Inhalt

LG Ansbach, Endurteil v. 15.07.2022 – 2 O 267/22
Titel:

Selbstwiderlegung der Dringlichkeit grundsätzlich auch bei Warten auf Deckungszusage der Rechtsschutzversicherung

Normenkette:
ZPO § 935, § 940
Leitsätze:
1. Es fehlt infolge der Selbstwiderlegung an einem Verfügungsgrund, wenn der Antragsteller durch sein eigenes Verhalten die Annahme der Dringlichkeit ausgeschlossen hat, da er nach Eintritt der Gefährdung seines Rechts lange Zeit mit einem Antrag zugewartet hat. In der Regel kann ein Zuwarten von mehr als einem Monat als dringlichkeitsschädlich angesehen werden.  (Rn. 22 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Abwarten der Deckungszusage einer Rechtsschutzversicherung steht der Dringlichkeit nur dann nicht entgegen, wenn sich der Antragsteller in einer wirtschaftlichen Notsituation befindet. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweilige Verfügung, Verfügungsgrund, Dringlichkeit, Selbstwiderlegung, Monatsfrist, Deckungszusag
Rechtsmittelinstanz:
OLG Nürnberg, Beschluss vom 07.10.2022 – 3 U 2178/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 28067

Tenor

1. Die einstweilige Verfügung des Landgerichts Ansbach vom 9. März 2022, Az. 2 O 267/22, wird aufgehoben.
2. Der Antrag des Klägers vom 4. März 2022 auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird zurückzuweisen.
3. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist für die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger verfolgt nach Widerspruch gegen die zu seinen Gunsten erlassene einstweilige Verfügung des Landgerichts Ansbach gegen die Beklagte vom 09.03.2022 seinen Antrag weiter.
2
Das soziale Netzwerk … wird von der Muttergesellschaft der Beklagten mit Sitz in Kalifornien betrieben, die den Dienst weltweit und jedermann anbietet. Für Europa (einschließlich EU) ist jedoch Anbieter und Vertragspartner der Nutzer die Beklagte. Die Nutzung des Netzwerkes erfolgt auf der Grundlage einer einmaligen Anmeldung unter Angabe einer Email-Adresse. Der Nutzer muss sodann die Geschäftsbedingungen der Verfügungsbeklagten akzeptieren.
3
Der Netzwerknutzer legt ein persönliches Profil auf der Plattform an, auf dem er selbst Beiträge einstellen und mit dessen Bezeichnung er fremde Beiträge kommentieren kann. Je nach gewählter Privatsphäre-Einstellung haben Personen, mit denen man sich auf der Plattform vernetzt hat, oder aber auch jedermann Zugriff auf die persönlichen Details und weitere Inhalte, die auf der Profilseite („Chronik“) zu sehen sind. Neben persönlichen Informationen kann der Nutzer grundsätzlich Inhalte jeglicher Art zu seiner Chronik hinzufügen. Lädt der Nutzer Fotos hoch, erstellt Beiträge oder ergänzt persönliche Informationen, erscheinen diese sowohl in der persönlichen Chronik des Nutzers als auch automatisch als Neuigkeit auf der Startseite („news feed“) seiner Freunde bzw. Abonnenten.
4
Der Kläger unterhielt und nutzte seit ca. 2009 ein privates Nutzerkonto bei der Beklagten. Er meldete sich dort mit der Email-Adresse … an. Am 25.01.2022 wurde das Konto des Klägers von der Beklagten vollständig deaktiviert. Der Kläger erhielt folgende Meldung:
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Der Kläger versuchte zunächst selbst, die Beklagte zur Wiederherstellung des Nutzerkontos zu bewegen. Nachdem dies nicht gefruchtet hatte, wandte sich der Kläger am 01.03.2022 an seine jetzigen Prozessbevollmächtigten. Diese holte eine Deckungszusage der Rechtsschutzversicherung für die außergerichtliche Tätigkeit ein und wandte sich mit dem Schreiben Anlage K 13 an die Beklagte. In diesem Zuge wurde die Beklagte unter Fristsetzung nicht nur zur Wiederherstellung des Kontos, sondern auch vorsorglich zur Speicherung des Kontos inkl. sämtlicher Daten und Inhalte aufgefordert. Auch wurde der Antragsgegnerin ausdrücklich untersagt, das Nutzerkonto endgültig und unwiderruflich zu löschen. Hierauf reagierte die Beklagte nicht.
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Sodann wurde - ohne dass zuvor eine Deckungszusage der Rechtsschutzversicherung vorlag - mit Schriftsatz der Klägervertreter vom 04.03.2022 Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gestellt. Der Antrag ging am gleichen Tag bei dem Landgericht Ansbach ein.
