Titel:
Einstellung eines Dublin-Verfahrens nach abgelaufener Überstellungsfrist
Normenketten:
Dublin-III-VO Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 2
VwGO § 161 Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Erledigendes Ereignis hinsichtlich eines Dublin-Bescheids mit Abschiebungsanordnung bei Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-Verordnung ist nicht der Ablauf der Überstellungsfrist als solcher, sondern die anschließende Aufhebung des Bescheids (Anschluss an BayVGH BeckRS 2020, 14679). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Soweit eine Unterstellung aus tatsächlichen Untergründen unterblieben ist, trägt das gesetzlich zugewiesene Risiko einer nicht rechtzeitigen Überstellung die Bundesrepublik Deutschland (Anschluss an VG Gelsenkirchen BeckRS 2022, 10251). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufhebung des Dublin-Bescheids nach Ablauf der Überstellungsfrist, Beidseitige Erledigungserklärungen, Dublin, Überstellungsfrist, Ablauf, erledigendes Ereignis, Aufhebung, Billigkeitsentscheidung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 27675
Tenor
I. Das Verfahren wird eingestellt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Gegenstandswert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
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Der Kläger wandte sich mit seiner Klage gegen eine Abschiebung nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens.
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Gegen den Bescheid vom 27. Dezember 2021, in dem das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt hatte, erhob der Kläger am 3. Januar 2022 beim Verwaltungsgericht München Klage und beantragte zugleich, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Diesen Antrag lehnte das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 18. Januar 2022 (M 19 S …) ab.
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Mit Schreiben vom 2. August 2022 teilte das Bundesamt mit, dass es den streitgegenständlichen Bescheid aufgehoben habe; die Überstellungsfrist sei zum 18. Juli 2022 abgelaufen. Die Beteiligten erklärten unter jeweiliger Verwahrung der Kostenlast den Rechtsstreit für erledigt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtssowie die Behördenakte verwiesen.
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Nachdem die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist es in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einzustellen. Gemäß § 161 Abs. 2 VwGO ist über die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen zu entscheiden. Billigem Ermessen entspricht es im vorliegenden Fall, die Kosten des Verfahrens der Beklagten aufzuerlegen.
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Wesentliches Element der Kostenentscheidung ist eine überschlägige Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Zeitpunkt seiner Erledigung, wobei nach dem Willen des Gesetzgebers allein im Hinblick auf die zu treffende Kostenentscheidung weder schwierige Rechtsfragen zu klären sind, noch der Sachverhalt weiter aufzuklären ist. Wenn die beklagte Behörde dem Begehren der Klagepartei entsprochen und deshalb die Erledigung herbeigeführt hat, so ist dies jedenfalls dann zu ihrem Nachteil zu bewerten, wenn sie hierdurch einem absehbaren Unterliegen im Rechtsstreit zuvorkommen wollte. Dies ist hier der Fall. Voraussichtlich Unterlegen wäre im gegenständlichen Fall nicht der Kläger, sondern die Beklagte.
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Für die Beurteilung der Billigkeitsentscheidung nach § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist auf den Zeitpunkt der Aufhebung des streitgegenständlichen Dublin-Bescheids abzustellen. Denn erledigendes Ereignis hinsichtlich eines Dublin-Bescheids mit Abschiebungsanordnung bei Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO ist nicht der Ablauf der Überstellungsfrist als solcher, sondern die anschließende Bescheidsaufhebung (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2020 - 3 ZB 20.50004, 3 ZB 20.50005 - juris Rn. 3 ff..).
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In diesem Zeitpunkt wäre die Klage voraussichtlich begründet und damit erfolgreich gewesen. Denn mit Ablauf der 6-monatigen Überstellungsfrist ist die unter Nr. 1 des Bescheids getroffene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig rechtswidrig geworden und die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers auf die Beklagte übergegangen (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO).
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Die Kosten sind dem Kläger auch nicht aus Billigkeitsgründen aufzuerlegen. Die von der Beklagten zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B.v. 10.1.2022 - 2 BvR 679/21 - juris) ist insoweit nicht vergleichbar (so auch VG Hannover, B.v. 15.6.2022 - 3 A 330/22 - juris Rn. 3; VG Gelsenkirchen, B.v. 11.5.2022 - 18a K 759/22.A - juris LS 1, Rn. 15). Bei Prüfung des § 34 Abs. 1, 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) soll im Hinblick auf die Funktion und die Tragweite der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nämlich gerade keine überschlägige Beurteilung der Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde im Rahmen der Entscheidung über die Auslagenerstattung stattfinden. Nur in den Sonderfällen, in denen die öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Akt beseitigt oder der Beschwer auf andere Weise abhilft, sie also das Begehren selbst für berechtigt erachtet, können die Auslagen des Klägers ausnahmsweise ersetzt werden.
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Mit der Bescheidsaufhebung reagierte das Bundesamt lediglich auf die gesetzliche Vorgabe des Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO, durch die der ursprünglich rechtmäßige Bescheid (dazu B. des VG München v. 18.1.2022, a.a.O. im zugrundeliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes) rechtswidrig wurde. Der Ablauf der Überstellungsfrist ist gesetzlich gesetzt; er liegt damit nicht in der Sphäre des Klägers. Die Beklagte hätte dem Fristablauf durch vorzeitige Überstellung des Klägers vorbeugen können. Soweit dies aus tatsächlichen Gründen unterblieben ist, trägt das gesetzlich zugewiesene Risiko einer nicht rechtzeitigen Überstellung die Beklagte (vgl. VG Gelsenkirchen, B.v. 11.5.2022 - 18a K 759/22.A - juris LS 1, Rn. 13; VG Ansbach, B.v. 21.4.2021 - AN 17 K 20.50062 - juris - Rn. 5; VG Würzburg, B.v. 26.3.2020 - W 10 K 19.50533 - juris Rn. 3 f.; vglb. ebenso die Rechtsprechung zur Risikolast der Beklagten bei nicht erfolgter Überstellung wegen der COVID-19 Pandemie BayVGH, B.v. 24.11.2020 - 9 ZB 20.50022 - juris Rn. 8ff.; NdsOVG, B.v. 27.10.2020 - 10 LA 217/20 - juris Rn. 19; OVG SH, B.v. 9.7.2020 - 1 LA 120/20 - juris Rn. 8 ff).
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Auch wenn die Durchführung der Überstellung nicht dem Bundesamt obliegt, sondern der zuständigen Ausländerbehörde, so hat es dennoch die Pflicht zur Kontrolle des Vollzugs (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG) und nachträglich entstehende Abschiebungshindernisse zu prüfen (BVerfG, B.v. 17.9.2014 - 2 BvR 1795/14 - juris Rn. 9, 10 m.w.N.), sodass auch deswegen keine andere Kostenverteilung veranlasst ist (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2020 - 3 ZB 20.50004, 3 ZB 20.50005 - juris Rn. 7).
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Dementsprechend kann auch über den Rechtsgedanken des § 156 VwGO keine andere Billigkeitsentscheidung getroffen werden. Dieser greift aufgrund einer fehlenden Mitwirkungspflicht des Klägers bezüglich seiner Ausreise (BVerwG, U.v. 17.8.2021 - 1 C 26.20 - juris Rn. 23) und der vorgenannten Pflicht des Bundesamts zur Überstellung des Klägers nicht durch (vgl. VG München, B.v. 10.8.2022 - M 30 K 22.50371 - juris Rn. 3).
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Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG; Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).