Titel:
Anforderung eines ärztlichen Gutachtens zur Prüfung der Fahreignung nach Schlaganfall
Normenketten:
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 2, Abs. 6, § 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, Anl. 4 Nr. 6.4
Leitsatz:
Die Fahreignung nach einem Schlaganfall (Hirninfarkt) ist für die Fahrzeuggruppe 2 nicht gegeben, für die Fahrzeuggruppe 1 nach erfolgreicher Therapie und Abklingen des akuten Ereignisses ohne Rückfallgefahr gegeben. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eignungszweifel wegen erlittenem Schlaganfall (apoplektischer Insult mit passagerer Aphasie), Anordnung eines ärztlichen Gutachtens, Nichteignungsvermutung aufgrund Nichtvorlage des Gutachtens, Fahrerlaubnis, Fahreignung, Schlaganfall, apoplektischer Insult, passagere Aphasie, Rückfallgefahr
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 01.02.2023 – 11 CS 22.2141
Fundstelle:
BeckRS 2022, 27673
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 8.750 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der 1937 geborene Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, AM, A1, A2, B, BE (79.06), C1 (171), C1E, L (174) und T.
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Die Polizeiinspektion T. informierte den Antragsgegner (Fahrerlaubnisbehörde des Landratsamts A.) am 21. Januar 2022 über einen vom Antragsteller am 20. Januar 2022 verursachten Unfall. Hiernach sei der Antragsteller links an einem Fahrbahnteiler vorbei abgebogen und weiter entgegen der Fahrtrichtung auf der Gegenspur gefahren. Der entgegenkommende Fahrer eines Pkw-Transporters habe das fehlerhafte Fahrmanöver bemerkt, sein Fahrzeug zum Stillstand gebracht und versucht, durch die Lichthupe zu warnen. Der Antragsteller sei unbeirrt weitergefahren und letztendlich mit mäßiger Geschwindigkeit frontal gegen den stehenden Pkw-Transporter gestoßen. Des Weiteren habe er bereits am 30. Oktober 2021 einen Kleinunfall verursacht und sei am 24. September 2020 an einem Verkehrsunfall beteiligt gewesen.
3
Mit Schreiben vom 1. Februar 2022 informierte der Antragsgegner den Antragsteller unter Schilderung des vorgenannten Vorfalls über die Prüfung seiner Fahrtauglichkeit und bat um Vorlage einer Stellungnahme eines Allgemeinmediziners bis zum 25. Februar 2022. Dem von dem Antragsteller vorgelegten Attest vom 22. Februar 2022 des Allgemeinmediziners Dr. Sch. zufolge, leide der Antragsteller an altersentsprechenden Abnützungserscheinungen seines Bewegungsapparates und an einer jeweils medikamentös behandelten arteriellen Hypertonie und einer Hypercholesterinämie. Diagnostiziert wird des Weiteren ein „Zustand nach apoplektischem Insult 06/12 (Schlaganfall) mit passagerer Aphasie“; im Juni 2012 habe der Antragsteller nach erheblicher körperlicher Überlastung einen Schlaganfall erlitten, sei seitdem jedoch wieder beschwerdefrei. Zudem sei ihm 2017 eine Schrumpfniere operativ entfernt worden. Der Antragsteller sei in einem altersentsprechend eher überdurchschnittlich guten Allgemeinzustand und durch die Pflege und Betreuung seiner schwer demenzkranken Ehefrau sehr belastet.
