 2017 gegen 8:00 Uhr morgens seien vier zivilgekleidete Männer, die sich als ANR-Mitarbeiter vorgestellt hätten, ins Haus gekommen und hätten die Klägerin zu 1) und ihren Ziehvater festgenommen und in eine Militärkaserne gebracht. Dort sei die Klägerin zu 1) über die Aktivitäten ihres Ziehvaters befragt worden, über die sie nichts gewusst habe. Da die Anhörer mit ihrer Antwort nicht zufrieden gewesen seien, hätten sie die Klägerin zu 1) geschlagen und gefoltert. Sie hätten die Klägerin zu 1) festgehalten, ihr nicht regelmäßig zu essen gegeben und sie nicht auf die Toilette gehen lassen. Die Klägerin zu 1) sei in einer Zelle eingesperrt gewesen. Am 26. Juli 2017 gegen 18:00 Uhr sei ein Wächter zu ihr ins Zimmer gekommen, der gesagt habe, dass sie die Klägerin zu 1) zu ihrer eigenen Frau machen würden, wenn sie nicht die Wahrheit über ihren Ziehvater erzähle. Der Mann habe die Klägerin zu 1) vergewaltigt. Dabei habe er sie mit einem Messer unter der Brust verletzt. Die Klägerin zu 1) habe viel geblutet und sei bewusstlos geworden. Sie sei in einer Krankenstation aufgewacht. Man habe ihr erzählt, dass eine Frau sie auf offener Straße bewusstlos in einem Busch gesehen und ins Krankenhaus gebracht habe. Nach der Behandlung sei die Klägerin zu 1) am Abend des 27. Juli 2017 nach Hause gegangen. Das Haus sei verwüstet gewesen. Nach der Festnahme der Klägerin zu 1) und ihres Ziehvaters seien die gleichen Leute zurückgekommen und hätten die anderen Familienmitglieder mitgenommen. Die Nachbarn hätten ihr geraten, nicht in dem Haus zu bleiben. Die Klägerin zu 1) sei nach B. und weiter nach Benin gereist. Die Frau, bei der der Sohn der Klägerin zu 1), der Kläger zu 2), in Benin gelebt habe, habe die Klägerin zu 1) bei sich wohnen lassen. Die Klägerin zu 1) habe wieder mit kleinem informellen Handel angefangen.
4
Der Ziehvater der Klägerin zu 1) sei ein Freund ihres Vaters gewesen. Ihre Eltern hätten zwischen A. und K. Handel getrieben, aber in A. gewohnt. Der Vater sei bei einem Autounfall gestorben. Die Mutter sei nach A. zurück und habe die Klägerin zu 1) bei der Großmutter mütterlicherseits gelassen. Nachdem diese gestorben sei, habe der Freund ihres Vaters die Klägerin zu 1) aufgenommen. Damals sei sie acht Jahre alt gewesen. Der Ziehvater habe drei Söhne und eine Tochter gehabt. Die Söhne des Ziehvaters seien von den gleichen Leuten mitgenommen worden. Die Tochter des Ziehvaters sei bei ihrem Freund gewesen. Was mit dem Ziehvater und seinen Söhnen passiert sei, wisse die Klägerin zu 1) nicht. Kurz nach ihrer Ausreise habe die Klägerin zu 1) mit Nachbarn telefoniert, die ihr erzählt hätten, dass niemand zum Haus gekommen sei. Im September habe die Klägerin zu 1) versucht, sich über das Schicksal ihrer Familie zu erkundigen, aber es sei ihr nicht gelungen. Dann habe sie das Telefon mit den zwei Nummern verloren. Bis heute wisse sie nicht, was dem Rest der Familie passiert sei. Der Kongo sei immer noch unsicher, deshalb wisse sie nicht, was ihr im Fall einer Rückkehr passieren würde. Ihr Leben sei dort unsicher.
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Die Klägerin zu 1) sei 2007 nach Benin gegangen, habe dort 2009 den Kläger zu 2) bekommen und sei 2013 in den Kongo zurückgekehrt. Der Vater des Klägers zu 2) sei in Benin geblieben. Er sei Student gewesen und sie hätten auf dem Grundstück der Frau gewohnt, bei der der Kläger zu 2) geblieben sei.
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In der persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 7. Mai 2019 zum Asylantrag der Klägerin zu 3) trug die Klägerin zu 1) im Wesentlichen vor, dass die Mutter und die Schwester der Klägerin zu 1) in A. leben würden. Die Klägerin zu 1) habe zunächst bei ihrer Großmutter im Kongo gelebt, dann bei ihrem Ziehvater. Weitere Verwandte habe die Klägerin zu 3) im Kongo nicht. Der Vater der Klägerin zu 3), E., lebe nach Wissen der Klägerin zu 1) in K. Die Klägerin zu 1) und er hätten eine längere Beziehung gehabt, aus der auch der Kläger zu 2) stamme. Nach der Trennung seien sie wieder zusammengekommen, hätten sich nach der Geburt der Klägerin zu 3) aber wieder getrennt. Die Klägerin zu 1) habe Angst, dass die Klägerin zu 3) beschnitten werde. Dies sei bei den Frauen in ihrer Kultur so. Sie selbst sei nicht beschnitten worden, da ihre Großmutter sie davor geschützt habe. Das sei auch der Grund dafür gewesen, dass die Klägerin zu 1) bei ihrer Großmutter gelebt habe. Die Schwester der Klägerin zu 1) sei beschnitten worden, aber die Großmutter habe das für die Klägerin zu 1) nicht gewollt. Alle anderen Frauen in der Familie seien beschnitten worden. Die Beschneidung der Schwester der Klägerin zu 1) sei vom Familienoberhaupt gewollt gewesen. Der ganze Clan (L.*) entscheide darüber und mache es, weil es bei ihnen so Brauch sei. Danach gefragt, von wem die Bedrohung einer Beschneidung der Klägerin zu 3) im Kongo ausgehen würde, erklärte die Klägerin zu 1), dass sie dort keine Familie habe. Die Klägerin zu 1) selbst besitze die angolanische Staatsangehörigkeit, die Staatsangehörigkeit der Klägerin zu 3) kenne sie nicht, der Vater der Klägerin zu 3) sei aus dem Kongo. Auf die Frage, in welchem Land der Klägerin zu 3) die Beschneidung drohen würde, erklärte die Klägerin zu 1), in A.. Im Kongo habe sie niemanden. Danach gefragt, ob die Klägerin zu 1) die Klägerin zu 3) vor der drohenden Beschneidung durch ihre Familie schützen könne, erklärte die Klägerin zu 1), dass sie gegen ihre Familie nichts machen könne und gegen sie keine Macht hätte. Wo genau ihre Familie in A. lebe, wisse sie nicht. Ob die Klägerin zu 1) mit der Klägerin zu 3) zu deren Vater zurückkönne, wisse sie nicht, da sie nicht verheiratet seien. Der Vater der Klägerin zu 3) sei Christ. Die Großmutter habe die Klägerin zu 1) damals retten können. Ihre Großmutter sei eine Älteste gewesen, aber die Klägerin zu 1) sei eigentlich noch ein Kind ihres Clans und könne sich nicht gegen die Ältesten durchsetzen.