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Der Kläger ist der Auffassung, die Löschung des Kundenkontos sei rechtswidrig, ihm stünde Anspruch auf Unterlassung hinsichtlich der endgültigen und unwiderruflichen Löschung des Kontos in Folge der vorangegangenen, rechtswidrigen Kontodeaktivierung zu. Die Löschung der bei der Beklagten auf dem Nutzerkonto des Klägers gespeicherten Daten drohe. Er ist weiter der Meinung, es liege ein Anordnungsgrund vor, da die Löschung seiner Daten zu besorgen sei und er sich auch rechtzeitig um die Durchsetzung seines Anspruchs gekümmert habe.
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Der Antragsteller beantragte, im Wege der einstweiligen Verfügung wie folgt anzuordnen:
Die Antragsgegnerin hat es bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu unterlassen, das am 25.01.2022 deaktivierte Nutzerkonto des Antragstellers (Anmelde-Email: …) auf … und die dazu gespeicherten Daten endgültig und unwiderruflich zu löschen;
hilfsweise:
Die Antragsgegnerin hat es bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu unterlassen, das am 25.01.2022 deaktivierte Nutzerkonto des Antragstellers (Anmelde-Email: …) auf … und die dazu gespeicherten Daten endgültig und unwiderruflich mit der Folge zu löschen, dass der Antragsgegnerin eine Wiederherstellung des streitgegenständlichen Nutzerkontos, wie es zum Zeitpunkt der vorangegangenen Deaktivierung bestand, sowie nähere Angaben über die Gründe der vorhergehenden Deaktivierung des Kontos unmöglich sind.
9
Das Landgericht Ansbach hat mit Beschluss vom 09.03.2022 folgendes angeordnet:
„Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Verfügung unter Androhung eines Ordnungsgeldes bis zu zweihundertfünfzigtausend Euro oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten - Ordnungshaft auch für den Fall, dass das Ordnungsgeld nicht beigetrieben werden kann - wegen jeder Zuwiderhandlung
untersagt,
bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens das am 25.01.2022 deaktivierte Nutzerkonto des Antragstellers … (Anmelde-Email: …) auf … und die dazu gespeicherten Daten endgültig und unwiderruflich zu löschen.“
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Zudem hat es der Beklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt.
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Gegen diesen - der Beklagten am 02.04.2022 zugestellten - Beschluss legte diese mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 27.05.2022 Widerspruch ein.
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Der Kläger beantragt:
den Widerspruch der Antragsgegnerin gem. Schriftsatz vom 27.05.2022 zurückzuweisen und die einstweilige Verfügung vom 09.03.2022 zu bestätigen.
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Die Beklagte beantragt:
1.
die einstweilige Verfügung des Landgerichts Ansbach vom 9. März 2022, Az. 2 O 267/22, aufzuheben und
2.
den Antrag des Antragstellers vom 4. März 2022 auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen.
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Die Beklagte ist der Auffassung, aufgrund von Verstößen des Klägers gegen die Nutzungsbedingungen dazu berechtigt gewesen zu sein, den Nutzervertrag zu kündigen und das Nutzerkonto dauerhaft zu deaktivieren.
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Die Beklagte meint weiter, der Kläger habe keinen Verfügungsgrund dargelegt und glaubhaft gemacht. Es sei nicht ersichtlich, woraus sich die Dringlichkeit der Angelegenheit ergeben solle. Den Antragsteller treibe letztlich lediglich eine abstrakte, allgemeine Besorgnis um, sein Nutzerkonto könnte dauerhaft gelöscht werden. Hieraus ergebe sich nicht das Erfordernis, eine einstweilige Verfügung gegen die Antragsgegnerin zu erlassen, die im vorliegenden Fall zu einer derartigen Besorgnis keinen Anlass gegeben habe. Unabhängig davon scheide ein Verfügungsgrund jedenfalls aufgrund des langen Zuwartens des Antragstellers mit der Antragstellung aus. Selbst in Fällen in denen - anders als hier - aufgrund spezialgesetzlicher Normen eine Dringlichkeitsvermutung bestehe, gehe die Tendenz der Oberlandesgerichte dahin, eine Dringlichkeitsfrist von in der Regel einem Monat anzunehmen.
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Zur Ergänzung des Tatbestandes wird zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die Ausführungen unter Ziffer I. des Beschlusses vom 09.03.2022 der Kammer Bezug genommen. Zudem wird auf die im Verfahren eingereichten Schriftsätze mit Anlagen hierzu Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