4
Mit Schreiben vom 1. März 2022 bat der Antragsgegner den Antragsteller um Übersendung ergänzender ärztlicher Unterlagen und hörte ihn bezüglich des Führens von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 aufgrund des erlittenen Schlaganfalls zur Entziehung der Fahrerlaubnis an. Daraufhin übersandte der Antragsteller eine weitere ärztliche Bescheinigung vom 7. März 2022 des Allgemeinmediziners Dr. Sch. Bezüglich der „arteriellen Hypertonie“ wurden drei Blutdruckwerte übermittelt; zerebrale Symptome oder Sehstörungen seien in den letzten Jahren nie aufgetreten. Hinsichtlich des „Zustands nach Nephrektomie wegen Schrumpfniere 2017“ bestehe nur eine gering eingeschränkte, altersentsprechende Nierenfunktionseinschränkung. Bezüglich des „Zustands nach apoplektischem Insult 06/12 mit passagerer Aphasie“ führt das Attest aus, dass sich die neurologischen Ausfälle von 2012 sehr rasch wieder vollständig zurückgebildet hätten und keine spezifische Therapie notwendig gewesen sei; neurologische und/ oder neuropsychologische Ausfälle sowie eine signifikant erhöhte Rezidivgefahr bestünden nicht. Seit dem 10 Jahre zurückliegenden Schlaganfall habe es keinerlei Rezidiv gegeben.
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Mit Schreiben vom 6. April 2022, dem Antragsteller am 8. April 2022 zugestellt, ordnete der Antragsgegner die Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens zur Klärung der Fahreignung bis zum 10. Juni 2022 an. Gestützt wurde dies auf § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) i.V.m. Nr. 6.4. der Anlage 4 zur FeV (Kreislaufabhängige Störungen der Hirntätigkeit). Im Falle eines Schlaganfalls könne nach erfolgreicher Therapie und Abklingen des akuten Ereignisses ohne Rückfallgefahr Fahreignung der Gruppe 1 bestehen. Als Risikofaktor komme die beim Antragsteller diagnostizierte arterielle Hypertonie hinzu. Anhand der vorliegenden Unterlagen könne nicht beurteilt werden, ob nach dem von ihm im Jahr 2012 erlittenen Schlaganfall die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gegeben seien. Bezüglich des Führens der Gruppe 2 bestehe nach erlittenem Schlaganfall keine Fahreignung. In der Gesamtbetrachtung sei es verhältnismäßig, die aufgezeigten Eignungszweifel mittels eines ärztlichen Gutachtens von einem Facharzt mit verkehrsmedizinischer Qualifikation auszuräumen. Ermessen wurde ausgeübt.
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Der Antragsteller nahm in verschiedenen Schreiben an den Antragsgegner Stellung und trug unter anderem vor, dass er voll fahrtauglich sei und bei ihm weder Alkohol- oder Schwächeerscheinungen, noch Altersdefizite vorlägen. Im Gegenteil sei er dank täglichen Lauftrainings, regelmäßigem Bergsteigen und Kegeln in bestem gesundheitlichem Zustand. Im Zeitpunkt des Unfalls mit dem Pkw-Transporter habe es einen starken Schneesturm gegeben, der ihm die Sicht genommen habe. Ohne Pkw könne er die erforderlichen Fahrten zu den verschiedenen Pflege- und Sozialeinrichtungen mit seiner schwer demenzkranken Frau, die er bis zu 18 Stunden täglich pflege, nicht bewältigen. Die Prozessbevollmächtigten, die mit Schreiben vom 30. Juni 2022 die Vertretung des Antragstellers anzeigten, trugen darüber hinaus vor, dass der Unfall vom 20. Januar 2022 nicht zum Anlass für eine nähere Aufklärung genommen werden dürfe. Der Antragsgegner ergänzte daraufhin seine bereits in der Gutachtensanordnung dargestellten Gründe und hörte den Antragsteller zu einer beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an.
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Nachdem dieser das verlangte Gutachten nicht vorlegte, entzog der Antragsgegner ihm mit für sofort vollziehbar erklärtem (Nr. 3) Bescheid vom 5. Juli 2022 die Fahrerlaubnis aller Klassen (Nr. 1) und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgeldes (Nr. 4) auf, seinen Führerschein innerhalb einer Woche nach Zustellung abzugeben (Nr. 2). Als Rechtsgrundlage für die Entziehung wurden § 3 Abs. 1 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG), § 46 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 FeV und § 11 Abs. 8 FeV genannt. Ein Gutachten sei trotz entsprechender Anordnung nicht vorgelegt worden. Insbesondere die in den Attesten vom 22. Februar und 7. März 2022 genannte Diagnose Schlaganfall habe zur Notwendigkeit der Eignungsüberprüfung geführt. Der Antragsteller gab am 9. Juli 2022 seinen Führerschein ab.
