Inhalt

VGH München, Beschluss v. 02.08.2022 – 20 CS 22.1540
Titel:

Verkehrsverbot für ein Tabakerzeugnis (Wasserpfeifentabak) – erfolgreiche Beschwerde

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 3, Abs. 5
TabakerzG § 29
Leitsätze:
1. Einen Automatismus, allein wegen des bestehenden Erlassinteresses die Anordnung des Sofortvollzuges unter weitgehender Hintanstellung des Begründungserfordernisses für ein im Einzelfall bestehendes Vollzugsinteresse zu rechtfertigen, sieht der gesetzliche Regelfall des § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO nicht vor. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Marktüberwachungsbehörde ist hinsichtlich der Wahl der im konkreten Einzelfall zu treffenden Maßnahme ein Auswahlermessen eingeräumt. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Marktüberwachungsmaßnahme, Verbot des Inverkehrbringens, Rücknahme, Verbotene Zusatzstoffe in Tabakerzeugnissen, Begründungserfordernis einer Vollzugsanordnung, Begründungserfordernis, Verkehrsverbot, Tabakerzeugnis, Wasserpfeife, mittelbarer Gesundheitsschutz, Rücknahmeanordnung, Anordnung der sofortigen Vollziehung, Inhaltsstoff, Zusatzstoff
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 13.06.2022 – Au 9 S 22.1171
Fundstelle:
BeckRS 2022, 27394

Tenor

I. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 13. Juni 2022 wird geändert. Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit in Ziffer 3. des Bescheides vom 10. Mai 2022 wird bezüglich seiner Ziffer 1 aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 2 des Bescheides wird wiederhergestellt.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt in beiden Rechtszügen die Antragsgegnerin.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 200.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

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Die Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig und begründet.
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1. Streitgegenstand des Beschwerdeverfahrens ist die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit in Ziffer 3 des Bescheids des Beklagten vom 10. Mai 2022 in der Fassung der im Rahmen eines Telefonats mit der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin mündlich getroffenen Änderungsverfügung vom 20. Mai 2022 (Art. 9, 10, 37 Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG). Wie sich dem Inhalt der Behördenakte entnehmen lässt, hat der Beklagte fernmündlich die Anordnung des Rückrufs nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 TabakerzG (Ziffer 2 des Bescheides vom 10. Mai 2022) unter gleichzeitiger Anordnung einer Rücknahmeverpflichtung nach § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 TabakerzG aufgehoben (Art. 43 Abs. 2 BayVwVfG) und dabei zum Ausdruck gebracht, an dem Regelungsgehalt der schriftlichen Anordnung vom 10. Mai 2022 im Übrigen festhalten zu wollen. Die Verwaltungsakte sind wirksam, weil die Aufhebung der Rückrufanordnung und die gleichzeitig ausgesprochene Rücknahmeanordnung nach Art. 41 Abs. 1 BayVwVfG der Prozessbevollmächtigen der Beschwerdeführerin bekanntgegeben wurden. Keiner Entscheidung bedarf hingegen, ob die Aufhebung der Rückrufanordnung in Ziffer 2 rechtmäßig erfolgt ist.
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2. Die Begründung der sofortigen Vollziehbarkeit der Anordnung in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides vom 10. Mai 2022 entspricht nicht den Anforderungen an die Begründungspflicht nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO und war allein deshalb aufzuheben (zu den prozessualen Folgen eines solchen Begründungsmangels vgl. BVerwG, B.v. 18.9.2001 - 1 DB 26.01 - juris Rn. 6; zum Meinungsbild Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: Juli 2021, § 80 Rn. 442 ff.). Während das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen aus § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO als erfüllt angesehen hat, fehlt aus der Sicht des Senats insbesondere der erforderliche Einzelfallbezug der Begründung, aus dem der Ausnahmecharakter der Vollzugsanordnung erkennbar wird. Die Beschwerdebegründung hat diesen Mangel auch in einer den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dargelegt, so dass der Prüfungsrahmen des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO eröffnet ist.
