Inhalt

VG München, Urteil v. 14.01.2022 – M 9 K 19.1786
Titel:

Fortsetzung des Verfahrens nach Klagerücknahme

Normenketten:
VwGO § 92
ZPO § 580
Leitsatz:
Ausnahemsweise ist ein Widerruf der Klagerücknahme nach Eingang der Erklärung bei Gericht zulässig, wenn die Rücknahme sogleich als Versehen offenbar gewesen und deshalb nach Treu und Glauben als unwirksam zu behandeln ist oder wenn ein Wiederaufnahmegrund iSd § 579, § 580 ZPO vorliegt.  (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens nach Klagerücknahme, Klagerücknahme, Widerruf, Versehen, Wiederaufnahmegrund
Fundstelle:
BeckRS 2022, 27683

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass das Klageverfahren mit dem Az. M 9 K 17.1168 durch wirksame Klagerücknahme beendet wurde.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Fortführung seiner zurückgenommenen Klage gegen den Widerruf seiner Niederlassungserlaubnis.
2
Der am ... in ... geborene Kläger ist Staatsangehöriger von Bosnien-Herzegowina. Er war lange als Autohändler in Deutschland erwerbstätig. Aktuell arbeitet er als freier beratender Experte einer Sicherheitsfirma in Österreich. Sein Vater lebt in Bosnien-Herzegowina und eine Schwester in … Erstmalig ist er im April 2001 in das Bundesgebiet eingereist.
3
Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlingen vom 27. August 2002 wurde er als Asylberechtigter anerkannt. Am 19. September 2006 wurde ihm nach § 26 Abs. 3 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis erteilt. Mit Bescheid vom 6. Februar 2008 wurde die Anerkennung als Asylberechtigter widerrufen. Der Bescheid wurde am 24. November 2012 bestandskräftig.
4
Mit Bescheid vom 20. Februar 2017 wurde die Niederlassungserlaubnis widerrufen (Ziffer 1.) und mitgeteilt, dass nach Bestandskraft des Bescheides auf Antrag eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (Ziffer 2.). Der Aufenthaltstitel könne nach § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG widerrufen werden, da die Anerkennung als Asylberechtigter widerrufen worden sei. Eine Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG stehe entgegen, dass aufgrund der wiederholten Straffälligkeit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG bestehe.
5
Hiergegen erhob der Kläger mit Schriftsatz vom 20. März 2017 Klage. Das Verfahren (M 9 K 17.1168) wurde mit Beschluss vom 9. Mai 2017 eingestellt, da der Kläger die Klage mit Fax vom 8. Mai 2017 zurückgenommen hatte. Am 11. Juli 2017 wurde dem Klägerauch eine bis zum 10. Juli 2019 gültige befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erteilt.
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Mit Schriftsatz vom 12. April 2019 hat der Kläger erklärt, die Klagerücknahme anzufechten. Er beantragt,
das Verfahren M 9 K 17.1168 wiederaufzunehmen.
7
Der Kläger habe die Klage auf Anraten durch das Polizeipräsidium und das KVR zurückgenommen. Hintergrund sei gewesen, dass dem Kläger in Aussicht gestellt worden sei, dass er zunächst einen befristeten Aufenthalt für zwei Jahre erhalte und danach über die Niederlassungserlaubnis neu verhandelt werde. Am 26. März 2019 sei der Kläger aber nun zu einer Rücknahme seines Aufenthaltstitels angehört worden. Es sei eine arglistige Täuschung zu prüfen. Der Kläger habe freiwillig auf einen sehr starken Aufenthaltstitel verzichtet und der Verfahrensausgang sei trotz diverser strafrechtlicher Vorahndungen für die Beklagte offen gewesen.
8
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
9
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Behördenakte, die Gerichtsakten mit den Az. M 9 K 17.1168 und M 9 K 19.1786 und das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 14. Januar 2022 Bezug genommenen.