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Gegen den Bescheid vom 5. Juli 2022 erhob er mit Schriftsatz vom 28. Juli 2022 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München durch seine Bevollmächtigten Klage und ließ darüber hinaus beantragen,
die sofortige Vollziehung der Verfügung des Antragsgegners vom 5. Juli 2022 auszusetzen, die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen und den Antragsgegner zur unverzüglichen Herausgabe des Führerscheins an den Antragsteller zu verpflichten.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Anordnung zur Beibringung des ärztlichen Gutachtens materiell rechtswidrig gewesen sei. Die Voraussetzungen nach § 11 Abs. 2 FeV lägen nicht vor, insbesondere sei die Anordnung nicht anlassbezogen. Nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (BayVGH, B.v. 7.2.2022 - 11 CS 21.2385) könne der Unfall eines älteren Kraftfahrers nicht ohne weiteres und ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände des Einzelfalls zum Anlass für eine nähere Aufklärung genommen werden. Jedenfalls seien vermutete altersbedingte Defizite durch die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen ausgeräumt worden. Der im Juni 2012 erlittene Schlaganfall könne die Anordnung eines Fahreignungsgutachtens nicht rechtfertigen. Durch die ärztlichen Bescheinigungen werde ausführlich bestätigt, dass der Antragsteller beschwerdefrei und ohne Rückfallgefahr, eine Therapie für medizinisch nicht notwendig erachtet worden und es seit nunmehr 10 Jahren zu keinen Auffälligkeiten gekommen sei. Somit bestehe die Fahreignung nach Anlage 4 FeV fort. Ebenso reiche die diagnostizierte arterielle Hypertonie nicht als Anordnungsgrundlage aus.
10
Der Antragsgegner beantragte mit Schriftsatz vom 8. August 2022,
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Er erwiderte, dass die Kombination der vorliegenden Diagnosen des Antragstellers, insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass eine passagere Aphasie weiterhin bestehe, die gesundheitliche Eignungsüberprüfung begründe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakten, auch im Verfahren M 19 K 22.3738, Bezug genommen.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bleibt ohne Erfolg.
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Nach Auslegung des vom anwaltlich vertretenen Antragsteller gestellten Antrags (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) geht das Gericht davon aus, dass der Antragsteller hinsichtlich der in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten Entziehung seiner Fahrerlaubnis sowie hinsichtlich der mit Bescheid des Antragsgegners vom 5. Juli 2022 verfügten Entziehung der Fahrerlaubnis (Nr. 1) und Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins (Nr. 2), die beide für sofort vollziehbar erklärt wurden, die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung begehrt. Hinsichtlich der in Nr. 4 des Bescheids verfügten und kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Zwangsgeldandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes - VwZVG), sowie der ebenfalls kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) sofort vollziehbaren Kostenregelung (Nr. 5), begehrt er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage. Weiterhin begehrt er die vorläufige Herausgabe seines bereits abgegebenen Führerscheins.
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A. Der so verstandene Antrag ist teilweise zulässig.
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Insbesondere hat sich auch durch die zwischenzeitige Abgabe des Führerscheins die diesbezügliche Verpflichtung in Nr. 2 des Bescheids nicht erledigt. Diese stellt nach wie vor den Rechtsgrund für das vorläufige Behaltendürfen dieses Dokuments für den Antragsgegner dar (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2014 - 11 CS 13.2281 - juris Rn. 22). Neben der Hauptverfügung - hier der Entziehung der Fahrerlaubnis in Nr. 1 des Bescheids - besteht für den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO somit auch in Hinblick auf die Nr. 2 des Bescheids weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis.
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Unzulässig ist der Antrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses jedoch, soweit der Antragsteller die unverzügliche Herausgabe seines Führerscheins begehrt. Es ist nichts dafür vorgetragen oder ersichtlich, dass der Antragsgegner nicht von sich aus die Konsequenzen aus einem erfolgreichen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ziehen und dem Antragsteller seinen Führerschein zurückgeben wird (vgl. BayVGH, B.v. 12.3.2007 - 11 CS 06.2028 - juris Rn. 16).