7
Mit Bescheid vom 8. Februar 2019 betreffend die Kläger zu 1) und 2) bzw. vom 17. Juni 2019 betreffend die Klägerin zu 3) erkannte das Bundesamt den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte die Anträge auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3), stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG fest (Ziffer 4), drohte den Klägern unter Setzung einer Ausreisefrist von 30 Tagen die Abschiebung - in erster Linie - „in den Kongo“ betreffend die Kläger zu 1) und 2) bzw. in die Demokratische Republik Kongo betreffend die Klägerin zu 3) an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Auf den weiteren Inhalt der Bescheide wird ergänzend Bezug genommen.
8
Die Kläger zu 1) und 2) haben am 19. Februar 2019 Klage erhoben. Soweit die Kläger zu 1) und 2) ursprünglich die Aufhebung der Ziffern 1 bis 3 des Bescheides vom 8. Februar 2019 sowie die Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung der Asylberechtigung, zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus begehrt haben, die Klage in der mündlichen Verhandlung jedoch insoweit zurückgenommen haben, wurde das Verfahren abgetrennt und unter dem Aktenzeichen AN 4 K 22.30186 eingestellt. Die Kläger zu 1) und 2) beantragen zuletzt noch,
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Februar 2019 wird in Ziffern 4 bis 6 aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9
Die Klägerin zu 3) ließ am 9. Juli 2019 Klage erheben und beantragt,
der Bescheid der Beklagten vom 17. Juni 2019, zugestellt am 26. Juni 2019, wird aufgehoben,
die Beklagte wird verpflichtet, die Flüchtlingseigenschaft der Klägerin zu 3) gemäß § 3 AsylG festzustellen,
hilfsweise: die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin zu 3) subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren,
weiter hilfsweise: die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei der Klägerin zu 3) Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
10
Zur Klagebegründung führte der Prozessbevollmächtigte der Kläger im Wesentlichen aus, dass die Klägerin zu 3) kongolesische Staatsangehörige christlichen Glaubens sei. Die Klägerin zu 1) fürchte im Fall einer Rückkehr in den Kongo, dass die Klägerin zu 3) dort zwangsverheiratet und einer Genitalverstümmelung unterzogen werde. Genitalverstümmelung sei im Kongo nach wie vor weit verbreitet und werde insbesondere vom Volk der L. praktiziert. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen im Kongo durchaus eine noch häufig geübte Praxis.
11
Die Beklagte beantragt mit Schriftsätzen vom 22. Februar 2019 und 15. Juli 2019 jeweils,
die Klage wird abgewiesen.
12
Zur Begründung bezog sie sich auf die angefochtenen Bescheide.
13
In der mündlichen Verhandlung am 12. April 2022 führte die Klägerin zu 1) ergänzend aus, dass sie mit ihrem Ziehvater, ihren drei Ziehbrüdern und ihrer Ziehschwester in einem Mietshaus gewohnt habe. Zum Zeitpunkt der Ausreise seien die Brüder 30, 27 und 12 Jahre alt gewesen, die Schwester 36 Jahre alt. Den letzten Kontakt zu ihrer Ziehfamilie habe sie im Juli 2017 gehabt. Im September 2017 habe sie versucht, über einen Nachbarn Kontakt aufzunehmen. Die Nachbarin habe versucht, die Familie zu finden, aber es sei niemand mehr da gewesen. Anderweitige Kontaktversuche habe sie nicht unternommen. Die Klägerin zu 1) wisse nicht, wo sich ihre Ziehfamilie heute aufhalte und wie es ihr gehe. Zu ihrer leiblichen Familie in A. habe die Klägerin zu 1) seit sie klein sei keinen Kontakt mehr. Diese wisse auch nichts von der Geburt der Klägerin zu 3). Die Eheschließung mit dem Vater ihrer Kinder sei eine traditionelle Eheschließung gewesen. Die Familien kämen zusammen, man lerne sich kennen und im nächsten Schritt würde die Verlobung folgen. Den letzten Kontakt zu ihm habe sie 2018 gehabt. Wo er heute lebe, was er arbeite und ob er verheiratet sei, wisse sie nicht. Theoretisch sei es möglich, dass er neu verheiratet sei, weil die Eheschließung keine offizielle Heirat gewesen sei. Im Fall einer Rückkehr in die Demokratische Republik Kongo habe die Klägerin zu 1) keine Chance, eine Wohnung oder Arbeit zu finden. Mit zwei Kindern gebe es dort keine Arbeit für sie. Unterstützung vom Staat sei nicht vorhanden. Den informellen Handel habe die Klägerin zu 1) mit Kleinigkeiten, z.B. traditionellen Stoffen und Perücken, betrieben. Es habe sich um kleine Beträge gehandelt, die nicht reichen würden, um den Lebensunterhalt für sich und ihre zwei Kinder zu finanzieren.