Entscheidungsgründe

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Der vom Prozessbevollmächtigten des Klägers als Wiederaufnahmeantrag formulierte Antrag wurde in sachdienlicher Weise nach §§ 88, 86 Abs. 3 VwGO als Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens ausgelegt. Der Beschluss vom 9. Mai 2017, mit dem das Verfahren nach Klagerücknahme gemäß § 92 Abs. 3 VwGO eingestellt wird, ist nur deklaratorisch und kann deswegen nicht mit der Wiederaufnahme angegriffen werden. Es kann nur Fortsetzung des Verfahrens beantragt werden (vgl. Rudisile in: Schoch/Schneider/, 41. EL Juli 2021, VwGO § 153 Rn. 7).
11
Der so verstandene Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens M 9 K 17.1168 ist zulässig aber unbegründet, da die Klagerücknahme mit der Erklärung vom 12. April 2019 nicht wirksam angefochten oder widerrufen werden konnte. Das Verfahren M 9 K 17.1164 ist deswegen nicht fortzusetzen.
12
Über den Antrag auf Verfahrensfortsetzung war durch Urteil zu entscheiden (Clausing in: Schoch/Schneider, 41. EL Juli 2021, VwGO § 92 Rn. 81).
13
Die Klagerücknahme konnte schon deswegen nicht wirksam angefochten werden, da Prozesshandlungen unanfechtbar sind. Die Regelungen des BGB zur Anfechtung sind weder direkt noch entsprechend anwendbar (Clausing in: Schoch/Schneider/, 41. EL Juli 2021, VwGO § 92 Rn. 22 mit diversen Nachweisen).
14
Höchst ausnahmsweise ist nach Eingang der Erklärung beim Gericht ein Widerruf der Klagerücknahme möglich. Ein Widerruf ist zulässig, wenn die Rücknahme sogleich als Versehen offenbar gewesen und deshalb nach Treu und Glauben als unwirksam zu behandeln ist (BVerwG, U.v. 6.12.1996 - 8 C 33/95 - juris Rn. 14). Ausnahmsweise statthaft ist der Widerruf nach st. Rspr. zudem, wenn ein Wiederaufnahmegrund i.S.d. §§ 579, 580 ZPO vorliegt (Clausing in: Schoch/Schneider/, 41. EL Juli 2021, VwGO § 92 Rn. 23).
15
Vorliegend wurde aber weder ein Wiederaufnahmegrund dargelegt - erst recht nicht substantiiert dargelegt- noch ergeben sich aus dem Schreiben der Klagerücknahme auch nur Anhaltspunkte dafür, dass die Klagerücknahme lediglich versehentlich erklärt wurde. Im Wesentlichen erschöpft sich der vom Kläger dargelegte Sachverhalt in einer Darstellung der Regelung des Bescheides vom 20. Februar 2017. In diesem wurde dem Kläger im Falle einer Bestandskraft des Bescheides eine befristete Aufenthaltserlaubnis zugesichert. Nach dem er seine Klage zurückgenommen hatte, hat er diese zugesicherte befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten. Eine Darlegung dazu, in welcher Art und unter welchen Bedingungen ihm die beklagte Landeshauptstadt darüber hinaus ein Hineinwachsen in eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Aussicht gestellt haben soll, ist vom Kläger nicht erfolgt und auch aus der Behördenakte ergeben sich hierzu keine Anhaltspunkte. Der Kläger hat keinerlei konkrete Umstände (Zeit, Ort, anwesende Person etc.) zu der angeblichen Täuschung durch die Beklagte dargelegt.
16
Außerdem käme vorliegend allenfalls der Wiederaufnahmegrund entsprechend § 580 Nr. 4 ZPO in Betracht. Bei entsprechender Anwendung ist eine Rücknahmeerklärung widerrufbar, wenn der Gegner oder dessen Vertreter durch eine Straftat die Rücknahmeerklärung erwirkt haben (BGH, U.v. 13.2.1997 - III ZR 285/95 - juris Rn. 13). Eine Straftat der Beklagten im Zusammenhang mit der Rücknahmeerklärung ist aber zum einem vom Kläger schon nicht vorgetragen worden und zum anderem wäre weitere Voraussetzung nach § 581 Abs. 1 ZPO, dass wegen der Straftat eine rechtskräftige Verurteilung ergangen ist oder das Strafverfahren aus anderen Gründen als wegen Mangel an Beweisen nicht erfolgen kann (zur entsprechenden Anwendbarkeit von § 581 ZPO vgl. Clausing in: Schoch/Schneider, 41. EL Juli 2021, VwGO § 92 Rn. 23 Fn. 126).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren war auf den Antrag des Klägers nicht fortzuführen, sodass er mit seinem Fortführungsantrag unterlegen ist.
18
Die Regelung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.