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Unzulässig ist der Antrag ebenfalls, soweit er sich gegen die Zwangsgeldandrohung in Nr. 4 des Bescheids richtet, da der Antragsteller seinen Führerschein bereits abgegeben hat. Damit ist die Verpflichtung aus Nr. 2 des Bescheids erfüllt. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Antragsgegner das angedrohte Zwangsgeld entgegen der Vorschrift des Art. 37 Abs. 4 Satz 1 VwZVG gleichwohl noch beitreiben wird. Daher fehlt es dem Antragsteller für einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der Nr. 4 des Bescheids am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis (BayVGH, B.v. 12.2.2014 - 11 CS 13.2281 - juris Rn. 22).
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B. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
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1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 3 des Bescheids vom 5. Juli 2022 genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind dabei keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 55).
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Dem genügt die Begründung im streitgegenständlichen Bescheid. Der Antragsgegner hat dargelegt, dass er die sofortige Ablieferung des Führerscheins angeordnet hat, um seiner missbräuchlichen Verwendung nach Entziehung der Fahrerlaubnis entgegen zu wirken. Im Übrigen ergibt sich im Bereich des Sicherheitsrechts das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung bereits aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsakts maßgebend waren (BayVGH, B.v. 27.2.2019 - 10 CS 19.180 - juris Rn. 10 ff.).
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2. Bei der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht eine eigenständige Interessenabwägung vorzunehmen. Abzuwägen ist das Interesse des Antragstellers, zumindest vorläufig von seiner Fahrerlaubnis weiter Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird. Bei der Prüfung ist in erster Linie von den Erfolgsaussichten des eingelegten Hauptsacherechtsbehelfs, hier der Klage vom 29. Juli 2022, auszugehen. Lässt sich bei summarischer Prüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsakts bestehen. Andererseits ist für eine Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers im Regelfall kein Raum, wenn keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen. So liegt die Sache hier.
23
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, U.v. 23.10.2014 - 3 C 3.13 - juris Rn. 13), hier somit derjenige des Bescheidserlasses. Dies gilt auch für den vorliegenden Beschluss.
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2.1. Die zulässige Klage vom 29. Juli 2022 gegen die mit Bescheid vom 5. Juli 2022 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis (dort Nr. 1) hat voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg, da die Entziehung rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Der Antragsgegner durfte aus der Nichtbeibringung des vom Antragsteller zu Recht geforderten Gutachtens gemäß §§ 46 Abs. 3, 11 Abs. 8 FeV auf seine Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen.
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Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Das gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet oder nur bedingt geeignet ist, so finden gemäß § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 14 FeV entsprechende Anwendung. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann unter den dort genannten Voraussetzungen weitere Aufklärung, insbesondere durch die Anordnung der Vorlage ärztlicher oder medizinisch-psychologischer Gutachten, zu betreiben (§ 3 Abs. 1 Satz 3 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen (§ 11 Abs. 2 Satz 1 FeV). Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das von der Fahrerlaubnisbehörde geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf diese bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV).
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Ein Schluss auf die Nichteignung ist jedoch nur zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. nur BVerwG, U.v. 17.11.2016 - 3 C 20.15 - juris Rn. 19 m.w.N.). An die Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung sind dabei grundsätzlich strenge Maßstäbe anzulegen, weil der Antragsteller sie mangels Verwaltungsaktqualität nicht unmittelbar anfechten kann. Er trägt das Risiko, dass ihm gegebenenfalls die Fahrerlaubnis bei einer Weigerung oder Nichtbeibringung entzogen wird. Der Gutachter ist an die Gutachtensanordnung und die dort formulierte Fragestellung gebunden (§ 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Nr. 1 lit. a Satz 2 der Anlage 4a zur FeV). Es ist gemäß § 11 Abs. 6 FeV Aufgabe der Fahrerlaubnisbehörde, die Beurteilungsgrundlage und den Beurteilungsrahmen selbst klar festzulegen. Der Betroffene muss der Gutachtensaufforderung entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das Verlautbarte die behördlichen Zweifel an seiner Fahreignung zu rechtfertigen vermag.