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a) In den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO hat die Behörde die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO besonders zu begründen. Dabei rechtfertigt allein das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes - hier der Anordnung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides vom 10. Mai 2022 - regelmäßig nicht die Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO. Der Eintritt der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nach § 80 Abs. 1 VwGO ist der gesetzliche Regelfall, ungeachtet dessen, dass stets ein öffentliches Interesse an der Vollziehung eines (rechtmäßigen) Verwaltungsaktes besteht. Da es sich bei der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung nach der Wertung des Gesetzgebers um einen Ausnahmefall handelt, muss neben das ohnehin bestehende öffentliche Interesse an der Umsetzung eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes (Erlassinteresse) ein besonderes Vollzugsinteresse treten, das das Absehen vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung und die Befugnis der Behörde, einen Verwaltungsakt auch schon vor Eintritt der Bestandskraft mit Zwangsmitteln durchzusetzen (vgl. Art. 19 Abs. 1 Nr. 2 und 3 VwZVG, § 6 Abs. 1 VwVG), zu rechtfertigen vermag (zu den materiellen Anforderungen an das Dringlichkeitsinteresse vgl. BayVGH, B.v. 28.8.2020 - 12 CS 20.1750 - juris Rn. 42 ff.). Diesem Erfordernis trägt § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO Rechnung. Die Behörde muss sich der Ausnahmesituation bewusstwerden und das besondere Vollzugsinteresse begründen, wenn sie vom Regelfall abweicht und die sofortige Vollziehung anordnet. Die Norm dient darüber hinaus dem Rechtsschutz des Betroffenen, der ausgehend von der Begründung die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs besser einschätzen können soll (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 80 Rn. 54; Gersdorf in BeckOK, VwGO, Stand Juli 2021, § 80 Rn. 86). Zwar kommt es zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht darauf an, ob die gegebene Begründung inhaltlich richtig und sachlich geeignet ist, ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung zu rechtfertigen. Dieser materiell-rechtliche Aspekt fließt in die originäre Ermessensentscheidung des Gerichts im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ein und wird durch sie ersetzt. Formelhafte, also für beliebige Fallgestaltungen passende Wendungen, formblattmäßige oder pauschale Argumentationsmuster sowie die bloße Wiederholung des Gesetzestextes reichen nicht aus, da daraus nicht erkenntlich wird, ob und aus welchen Gründen die Behörde vom Vorliegen eines Ausnahmefalls ausgegangen ist, der ein Abweichen vom Grundsatz des § 80 Abs. 1 VwGO rechtfertigen kann (vgl. Hoppe in Eyermann, a.a.O., § 80 Rn. 55; Gersdorf in BeckOK, VwGO, a.a.O., § 80 Rn. 87).
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b) Den dargestellten Anforderungen genügt die Begründung der Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides nicht. Die Begründung lässt gerade nicht erkennen, dass sich die Antragsgegnerin besonderer Umstände des Einzelfalls bewusst war, die eine Anordnung des Sofortvollzugs rechtfertigen können. Vielmehr hat sie die Anordnung unter Wiederholung des Gesetzestextes und unter Nennung des Schutzzwecks der Norm (Gesundheitsschutz) auf abstrakt-allgemeine Gesichtspunkte gestützt, ohne diese aber in irgendeiner Weise auf den konkreten Einzelfall zu beziehen oder sie näher zu begründen. Die Antragsgegnerin hat die Anordnung des Sofortvollzugs maßgeblich darauf gestützt (vgl. Ziff. 3 der Begründung des Bescheides), dass die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse geboten sei, da ein aufgrund von unerlaubten Zusatzstoffen nicht verkehrsfähiges Tabakerzeugnis in Verkehr gebracht werde. Das Verbot von Zusatzstoffen, die die Nikotinaufnahme oder das Inhalieren erleichterten, diene dem Gesundheitsschutz und der Vorkehrung gegen gesundheitliche Schäden, da der (übermäßige) Konsum bzw. die Gewöhnung an das Tabakerzeugnis verhindert werden sollten. Damit die Anordnung ihre Wirkung möglichst rasch entfalten könne, sei die sofortige Vollziehung notwendig. Das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung einer Klage müsse deshalb gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Gesundheit der Verbraucher zurücktreten. Diese Begründung wird nach Auffassung des Senats den Anforderungen aus § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO nicht gerecht.
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Zwar können sich die formalen Anforderungen an die Begründung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, insbesondere hinsichtlich der Darlegung des überwiegenden öffentlichen Interesses, im Einzelfall dann reduzieren, wenn der Gesetzeszweck ohne Anordnung des Sofortvollzugs überhaupt nicht erreichbar ist (zur Fahrerlaubnisentziehung vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, a.a.O., § 80 Rn. 46). Dafür ist in erster Linie der Rang der durch die Anordnung zu schützenden Rechtsgüter maßgeblich: Je höher diese einzustufen und je geringer die anderweitigen Einflussmöglichkeiten auf die Gefahrenquelle sind, desto niedrigere Anforderungen sind an eine Begründung für den konkreten Einzelfall zu stellen.