14
Bezüglich der Furcht vor einer Zwangsverheiratung der Klägerin zu 3) führte die Klägerin zu 1) aus, dass sie selbst von ihrem Ziehvater beschützt worden sei. In der Demokratischen Republik Kongo gebe es Kinderarbeit. Vor allem junge Mädchen würden verschleppt und zwangsverheiratet werden. Als alleinerziehende Frau mit zwei Kindern könne sie ihre Kinder schwer beschützen. Auf Frage des Klägervertreters, vom wem die Gefahr einer Verschleppung, Zwangsverheiratung oder Genitalverstümmelung der Klägerin zu 3) ausgehen würde, erklärte die Klägerin zu 1), dass es schon mit der Beschneidung losgehe. Als Frau könne sie dem wenig entgegensetzen. Kinder würden auch verschleppt werden. Als alleinerziehende Frau könne sie das schwer verhindern.
15
Mit Beschlüssen der Kammer vom 20. Dezember 2021 sind die Rechtsstreite der Berichterstatterin zur Entscheidung als Einzelrichterin übertragen worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten sowie die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vom 12. April 2022 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

17
Die Verfahren AN 4 K 19.30236 und AN 4 K 19.30767 wurden mit Beschluss vom 12. April 2022 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden (§ 93 Satz 1 VwGO).
18
Über die Klagen konnte trotz Ausbleibens der Beklagten verhandelt und entschieden werden, da sie hierauf bei der Ladung hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
19
I. Nach der Teilklagerücknahme der Kläger zu 1) und 2) war lediglich noch über die Frage des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG, die Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung und die Rechtmäßigkeit der Entscheidung über das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG zu entscheiden. Die zulässige Klage der Kläger zu 1) und 2) ist begründet. Die Kläger zu 1) und 2) haben Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 VwGO hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo, sodass der Bescheid vom 8. Februar 2019 aufzuheben ist, soweit er diesem Anspruch entgegensteht, sprich hinsichtlich der Ziffern 4 bis 6.
20
1. Die Kläger zu 1) und 2) haben Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 VwGO hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo.
21
a) Nach § 60 Abs. 5 AsylG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen sind unter anderem dann verboten, wenn dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK droht. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK und ein daraus resultierendes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG kann sich allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung ergeben (BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - juris Rn. 17). Schlechte humanitäre Verhältnisse im Herkunftsland können nur im Ausnahmefall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen (BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - juris 9; BayVGH, B.v. 26.3.2019 - 8 ZB 18.33221 - juris 11). Dies setzt voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht wird. Das kann der Fall sein, wenn ein Ausländer im Zielstaat seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - BVerwGE 166,13 - juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 26.3.2019 - 8 ZB 18.33221 - juris 11).
22
Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist eine - zwar notwendig hypothetische, aber doch - realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - BVerwGE 166,13 - juris Rn. 16 ff.).
23
b) Die humanitäre Lage in der Demokratischen Republik Kongo stellt sich allgemein wie folgt dar:
24
Trotz seiner wertvollen natürlichen Ressourcen (Bodenschätze, Holz, Wasserkraft, fruchtbare Böden) ist die Demokratische Republik Kongo ein armes Land. Es ist geprägt vom Bergbau, von landwirtschaftlicher Subsistenzwirtschaft und Kleinhandel. Die Landwirtschaft macht etwa 40% des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Demokratische Republik Kongo ist sehr schwach industrialisiert. Die Rohstoffindustrie ist ein wachsender Wirtschaftszweig, besonders der Bergbausektor (Kupfer, Kobalt, Gold, Diamanten, Coltan, Kasserit, seltene Erden). 80 - 90% der Wirtschaftsleistung spielen sich in der Schattenwirtschaft ab (Auswärtiges Amt, Demokratische Republik Kongo, Wirtschaftspolitik, 28.8.2019).
25
Der überwiegende Teil der Bevölkerung in der Demokratischen Republik Kongo lebt am Rande des Existenzminimums (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Republik Kongo, Stand: November 2020 [im Folgenden AA 2020], S. 19). Im „Human Development Index 2019“ der Vereinten Nationen belegt die Demokratische R. K. Platz 175 von 189 betrachteten Ländern. Schätzungen der Weltbank zufolge leben 73% der kongolesischen Bevölkerung von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag. Diese arme Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf die Provinzen Kasai und die nordwestlichen Provinzen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist zum Überleben auf den informellen Sektor und die Subsistenzlandwirtschaft angewiesen. Dorfgemeinschaften, Großfamilien und lokale Frauengruppen bieten die wichtigsten Rahmenbedingungen für Solidarität und Selbstorganisation (Bertelsmann Stiftung, BTI 2022 Country Report, Congo DR [im Folgenden BTI 2022], S. 14 f.).
26
Mangel- und Fehlernährung sind an der Tagesordnung. In den Städten fehlt es an Arbeitsplätzen, Nahrungsmitteln, Wasser und der elementarsten sanitären Versorgung. Auf dem Land fehlt es an Straßen zur Vermarktung der landwirtschaftlichen Produkte. Zusätzlich behindern die innenpolitischen Konflikte und die allgegenwärtige Korruption eine erfolgreiche Armutsbekämpfung (Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, DR Kongo, Gesamtaktualisierung am 17.12.2020 [im Folgenden BFA 2020], S. 23). Die Stadtbevölkerung in der Millionenstadt Kinshasa ist immer weniger in der Lage, mit städtischer Kleinstlandwirtschaft und Kleinviehhaltung die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln zu sichern. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist für die Bevölkerung in Kinshasa und in den übrigen Landesteilen zwar schwierig und teuer, es herrscht jedoch noch keine akute Unterversorgung. Eine Ausnahme bilden die Unruheprovinzen, da die Vertriebenen oft keine Möglichkeit haben, sich neu anzusiedeln und zumindest eine Subsistenzlandwirtschaft zu betreiben (AA 2020, S. 19). Nach Schätzungen der Vereinten Nationen benötigten im Jahr 2020 25,6 Mio. Bürger der Demokratischen Republik Kongo humanitäre Hilfe (BTI 2022, S. 22).