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Gemessen an diesen Maßstäben begegnet die Gutachtensaufforderung des Antragsgegners vom 6. April 2022, wonach der Antragsteller zur Abklärung seiner Fahreignung ein ärztliches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung beizubringen hatte, keinen rechtlichen Bedenken.
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2.1.1. Sie genügt den formellen Voraussetzungen des § 11 Abs. 6 FeV. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller im Aufforderungsschreiben vom 6. April 2022 unter Nennung der zutreffenden Rechtsgrundlagen der §§ 46 Abs. 3 i.V.m. 11 Abs. 2 FeV i.V.m. Nr. 6.4 der Anlage 4 zur FeV die Gründe dargelegt, weshalb er an seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zweifelt. Abgestellt wurde auf die in den ärztlichen Stellungnahmen vom 22. Februar und 7. März 2022 getroffene Diagnose „Zustand nach apoplektischem Insult 06/12 mit passagerer Aphasie“. Die diesbezüglichen Fragestellungen waren nicht zu beanstanden. Sie beschränken sich auf die in Nr. 6.4 der Anlage 4 zur FeV genannte Erkrankung. Die Gutachtensaufforderung genügte auch den sonstigen, sich aus § 11 Abs. 6 FeV ergebenden formellen Anforderungen. Die Gutachtensaufforderung enthielt insbesondere den erforderlichen Hinweis nach § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV.
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2.2.2. Die materiellen Voraussetzungen zur Anforderung eines ärztlichen Gutachtens lagen im maßgeblichen Zeitpunkt der Begutachtungsanordnung (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 - 3 C 20.15 - juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 11.2.2019 - 11 CS 18.1808 - juris Rn. 18) ebenfalls vor. Es bestand Anlass, ein ärztliches Gutachten anzuordnen, weil der Antragsteller ausweislich der ärztlichen Unterlagen im Juni 2012 einen Schlaganfall erlitten hatte.
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(1) Der Einwand von Antragstellerseite, der Unfall vom 20. Januar 2022 habe nicht zum Anlass für eine nähere Aufklärung genommen werden dürfen, verfängt schon deshalb nicht, weil sich die Anordnung vom 6. April 2022 nicht auf den Unfall stützte, sondern auf die ärztliche Diagnose des Schlaganfalls. Da die ärztlichen Bescheinigungen vom 22. Februar 2022 und vom 7. März 2022 dem Antragsgegner vorgelegt wurden, kann die Frage, ob diesbezüglich eine Vorlageverpflichtung bestanden hatte, dahinstehen (vgl. st. Rspr., vgl. etwa VG München, B.v. 24.5.2022 - M 19 S 22.1607 - juris Rn. 36; VG Köln, B.v. 28.5.2021 - 6 L 711/21 - juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 28.10.2013 - 11 CS 13.1746 - juris). Die vorgelegten medizinischen Unterlagen schaffen eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat. Abgesehen davon drängen sich keine Bedenken auf, weshalb die mit Schreiben vom 1. Februar 2022 veranlasste nähere Aufklärung nicht hätte vorgenommen werden dürfen. Nachdem sich keine greifbaren Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der polizeilichen Darstellung vom 21. Januar 2022 ergaben, hatte der Antragsgegner aufgrund des auffälligen Verhaltens des Antragstellers im Straßenverkehr unter Berücksichtigung der im Unfallzeitpunkt bestehenden schlechten Sicht durch das Schneetreiben etwaige Erkrankungen des Antragstellers durch Vorlage eines allgemeinärztlichen Attests überprüft. Dieses Vorgehen trug zum einen den obergerichtlich geforderten konkreten Umständen des Einzelfalls Rechnung (BayVGH, B.v. 7.2.2022 - 11 CS 21.2385 - juris Rn. 16), zum anderen bezieht sich die von Antragstellerseite zitierte vorgenannte Rechtsprechung auf die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens und nicht, wie hier, allein auf die Vorlage allgemeinärztlicher Stellungnahmen.