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Für die Annahme eines derartigen Falls besteht entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kein Grund. Dieses hat angenommen, wegen der fehlenden Verkehrsfähigkeit des Tabakprodukts der Antragstellerin verbleibe naturgemäß für eine einzelfallbezogene Begründung des Sofortvollzugs nur ein entsprechend verringerter Spielraum. Im Ergebnis hat es festgestellt, dass die Begründung den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO (noch) genüge. Dabei lässt es aber unberücksichtigt, dass das TabakerzG und der auf Grundlage des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 TabakerzG erlassene § 4 TabakerzV i.V.m. Anlage 1 Nr. 1 bis 4 überwiegend gesundheitspräventive Zwecke unter Hinnahme der Gesundheitsschädlichkeit des Tabakkonsums verfolgt und damit lediglich mittelbar dem Gesundheitsschutz dient, indem der Konsum von Tabakerzeugnissen weder gefördert noch erleichtert werden soll (vgl. hierzu BT-Drs. 1872/18 S. 31 und 33 und BR-Drs. 221/17 S. 8 und Art. 1 der RL 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 [Amtsblatt der Europäischen Union vom 29.4.2014 L 127/1], der bestimmt, dass die Richtlinie der Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten dient, damit - ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen - das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse erleichtert wird und damit die Verpflichtungen der Union im Rahmen des WHO-Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (Framework Convention on Tobacco Control) eingehalten werden.). Nr. 5 der Anlage 1 zu § 4 TabakerzV i.V.m. § 4 TabakerzV hingegen enthält das Verbot von Zusatzstoffen, die in unverbrannter Form CMR-Eigenschaften, also karzinogene, mutagene und reproduktionstoxische Eigenschaften aufweisen, und dient damit unmittelbar dem Gesundheitsschutz. Einen gesetzlich angeordneten Sofortvollzug (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sieht das TabakerzG im Gegensatz zu den lebensmittelrechtlichen Vorschriften (§ 39 Abs. 7 LFGB) für keine der nach § 29 TabakerzG möglichen Maßnahmen vor, auch nicht bei Vorliegen eines ernsten Risikos.
8
Die streitgegenständliche Anordnung enthält keinerlei Feststellungen dazu, dass die in dem streitgegenständlichen Tabakerzeugnis festgestellten Inhaltsstoffe selbst unmittelbar gesundheitsgefährdend seien oder dass Gründe vorliegen, die trotz der Zielsetzung des lediglich mittelbaren Gesundheitsschutzes ausnahmsweise rechtfertigen könnten, die sofortige Vollziehbarkeit des Verkehrsverbots anzuordnen. Einen Automatismus, allein wegen des bestehenden Erlassinteresses die Anordnung des Sofortvollzuges unter weitgehender Hintanstellung des Begründungserfordernisses für ein im Einzelfall bestehendes Vollzugsinteresse zu rechtfertigen, sieht der gesetzliche Regelfall des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO gerade nicht vor. Der streitgegenständlichen Anordnung lässt sich insbesondere angesichts des von den einschlägigen Normen des § 4 i.V.m. Anlage 1 Nr. 4 verfolgten Schutzzwecks der Gesundheitsprävention (Verbot von Zusatzstoffen bei Rauchtabakerzeugnissen, die das Inhalieren oder die Nikotinaufnahme erleichtern) in keiner Weise entnehmen, dass sich die Behörde bewusst war, vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Anordnung abzuweichen.
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Auch soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung aus der Systematik und der Effektivität des Unionsrechts abgeleitet wird, dass es für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit keiner konkreten Gefährlichkeitsnachweise bedürfe (vgl. nur zum Lebensmittelrecht VGH BW, B.v. 8.2.2021 - 9 S 3951/20 - juris Rn. 32; OVG NW, B.v. 23.1.2020 - 13 B 1423/19 - juris Rn. 24; NdsOVG, B.v. 12.12.2019 - 13 ME 320/19 - juris Rn. 59), führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Denn vorliegend fehlt in der Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs schon jegliche Geltendmachung einer Gesundheitsgefahr durch die betroffenen Produkte, die über die des Tabakkonsums hinausgeht, und jeder Einzelfallbezug zu dem streitgegenständlichen Produkt. Insofern handelt es sich hier gerade nicht um die Konstellation einer der Sofortvollzugsanordnung zugrunde gelegten, aber in der Sache strittigen Gesundheitsgefährdung.
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Der Senat ist schließlich nicht befugt, die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung auszuwechseln oder abzuändern. Dabei kann hier dahingestellt bleiben, ob und gegebenenfalls bis zu welchem Zeitpunkt eine Begründung von der Behörde ergänzt oder ersetzt werden kann (grundlegend dazu etwa Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Juli 2021, § 80 VwGO Rn. 249 ff.; Hoppe in Eyermann, VwGO, a.a.O., § 80 Rn. 56). Das Vorbringen der Antragsgegnerin im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vor dem Verwaltungsgericht führt nicht dazu, dass die Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO erfüllt sind. Es erschöpft sich im Wesentlichen in den Erwägungen des Bescheides und enthält keine weitergehende Begründung, aus der ersichtlich wird, dass sich die Behörde des Ausnahmecharakters der Vollzugsanordnung bewusst gewesen ist.