27
Das kongolesische Sozialversicherungssystem basiert im Wesentlichen auf der Caisse Nationale de Sécurité Sociale (CNSS), deckt aber nur die Arbeitnehmer im formellen Sektor und damit weniger als 20% der Arbeitnehmer ab (BTI 2022, S. 22). Zudem sind die Leistungen des Sozialversicherungssystems sehr gering, da sie auf der Grundlage der dürftigen Gehälter im öffentlichen Sektor berechnet werden (Kanada, Immigration and Refugee Board, Demokratische Republik Kongo: Informationen zur Möglichkeit der Neuansiedlung in Kinshasa, insbesondere für Frauen ohne männliche Unterstützung, einschließlich Zugang zu Wohnraum, Beschäftigung und öffentlichen Dienstleistungen, 3.9.2019 [im Folgenden IRB 2019], 2.5). Die Mehrheit der Kongolesen verlässt sich stattdessen auf sozialen Schutz durch die Familie oder andere informelle Beziehungen (BTI 2022, S. 22). Jedoch gelingt es auch innerhalb der Großfamilie nicht immer, Härten durch wechselseitige Unterstützung aufzufangen. Vor allem Frauen und Kinder müssen mit Kleinsthandel zum Familienunterhalt beitragen. Wegen der allgemein schlechten Versorgungslage können Minderjährige ohne familiären Rückhalt bei ihrer Rückkehr ihre Versorgung alleine nicht sicherstellen (AA 2020, S. 19).
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Ende 2020 waren fast 5,3 Mio. Kongolesen durch Gewalt und Konflikte intern vertrieben worden. Binnenvertriebene sind angesichts der geringen Aufwendungen der Regierung im sozialen Sektor für ihr Überleben vollständig von internationalen humanitären Organisationen abhängig. Das interne Gegenstück dazu sind die Kirchen, die die meisten sozialen Dienstleistungen erbringen (BTI 2022, S. 22 f.).
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Die Situation alleinstehender Frauen und insbesondere alleinerziehender Mütter in der Demokratischen Republik Kongo zeichnet sich aus den Erkenntnismitteln wie folgt ab:
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Kongolesische Frauen werden meist mit Müttern gleichgesetzt oder über den Bezug zu einem männlichen Familienmitglied definiert. Frauen werden von sich selbst und von anderen überwiegend als verheiratet mit Kindern definiert und erwachsene Frauen, die nie verheiratet gewesen sind, werden mit Argwohn betrachtet. Ausgrenzung von Müttern beruht teilweise darauf, dass sie alleinerziehend sind. Das verstößt gegen den Familienkodex und die sozialen Normen. Oft werden diese Frauen nicht als „heiratsfähig“ angesehen, aufgrund der sozioökonomischen Belastung, die mit der Erziehung eines Kindes ohne männlichen Partner einhergeht (BFA 2020, S. 21 f.). Ein Rechtsanwalt aus der Demokratischen Republik Kongo erklärte gegenüber der Forschungsdirektion des Immigration and Refugee Board of Canada am 15. Juli 2019, dass es für eine Frau in Kinshasa ein Symbol der Sicherheit und des Respekts sei, männliche Unterstützung zu haben und eine Frau ohne männliche Unterstützung oft herabwürdigender Behandlung und verbaler oder sexueller Belästigung ausgesetzt sei. In einigen Teilen des Landes habe es zwar einige Verbesserungen in Hinsicht auf die Rechte von Frauen gegeben, die Situation für die meisten Frauen ohne männliche Unterstützung bleibe aber schwierig, insbesondere wenn es um die Achtung ihrer Menschenwürde gehe. Alleinstehende Frauen würden oft als wertlos oder revolutionär angesehen, insbesondere wenn sie versuchten, ihre Rechte zu verteidigen (IRB 2019, 3.). Nach Auskunft eines Direktors einer großen in der Demokratischen Republik Kongo tätigen zwischenstaatlichen Hilfsorganisation könne die Unabhängigkeit einer alleinstehenden Frau, die in Kinshasa kein familiäres oder soziales Netz hat, nur durch eine lokale Organisation gewährleistet werden. Ohne eine solche könne die Frau nichts gegen Missbrauch ausrichten (BFA 2020, S. 21).
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Nach der Verfassung wird Frauen und Männern gleichermaßen das Recht auf Eigentum in Übereinstimmung mit dem Gesetz oder Brauchtum garantiert. Gesetzlich wird bei der Vergabe von Landrechten nicht zwischen Frauen und Männern unterschieden. Laut OECD sind Gewohnheitspraktiken, soziale Normen, mangelnde wirtschaftliche Autonomie, fehlende Entscheidungsbefugnisse und fehlender Zugang zur Justiz einige der Herausforderungen, denen Frauen gegenüberstehen, die versuchen, Zugang zu Landbesitz zu erlangen. Laut Freedom House benachteiligen Gesetze und Bräuche Frauen, wenn es um Landbesitz und Erbschaft geht (IRB 2019, 2.4).