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(2) Nach einem Schlaganfall (Hirninfarkt) bemisst sich die Fahreignung nach Nr. 6.4 der Anlage 4 zur FeV (kreislaufabhängige Störung der Hirntätigkeit). Die Fahreignung ist demnach für die Fahrzeuggruppe 2 nicht gegeben, für die Fahrzeuggruppe 1 nach erfolgreicher Therapie und Abklingen des akuten Ereignisses ohne Rückfallgefahr gegeben. Aus dem Wortlaut bezüglich Gruppe 1 ergibt sich, dass beide Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen, mithin also weder relevante Leistungsbeeinträchtigungen noch eine Rückfallgefahr feststellbar sein dürfen. Die Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass die aktive Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr nicht nur bei Vorliegen relevanter neurologischer und/oder neuropsychologischer Ausfälle eine erhöhte Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darstellt, sondern auch bei einem Risiko von Anfallsrezidiven (VG München, B.v. 8.10.2019 - M 6 K 18.2589 - n.v. Rn. 20; BayVGH, B.v. 8.7.2013 - 11 CS 13.964 - juris Rn. 15). Ob und wann diese Voraussetzungen vorliegen, ist von den besonderen Umständen des Einzelfalls abhängig (Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Stand Dezember 2019, Nr. 3.9.4).
33
Die Gutachtensanordnung bezüglich des Führens von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 begründet der Antragsgegner mit der für den Antragsteller gestellten Diagnose eines apoplektischen Insults im Juni 2012 mit passagerer Aphasie in Kombination mit der ebenfalls diagnostizierten arteriellen Hypertonie. Auch wenn im ärztlichen Attest vom 7. März 2022 ausgeführt wird, dass seit dem 10 Jahre zurückliegenden Schlaganfall bisher kein Rezidiv aufgetreten sei, eine spezifische Therapie nicht notwendig gewesen sei und sich, soweit bekannt, die neurologischen Ausfälle sehr rasch wieder vollständig zurückgebildet hätten, sind die vom Antragsgegner dargelegten Eignungszweifel nicht zu beanstanden. Diese resultieren in erster Linie aus der Diagnose an sich. Bei Vorliegen relevanter neurologischer und/oder neuropsychologischer Ausfälle (z.B. Lähmungen und Aphasien) ist die an den Folgen eines Hirninfarkts leidende Person nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden (vgl. Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Stand Dezember 2019, Nr. 3.9.4). Dort heißt es weiter:
34
„Die Beurteilung setzt in der Regel eine stationäre Untersuchung voraus. […] Selbst wenn bei intermittierendem Verlauf die Leistungsfähigkeit nicht sofort erheblich beeinträchtigt ist, so besteht doch die Gefahr eines hirnorganischen Zwischenfalls (z.B. transitorische Attacken, Apoplexie) sowie einer Verschlechterung des Grundleidens. Für die Beurteilung ist daher die Feststellung des Grundleidens wichtig. Darum müssen vor einer Eignungsbeurteilung gesicherte, durch klinische Untersuchungen erhobene Befunde vorliegen.“
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Solche Befunde sind weder in den vorliegenden Unterlagen des Allgemeinmediziners zu sehen, noch in dem Vortrag des Antragstellers, sich bester körperlicher Gesundheit zu erfreuen. Aus der allgemeinmedizinischen Aussage, es sei nach dem Schlaganfall keine Therapie notwendig gewesen, ist der Antragsgegner nicht in der Lage, die erfolgreiche Durchführung einer Therapie abzuleiten. Gleiches gilt bezüglich der Aussage, es bestünden keine Rezidiven oder ein erhöhtes Rezidiv-Risiko. Für die Beurteilung, ob beim Antragsteller von einem Zustand „nach erfolgreicher Therapie und Abklingen des akuten Ereignisses ohne Rückfallgefahr“ i.S.d. Nr. 6.4 der Anlage 4 zur FeV auszugehen ist, bedarf es vielmehr einer fachärztlichen Klärung. Dass der Antragsgegner die Einschätzung des Allgemeinmediziners dennoch gewürdigt hat, zeigt seine Aussage, dass es im Falle des Antragstellers möglich ist, dass dieser weiterhin in der Lage zum Führen der Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 ist. In der Gesamtbetrachtung kommt er zurecht zum Ergebnis, dass es für diese Abklärung eines weiteren medizinischen Sachverstandes bedarf, zumal bei dem Antragsteller die ebenfalls diagnostizierte arterielle Hypertonie hinzukommt.