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Dies hindert die Antragsgegnerin jedoch nicht, die sofortige Vollziehung unter den Voraussetzungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO und mit zureichender Begründung erneut anzuordnen (vgl. BVerwG, B.v. 18.9.2001 - 1 DB 26.01 - juris Rn. 9 m.w.N.).
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Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass mit dem Vorstehenden keine Aussage zu den zwischen den Beteiligten strittigen materiell-rechtlichen Fragen getroffen wird.
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2. Hinsichtlich der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit betreffend Ziffer 2 des Bescheides (Rücknahmeanordnung gemäß § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5, Fassung des Bescheides vom 20. Mai 2022) war die aufschiebende Wirkung der Klage im Rahmen einer originären Ermessensentscheidung des Senats wiederherzustellen (§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO), weil das Verwaltungsgericht den Antrag zu Unrecht abgelehnt hat. Es bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der getroffenen Rücknahmeanordnung, die die Beschwerde rügt. Die Beschwerdebegründung hat diesen Mangel auch in einer den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dargelegt, so dass auch insoweit der Prüfungsrahmen des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO eröffnet ist. Nach § 29 Abs. 2 Satz 1 TabakerzG treffen die Marktüberwachungsbehörden die erforderlichen Maßnahmen, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass ein Erzeugnis nicht die Anforderungen dieses Gesetzes, der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen und der unmittelbar geltenden Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft oder der Europäischen Union im Anwendungsbereich dieses Gesetzes erfüllt. Dabei eröffnet die Norm für die Frage des Ob des Eingreifens der Marktüberwachungsbehörde kein Entschließungsermessen. Sie ist also unter den Voraussetzungen des § 29 Abs. 2 Satz 1 TabakerzG zum Tätigwerden verpflichtet. Hinsichtlich der Wahl der im konkreten Einzelfall zu treffenden Maßnahme ist der Marktüberwachungsbehörde ein Auswahlermessen eingeräumt (BayVGH, U.v. 10.10.2019 - 20 BV 18.2234 - juris Rn. 31). Anhaltspunkte, welche die Behörde vorliegend bewogen haben, eine Rücknahmeanordnung zu erlassen, ergeben sich weder aus der Begründung des Bescheides in der Fassung vom 10. Mai 2022 noch aus der vom 20. Mai 2022. Allein der Textpassage im Aktenvermerk vom 20. Mai 2022, nach Rücksprache mit der Lebensmittelüberwachung werde eine Rücknahmeanordnung für ausreichend erachtet, lässt sich aber der rechtliche Maßstab für die getroffene Entscheidung nicht entnehmen. Die Beschwerde weist zu Recht auf den Umstand hin, dass die Antragsgegnerin bei Erlass der streitgegenständlichen Rücknahmeanordnung das Entscheidungsprogramm des § 29 Abs. 4 TabakerzG nicht beachtet und insbesondere nicht geprüft habe, ob eine Verpflichtung zum Erlass einer Rücknahmeanordnung wegen des Bestehens eines „ernsten Risikos“ im Sinn des Art. 3 Nr. 20 VO 2019/1020 vorgelegen habe, die der VO 765/2008 ab dem 16. Juli 2021 nachgefolgt ist (Art. 44 Satz 2 VO 2019/1020). Nach Art. 3 Nr. 20 VO 2019/1020 ist ein Produkt, mit dem ein ernstes Risiko verbunden ist, ein Produkt, das ein Risiko birgt und bei dem das Verhältnis zwischen der Eintrittswahrscheinlichkeit einer Gefahr, die einen Schaden verursacht, und der Schwere des Schadens auf der Grundlage einer Risikobewertung und unter Berücksichtigung der normalen und vorhersehbaren Verwendung des Produkts ein rasches Eingreifen der Marktüberwachungsbehörden erforderlich macht, auch wenn das Risiko keine unmittelbaren Auswirkungen hat (vgl. auch Leitfaden für die Umsetzung der Produktvorschriften der EU 2016 [„Blue Guide“ - 2016/C 272/01 - ], S. 106). Die der Rücknahmeanordnung zugrundeliegenden Erwägungen lassen sich den Bescheidgründen nicht entnehmen und führen voraussichtlich allein aus diesem Grund zur Rechtswidrigkeit der Anordnung in Ziffer 2 des Bescheides.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte war der Streitwert der Hauptsache nach § 52 Abs. 1 GKG, den die Antragstellerin nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts mit 400.000 EUR angegeben hat, für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren. Die Festsetzung des Streitwerts im Hauptsacheverfahren bleibt hiervon unberührt.
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Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.