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Die Verfassung verbietet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, aber das Gesetz gewährt Frauen nicht die gleichen Rechte wie Männern. Das Gesetz bietet Frauen eine Reihe von Schutzmaßnahmen. Es erlaubt Frauen, ohne Zustimmung männlicher Verwandter in wirtschaftlichen Bereichen tätig zu werden, sieht Mutterschaftsfürsorge vor, verbietet Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit Mitgiften und legt Geldbußen und andere Sanktionen für Personen fest, die diskriminieren oder sich an geschlechtsspezifischem Missbrauch beteiligen. Frauen erleben jedoch wirtschaftliche Diskriminierung (United States, Department of State, Democratic Republic of the Congo 2020 Human Rights Report, 30.3.2021, S. 34). Im Land gibt es einen allgemeinen Widerstand gegen die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen, selbst wenn diese zur Verbesserung des Wohlergehens der Familie beiträgt. Frauen werden oft wirtschaftlich diskriminiert, insbesondere beim Zugang zu Krediten. Der Zugang von Frauen zu Ressourcen oder Produktionsvermögen ist beschränkt. Frauen sind in vielen Landesteilen zur Hauptversorgern ihrer Familien geworden und arbeiten meist in schlecht oder unterbezahlten, körperlich anstrengenden Berufen z.B. in der Landwirtschaft. 71,2% der Arbeitsplätze entfielen auf den primären Sektor, 15,2% auf den Handel, 9,2% auf den Dienstleistungssektor und 4,4% auf die Industrie. In der Landwirtschaft arbeiten mehr Frauen als Männer. Im nicht-landwirtschaftlichen Sektor haben Frauen nur 20% der Jobs inne (IRB 2019, 2.3). In Kinshasa ist die Armut in von Frauen geführten Haushalten (45,7%) größer als in von Männern geführten Haushalten (40,7%). Arbeitsplätze in Kinshasa gibt es hauptsächlich im Dienstleistungssektor (50,5%) und im Handel (32,6%). Weibliche Haushaltsvorstände in Kinshasa arbeiten zu 38,3% im informellen privaten nichtlandwirtschaftlichen Sektor, zu 11,9% im öffentlichen Sektor, zu 2,9% im formellen privaten Sektor und zu 0,9% im informellen landwirtschaftlichen Sektor; 46,0% sind arbeitslos oder nicht erwerbstätig (IRB 2019, 3.1). Landesweit sind 48,5% der Frauen erwerbstätig, jedoch überwiegend im informellen Sektor (BTI 2022, S. 23). Bildung schützt Arbeitnehmer und insbesondere Frauen nicht vor Nichterwerbstätigkeit. Frauen mit unterschiedlichem Bildungshintergrund stehen vor ähnlichen Herausforderungen im Hinblick auf Unterbeschäftigung. Weibliche Beschäftigte ohne Ausbildung oder mit postsekundärer und tertiärer Ausbildung weisen eine Nichterwerbsquote von etwa 19 - 22% auf. Diese ist in städtischen und ländlichen Gebieten nahezu gleich (ACCORD, Anfragebeantwortung zu DR Kongo: Situation alleinstehender Frauen mit Kindern, insbesondere im Hinblick auf Arbeitsmarkt, Wohnversorgung und Sozialhilfe, 25.11.2020, Zugang zum Arbeitsmarkt). In einem Artikel der Tageszeitung L’Avenir aus Kinshasa über die Haushaltsbedürfnisse unverheirateter Frauen vom 23. März 2017 heißt es, dass es für alleinstehende Mütter schwierig bis unmöglich sei, finanziell durchzukommen. Diese Frauen würden verschiedene Methoden anwenden, um über die Runden zu kommen. Einige würden sich mit kleinen Geschäften wie Brotverkauf, Haareflechten, Nähen oder sogar Prostitution durchschlagen. Wenn sie keine gute Ausbildung hätten oder keine Empfehlungen vorweisen könnten, um in einem kongolesischen Unternehmen angestellt zu werden, wo sie sich weiterentwickeln können, sei ihre Lage existenzbedrohend. Für alleinstehende Mütter sei es in einem Umfeld, in dem Schul- und Studiengebühren ohne Rücksicht auf die finanziellen Mittel einer bescheidenen Familie festgelegt würden, eine Herausforderung, Kinder in die Schule zu schicken (IRB 2019, 3.1.1 und 3.3; BFA 2020, S. 22).
33
Ein Rechtsanwalt aus der Demokratischen Republik Kongo erklärte gegenüber der Forschungsdirektion des Immigration and Refugee Board of Canada am 15. Juli 2019, dass es keine Sozialwohnungen für alleinlebende Frauen gebe und solche, die vorhanden seien, Menschen vorbehalten seien, die von politischer oder sozialer Unterstützung profitieren (IRB 2019, 3.2).
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c) Ausgehend von der dargestellten Erkenntnislage ist aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1) in der Demokratischen Republik Kongo für sich und ihre beiden Kinder, die Kläger zu 2) und 3), ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht zu erwirtschaften vermag.