36
Der Antragsgegner bezieht in nicht zu beanstandender Weise auch das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 (C1 und C1E) in die Gutachtensanordnung ein. Er weist darauf hin, dass der Antragsteller trotz Anhörung zur Entziehung der Fahrerlaubnis der Gruppe 2 mit Schreiben vom 1. März 2022 nicht von der Möglichkeit eines freiwilligen Verzichts auf die Fahrerlaubnis der Gruppe 2 Gebrauch gemacht hat. Mit der Gutachtensanordnung gibt er somit dem Antragsteller auch hinsichtlich der Gruppe 2 die Gelegenheit, seine Eignung unter Beweis zu stellen, sodass diese für den Antragsteller keine Verschlechterung seiner Rechtsposition darstellt. Nach Nr. 3 der Vorbemerkungen der Anlage 4 zu FeV gelten die hierin vorgenommenen Bewertungen für den Regelfall; Zweifel sind im Einzelfall gutachtlich zu klären (vgl. OVG Berlin-Bbg, U.v. 26.3.2009 - OVG 1 B 9.07 - juris Rn. 18 zur grds. Möglichkeit, vom Ausspruch der Rechtsfolge aus Anlage 4 zur FeV abzusehen).
37
(3) Ermessensfehler des Antragsgegners sind nicht ersichtlich. Er hat erkannt, dass ihm durch § 11 Abs. 2 FeV ein Entschließungsermessen eingeräumt ist und hat dieses Ermessen auch rechtsfehlerfrei ausgeübt. Insbesondere war es unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht geboten, weitere ärztliche Stellungnahmen beim Antragsteller anzufordern, da der erlittene Schlaganfall mit passagerer Aphasie vom behandelnden Arzt des Antragstellers ausdrücklich diagnostiziert wurde und valide Aussagen zur Fahreignung trotz der vorliegenden Erkrankung von dieser Seite nicht zu erwarten waren.
38
Da somit die Gutachtensanordnung rechtmäßig war und der Antragsteller das Gutachten nicht vorgelegt hat, musste die Behörde aus der Nichtvorlage auf die fehlende Eignung des Antragstellers schließen. Bezüglich der Nichteignungsvermutung des § 11 Abs. 8 FeV stand dem Antragsgegner kein Ermessenspielraum zu (vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2021 - 11 ZB 20.1138 - juris Rn. 14). Daher konnten etwaige Folgen der Fahrerlaubnisentziehung für die vom Antragsteller vorgebrachten Besorgungen für sich und seine pflegebedürftige Frau nicht berücksichtigt werden.
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2.2. Da die sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung standhält, verbleibt es auch bei der zur Entziehung akzessorischen Ablieferungspflicht aus Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids. Diese Verpflichtung findet ihre Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV.
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3. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
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Die Streitwertfestsetzung basiert auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz - GKG - i.V.m. den Nrn. 1.5 Satz 1, 46.1 (Auffangwert), 46.3 (Auffangwert), 46.5 (Auffangwert) und 46.9 (halber Auffangwert) des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Stand Juli 2013) und ist mit 8.750 EUR festzusetzen. Maßgeblich für die Streitwertfestsetzung sind die Fahrerlaubnisklassen A, B, C1E und T. Die Fahrerlaubnisklassen AM und A1 sind in der Klasse A, die Fahrerlaubnisklasse AM und L sowohl in der Klasse B als auch T enthalten (§ 6 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 1, 3, 4 und 11 FeV). Der nach Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs in Antragsverfahren zu halbierende Gesamtstreitwert von 17.500 EUR ergibt einen Streitwert von 8.750 EUR.