17
Der Widerspruch ist zulässig und auch begründet. Es fehlt vorliegend an einem Verfügungsgrund, nachdem der Kläger mit der Beantragung der streitgegenständlichen einstweiligen Anordnung zu lange zugewartet hat.
I.
18
Hinsichtlich der Zulässigkeit kann auf die Ausführungen im Beschluss vom 09.03.2022 der Kammer Ziffer II. 1. Bezug genommen werden.
II.
19
Der von der Beklagten gegen den Beschluss vom 09.03.2022 eingelegte Widerspruch ist auch begründet.
20
1. Es kann offen bleiben, ob es dem Antrag des Klägers bereits an einem Verfügungsanspruch fehlte. Die Beklagte meint, aufgrund von Verstößen des Klägers gegen die Nutzungsbedingungen dazu berechtigt gewesen zu sein, den Nutzervertrag zu kündigen und das Nutzerkonto dauerhaft zu deaktivieren.
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2. Hierauf kommt es vorliegend aber nicht an. Entgegen der zunächst im Beschluss vom 09.03.2022 vertretenen Auffassung fehlt es dem Kläger vorliegend an einem Verfügungsgrund.
22
a) Ein Verfügungsgrund liegt vor, wenn die objektiv begründete Gefahr besteht, dass durch Veränderung des bestehenden Zustands die Rechtsverwirklichung der Partei vereitelt oder erschwert werden könnte. Ein solcher Verfügungsgrund wird vorliegend nicht vermutet, da zugunsten des Klägers keine Dringlichkeitsvermutung greift.
23
b) Im hiesigen Verfahren fehlt es infolge Selbstwiderlegung an einem Verfügungsgrund, weil der Kläger durch sein eigenes Verhalten die Annahme der Dringlichkeit ausgeschlossen hat, da er nach Eintritt der Gefährdung seines Rechts lange Zeit mit einem Antrag zugewartet hat (vgl. MüKoZPO/Drescher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 935, Rn. 19 m.w.N.).
24
Wie lange ein Antragsteller sich bei einer behaupteten Verletzung seines Persönlichkeitsrechts zuwarten darf, ohne dass es an der für den Verfügungsgrund erforderlichen zeitlichen Dringlichkeit fehlt, hängt zwar von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. In der Regel kann jedoch ein Zuwarten von mehr als einem Monat als dringlichkeitsschädlich angesehen werden. Die Kammer folgt insoweit der überzeugenden Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Nürnberg (B. v. 13.11.2018, Az. 3 W 2064/18, NJW-RR 2019, S. 105). Dieses führt zutreffend aus, dass ein Verfügungsgrund wegen Selbstwiderlegung fehlt, wenn die Antragstellerpartei nach Eintritt der Gefährdung mit einem Antrag zuwartet oder das Verfahren nicht zügig betreibt und damit durch ihr Verhalten selbst zu erkennen gegeben hat, dass es ihr nicht eilig ist. Nach der genannten Rechtsprechung des OLG Nürnberg ist auch bei Verletzung von Persönlichkeitsrechten des Antragstellers regelmäßig ein Zuwarten von mehr als einem Monat dringlichkeitsschädlich.
25
c) So liegt es hier. Der Kläger erfuhr durch Mitteilung der Beklagten vom 25.01.2022 von der streitgegenständlichen Deaktivierung seines …-Nutzerkontos. Dennoch ging der Anwaltsschriftsatz vom 04.03.2022, mit dem der Kläger den Erlass einer einstweiligen Verfügung begehrte, erst am 04.03.2022 beim Landgericht Ansbach ein. Damit wartete der Kläger mit seiner Antragstellung länger als einen Monat nach der Kenntniserlangung zu.
26
d) Ein längerer Zeitraum ist dem Kläger vorliegend auch nicht aufgrund des Umstandes zuzubilligen, dass zunächst eine Kostenübernahmeerklärung der Rechtsschutzversicherung eingeholt werden sollte oder die Beklagte ihren Sitz im Ausland hat.
27
Das Abwarten der Deckungszusage einer Rechtsschutzversicherung steht der Dringlichkeit nur dann nicht entgegen, wenn sich der Antragsteller in einer wirtschaftlichen Notsituation befindet (vgl. zutreffend OLG Celle, B. v. 20.01.2014 - 13 W 100/13, juris Rn. 10 f.). Eine solche wirtschaftliche Notsituation hat der Kläger hier aber weder vorgetragen noch ist eine solche ersichtlich. Die Antragstellung durch die Klägervertreter erfolgte auch ohne Vorliegen der Deckungszusage der Rechtschutzversicherung. Auch ein Antrag auf Prozesskostenhilfe wurde durch den Kläger nicht gestellt. Das Fehlen einer Deckungszusage kann mithin nicht als Hindernis für die Antragstellung gesehen werden.
28
Auch der Sitz der Beklagten im Ausland führt im hiesigen Fall nicht zu einer länger anzusetzenden Frist, da diese für die verzögerte Antragstellung hier jedenfalls nicht ursächlich war. Vielmehr hat der Kläger zunächst über einen Monat zugewartet, bis er anwaltliche Hilfe in Anspruch nahm. Eine besondere Eilbedürftigkeit für den Kläger kann daher nicht festgestellt werden. Seitens des klägerischen Prozessbevollmächtigten konnte sodann binnen dreier Tage die Antragstellung erfolgen.
III.
29
Die Entscheidung über die Kosten ergeht nach § 91 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 709 ZPO.