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Die Klägerin zu 1) ist zwar eine relativ junge und gesunde Frau, die mit 12 Jahren Schulbildung eine für Frauen in der Demokratischen Republik Kongo überdurchschnittlich gute Bildung aufweist (das Bildungsniveau von Frauen betrug im Jahr 2013 durchschnittlich neun Jahre, vgl. CIA, The World Factbook, Democratic Republic of the Congo, 4.4.2022). Jedoch schützt Bildung Frauen in der Demokratischen Republik Kongo nicht vor Nichterwerbstätigkeit (ACCORD, Anfragebeantwortung zu DR Kongo: Situation alleinstehender Frauen mit Kindern, insbesondere im Hinblick auf Arbeitsmarkt, Wohnversorgung und Sozialhilfe, 25.11.2020, Zugang zum Arbeitsmarkt). Die Klägerin zu 1) hat bisher weder für sich noch für zwei Kinder in der Demokratischen Republik Kongo den Lebensunterhalt erwirtschaften müssen. Bis zu ihrer Ausreise aus dem Kongo wurde sie von ihrem Ziehvater unterhalten und hat lediglich durch kleinen informellen Handel zum Lebensunterhalt beigetragen. Entgegen der Behauptung des Bundesamtes auf Seite 6 des Bescheides vom 8. Februar 2019 hat die Klägerin zu 1) auch nicht bereits den Lebensunterhalt für sich und ihren zwölfjährigen Sohn, den Kläger zu 2), in der Demokratischen Republik Kongo sichergestellt, da der Kläger zu 2) in Benin geboren wurde und noch nie in der Demokratischen Republik Kongo war. Mittlerweile hat die Klägerin zu 1) ein zweites Kind, die dreijährige Klägerin zu 3). Ohne Unterstützung eines Mannes oder einer Familie wird es der Klägerin zu 1) nicht möglich sein, in der Demokratischen Republik Kongo für sich und ihre beiden Kinder O. zu finden und den existenziellen Lebensunterhalt zu sichern. Die Kläger können nicht auf die Unterstützung durch die Ziehfamilie der Klägerin zu 1) oder den Vater der Kläger zu 2) und 3) verwiesen werden. Die Klägerin zu 1), die seit ihrem achten Lebensjahr bei ihrem Ziehvater, dessen Tochter und drei Söhnen gelebt hat, hat glaubhaft versichert, seit Juli 2017 keinen Kontakt mehr zu ihrer Ziehfamilie zu haben. Der Ziehvater und die Ziehbrüder seien ebenso wie die Klägerin zu 1) verhaftet worden. Die Klägerin zu 1) habe das Mietshaus, in dem sie gelebt hätten, nach ihrem Entkommen aus der Haft am 27. Juli 2017 verwüstet und verlassen vorgefunden. Versuche der Kontaktaufnahme im September 2017 über Nachbarn seien gescheitert, weitere Kontaktversuche habe die Klägerin zu 1) nicht unternommen. Der derzeitige Aufenthaltsort und die Situation der Ziehfamilie der Klägerin zu 1) sind unbekannt, sodass ungewiss ist, ob die Klägerin zu 1) viereinhalb Jahre nach ihrer Ausreise aus der Demokratischen Republik Kongo im Fall einer Rückkehr nach K., einer Stadt mit ca. 15 Mio. Einwohnern (CIA, The World Factbook, The Democratic Republic of the Congo, 4.4.2022), ihre Ziehfamilie überhaupt wiederfinden könnte. Für den Vater der Kläger zu 2) und 3) gilt das Gleiche; zu ihm hat die Klägerin zu 1) seit ihrer Ausreise aus Benin 2018 keinen Kontakt mehr, sein aktueller Aufenthaltsort ist unbekannt. Leistungen des kongolesischen Sozialversicherungssystems kommen, wie oben dargelegt, nur Arbeitnehmern im formellen Sektor zugute, zu denen die Klägerin zu 1) nicht gehört.
36
Nach alldem liegt im konkreten Einzelfall zur Überzeugung der Einzelrichterin für die Kläger zu 1) und 2) hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vor. Damit war wegen des insoweit einheitlichen Streitgegenstandes nicht mehr über das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 zu entscheiden.
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2. Da die Kläger zu 1) und 2) Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo haben, ist der Bescheid des Bundesamtes vom 8. Februar 2019 in Ziffer 4 aufzuheben. Damit sind auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung „in den Kongo“ (aus der Begründung des Bescheides geht hervor, dass hiermit die Demokratische Republik Kongo und nicht die Republik Kongo gemeint ist) in Ziffer 5 und die Feststellungen zum gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 6 des Bescheides vom 8. Februar 2019 aufzuheben.
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II. Die zulässige Klage der Klägerin zu 3) ist teilweise begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes vom 17. Juni 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin zu 3) nicht in ihren Rechten, soweit darin der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus abgelehnt wird. Die Klägerin zu 3) hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (1.) oder des subsidiären Schutzstatus (2.). Die Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung der Klägerin zu 3) als Asylberechtigte wurde nicht beantragt. Hingegen hat die Klägerin zu 3) Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 VwGO hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo (3.), sodass der Bescheid vom 17. Juni 2019 aufzuheben ist, soweit er diesem Anspruch entgegensteht, sprich hinsichtlich der Ziffern 4 bis 6 (4.).
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1. Die Klägerin zu 3) hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
41
a) Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten die in § 3a Abs. 1 AsylG genannten Handlungen. Die in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe werden in § 3b Abs. 1 AsylG konkretisiert. Zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Verfolgung kann ausgehen (Nr. 1) von dem Staat, (Nr. 2) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder (Nr. 3) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c AsylG). Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
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Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zu den Rechten, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, gehört Art. 3 EMRK, der Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafen und Behandlungen verbietet. Eine Behandlung ist unmenschlich, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wird und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht; sie ist erniedrigend, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, geeignet, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (EGMR, U.v. 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S./Belgien u. Griechenland - NVwZ 2011, 413 Rn. 220). Um unter Art. 3 EMRK zu fallen, muss die Behandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen, das unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles zu beurteilen ist, wie der Dauer der Behandlung, ihrer physischen und psychischen Auswirkungen sowie, in manchen Fällen, des Geschlechts, des Alters und des Gesundheitszustands der Person (EuGH, U.v. 15.10.2019 - C-128/18 - juris Rn. 59).
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Diese Würdigung ist auf der Grundlage einer „qualifizierenden“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Entscheidend ist, ob in Anbetracht der Gesamtumstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 - juris Rn. 15; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 - juris Rn. 32). Bei der Abwägung aller Umstände ist die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung einzubeziehen. Besteht bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung, macht es auch aus der Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; sie bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 33.18 - juris Rn. 15; B.v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - juris Rn. 37).
44
b) Ausgehend von diesen Maßstäben droht der Klägerin zu 3) in der Demokratischen Republik Kongo nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Form einer Verschleppung, Zwangsverheiratung oder Genitalverstümmelung.
45
Die Erklärungen der Klägerin zu 1) zu einer befürchteten Verschleppung und/oder Zwangsverheiratung der Klägerin zu 3) erschöpften sich in Allgemeinplätzen, indem sie ausführte, dass junge Mädchen verschleppt und zwangsverheiratet würden und sie als alleinerziehende Frau ihre Kinder schwer schützen könne. Trotz Nachfrage des Klägervertreters, von wem die Gefahr einer Verschleppung und Zwangsverheiratung ausgehen würde, benannte die Klägerin zu 1) keine konkreten Personen, sondern wiederholte ihre allgemeine Aussage, dass Kinder verschleppt würden und sie das als alleinerziehende Frau schwer verhindern könne. Zwar rekrutieren die meisten Rebellengruppen in den Provinzen Nord-Kivu und Ituri Kindersoldaten und setzen diese u.a. zur Verheiratung oder als Sexsklaven ein (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Republik Kongo, Stand: November 2020, S. 13), jedoch würde die Klägerin zu 3) nicht nach Nord-Kivu oder Ituri zurückkehren, sondern nach K., da ihre Mutter bis zu ihrer Ausreise dort gelebt hat und Abschiebungen ausschließlich auf dem Luftweg nach K. erfolgen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Republik Kongo, Stand: November 2020, S. 21 f.). In der Demokratischen Republik Kongo werden zwar trotz Kriminalisierung in der Verfassung auch Zwangsheiraten durch die Eltern bzw. den Familienrat vor allem auf dem Land praktiziert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Republik Kongo, Stand: November 2020, S. 14; United States, Department of State, Democratic Republic of the Congo 2020 Human Rights Report, 30.3.2021, S. 36), vorliegend ergibt sich aber aus den Angaben der Klägerin zu 1) nicht ansatzweise, von welchen Personen für die Klägerin zu 3) eine solche Gefahr ausgehen sollte, zumal die leibliche Familie der Klägerin zu 1) in A. lebt und sie zu ihrer Ziehfamilie keinen Kontakt mehr hat.
46
Weibliche Genitalverstümmlung ist in der Demokratischen Republik Kongo nicht ausdrücklich verboten, kann aber z.B. als Körperverletzung strafrechtlich verfolgt werden. Laut Auswärtigem Amt und Terres des Femmes wird weibliche Genitalverstümmelung nur im Norden der Demokratischen Republik Kongo bei Ethnien an der Grenze zur Zentralafrikanischen Republik und zum Südsudan praktiziert. Ein ehemaliger Büroleiter der Kvinna till Kvinna Foundation in der Demokratischen Republik Kongo berichtete der Forschungsdirektion des Immigration and Refugee Board of Canada am 19. August 2019, dass laut UNICEF und einigen Frauenorganisationen in einigen insbesondere ländlichen Regionen des Landes weibliche Genitalverstümmelung von ethnischen Gruppen gemäß ihren Bräuchen und Traditionen praktiziert wird. Eine Quantifizierung ist mangels zuverlässiger Zahlen bisher kaum möglich. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass ca. 5% der lokalen weiblichen Bevölkerung genital verstümmelt sind (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Republik Kongo, Stand: November 2020, S. 14; Terres des Femmes, Weibliche Genitalverstümmelung, Demokratische Republik Kongo, Stand: September 2016, https://frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/weibliche-genitalverstuemmelung/unser-engagement/aktivitaeten/genitalverstuemmelung-in-afrika/fgm-in-afrika/1972-demokratische-republik-kongo; Kanada, Immigration and Refugee Board, Demokratische Republik Kongo: Verbreitung ritueller weiblicher Genitalverstümmelung [FGM], Folgen einer Weigerung und Verfügbarkeit staatlicher Schutz- und Hilfsleistungen, 2017 - August 2019, 30.8.2019). Die Klägerin zu 1) führte beim Bundesamt aus, dass die Gefahr der zwangsweisen Beschneidung der Klägerin zu 3) in A. durch ihre leibliche Familie drohen würde, nicht hingegen in der Demokratischen Republik Kongo, da sie dort keine Familie habe. Der Klägerin zu 3) wurde jedoch nicht die Abschiebung nach A., sondern in die Demokratische Republik Kongo angedroht. Es sind keine Akteure erkennbar, von denen in der Demokratischen Republik Kongo für die Klägerin zu 3) die Gefahr einer weiblichen Genitalverstümmelung ausgehen würde. Auch auf Nachfrage des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung, von wem eine solche Gefahr ausgehen würde, benannte die Klägerin zu 1) keine konkreten Personen. Dass die leibliche Familie der Klägerin zu 1) die Klägerin zu 3) im Kongo suchen und einer zwangsweisen Beschneidung unterziehen würde, ist bereits vor dem Hintergrund auszuschließen, dass die Klägerin zu 1) seit ihrer Kindheit keinen Kontakt mehr zu ihrer leiblichen Familie hat und diese nicht einmal von der Existenz der in Deutschland geborenen Klägerin zu 3) weiß.
47
2. Die Klägerin zu 3) hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG.
48
a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt (Nr. 1) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, (Nr. 2) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder (Nr. 3) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG). § 3c bis § 3e AsylG gelten entsprechend (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG).
49
b) Dass der Klägerin zu 3) bei ihrer Rückkehr die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), wurde nicht geltend gemacht. Der Klägerin zu 3) droht in der Demokratischen Republik Kongo auch keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.
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c) Schließlich droht der Klägerin zu 3) keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).
51
Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist (EuGH, U.v. 30.1.2014 - C-258/12 - juris Rn. 35). Für die Gefahrenprognose ist bei einem nicht landesweiten Konflikt auf den tatsächlichen Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr abzustellen. Für die Frage, welche Region als Zielort seiner Rückkehr anzusehen ist, kommt es weder darauf an, für welche Region sich ein unbeteiligter Betrachter vernünftigerweise entscheiden würde, noch darauf, in welche Region der betroffene Ausländer aus seinem subjektiven Blickwinkel strebt. Zielort der Abschiebung ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, U.v. 14.7.2009 - 10 C 9.08 - BVerwGE 134, 188 - juris Rn. 17; BayVGH, U.v. 26.4.2018 - 20 B 18.30332 - juris Rn. 40).
52
Gewalttätige Auseinandersetzungen finden im Osten des Landes, insbesondere in den Provinzen Nord-Kivu, Süd-Kivu, Ituri und Tanganyika, aber auch in den Provinzen Bas-Uélé, Haut-Uélé statt. Manche Regionen innerhalb dieser Provinzen sind nicht unter der Kontrolle staatlicher Sicherheitskräfte. Bei den Konflikten handelt es sich um komplexe soziale Auseinandersetzungen um regionale bzw. lokale Vorherrschaft und den Zugang zu Land und natürlichen Ressourcen, befeuert von interethnischen Spannungen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Republik Kongo, Stand: November 2020, S. 5). Laut aktueller Teilreisewarnung des Auswärtigen Amtes kommt es in den Provinzen Bas-Uélé, Haut-Uélé, Tshopo, Ituri, Nord-Kivu, Süd-Kivu, Maniema, Tanganyika, Haut-Lomami, Haut-Katanga (nur nördliche Gebiete), Lomami, Kasai, Kasai-Central und Kasai-Oriental immer wieder zu gewaltsamen Zwischenfällen zwischen den kongolesischen Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppen, insbesondere der Allied Democratic Force (ADF). Seit 6. Mai 2021 gilt für die Provinzen Nord-Kivu und Ituri ein „État de Siège“, durch den die zivilen Regierungen temporär durch Militär- und Polizeiregierungen ersetzt werden. Die ohnehin angespannte Sicherheitslage könnte sich vor diesem Hintergrund noch verschärfen (Auswärtiges Amt, Demokratische Republik Kongo: Reise- und Sicherheitshinweise [Teilreisewarnung], Stand: 15.12.2021, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/kongodemokratischerepubliksicherheit/203202). Neben den staatlichen Streitkräften ist eine Vielzahl von Milizen bzw. paramilitärischen Verbänden in den Krisenprovinzen des Landes aktiv. Allein in Nord-Kivu und Süd-Kivu sind es 120 verschiedene bewaffnete Gruppen. Neben den Milizen existieren zahlreiche lokale (kongolesische) bewaffnete Gruppen, die unter dem Sammelbegriff „Maï-Maï“ firmieren. Sie säen Unsicherheit aus diversen ethnischen, ökonomischen und (lokal-)politischen Gründen. Hauptleidtragend ist die Zivilbevölkerung. Teile der Bevölkerung werden aufgrund ihrer (angenommenen) Zugehörigkeit zu einer Ethnie (Hutu, Tutsi, Nande, Hunde, und zahlreiche andere) oder einer Sprachfamilie (insbesondere Kinyar-wanda-Sprecher) Opfer von Gewalt. Oftmals sind sie gleichzeitig auch Opfer willkürlicher Gewalttaten (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Republik Kongo, Stand: November 2020, S. 6). Die Zahl der Binnenflüchtlinge lag im Jahr 2020 bei ca. 5 Mio. Personen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Republik Kongo, Stand: November 2020, S. 4).
53
Es ist davon auszugehen, dass die minderjährige Klägerin zu 3) zusammen mit ihrer Mutter, der Klägerin zu 1), nach K. zurückkehren würde, da die Mutter der Klägerin zu 3) bis zu ihrer Ausreise dort gelebt hat, während die Klägerin zu 3) selbst noch nie in der Demokratischen Republik Kongo war. Zielort der Abschiebung wäre somit mangels Angabe stichhaltiger Gründe, die gegen eine Rückkehr nach K. sprechen, die …stadt K. Abschiebungen aus der Bundesrepublik Deutschland in die Demokratische Republik Kongo finden auch nur auf dem Luftweg nach K. statt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Republik Kongo, Stand: November 2020, S. 21 f.). Die oben beschriebenen gewalttätigen Konflikte sind jedoch nicht landesweit und betreffen nicht K., sodass derzeit nicht von einer ernsthaften individuellen Bedrohung der Klägerin zu 3) auszugehen ist.
54
3. Die Klägerin zu 3) hat Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 VwGO hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo. Insoweit wird vollumfänglich auf die obigen Ausführungen zur Mutter und zum Bruder der Klägerin zu 3) verwiesen, aus denen sich ergibt, dass die Mutter der Klägerin zu 3) in der Demokratischen Republik Kongo nicht in der Lage sein wird, für sich und ihre beiden Kinder ein menschenwürdiges Existenzminimum zu erwirtschaften.
55
4. Da die Klägerin zu 3) Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Demokratischen Republik Kongo hat, ist der Bescheid des Bundesamtes vom 17. Juni 2019 in Ziffer 4 aufzuheben. Damit sind auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in die Demokratische Republik Kongo in Ziffer 5 und die Feststellungen zum gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 6 des Bescheides vom 17. Juni 2019 aufzuheben.
56
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Kläger zu 1) und 2) Obsiegen mit ihrem auf die Ziffern 4 bis 6 des Bescheides vom 8. Februar 2019 beschränkten Klagebegehren vollständig, sodass insoweit die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Das Klagebegehren der Kläger zu 1) und 2) macht im Verhältnis zum Klagebegehren der Klägerin zu 3) ein Drittel der Verfahrenskosten aus. Die Klägerin zu 3) unterliegt mit ihrem Antrag auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, sodass es der Einzelrichterin gerechtfertigt erscheint, der Klägerin zu 3) von den verbleibenden zwei Dritteln der Verfahrenskosten die Hälfte, sprich ein Drittel aufzuerlegen.
57
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
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IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.