Inhalt

VGH München, Beschluss v. 04.10.2022 – 15 ZB 22.30627
Titel:

Berufungszulassung wegen zu Unrecht erfolgter Klageabweisung als verfristet

Normenketten:
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1
AsylG § 36 Abs. 3 S. 1, § 74 Abs. 1, § 78 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 4 S. 4
VwGO § 57 Abs. 2, § 108 Abs. 2
ZPO § 222 Abs. 1
BGB § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2
VwZG § 4, § 8
Leitsätze:
1. Eine Gehörsrüge hat auch dann Erfolg, wenn der Rechtsmittelführer mit Erfolg geltend machen kann, die Vorinstanz habe zu Unrecht durch Prozessurteil anstatt durch Sachurteil entschieden. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Heilung eines Zustellungsmangels nach § 8 VwZG tritt erst dann ein, wenn der Zustellungsadressat das betreffende Schriftstück selbst „in der Hand hält“. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylbewerber aus Georgien, Anträge auf Zulassung der Berufung (erfolgreich), Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, zu Unrecht, Klageabweisung wegen Versäumung der Klagefrist, tatsächlicher Zugang als Heilungsvoraussetzung, „Einwurf-Einschreiben“, Berufungszulassung, rechtliches Gehör, Klageabweisung, Klagefrist, Zustellung, Einschreiben, Heilung, tatsächlicher Zugang
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 10.05.2022 – RN 9 K 22.30449
Fundstelle:
BeckRS 2022, 27389

Tenor

Die Berufungen werden zugelassen, weil ein in § 138 VwGO bezeichneter Mangel geltend gemacht wird und vorliegt (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG).

Gründe

I.
1
Die Kläger sind georgische Staatsangehörige. Sie wenden sich gegen drei Bescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - vom 7. März 2022 an die Kläger zu 1 bis 4, vom 8. März 2022 an den Kläger zu 5 und ebenfalls vom 8. März 2022 an die Klägerin zu 6 -, mit denen jeweils ihre Anträge auf Asylanerkennung sowie auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und subsidiären Rechtsschutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden, ferner festgestellt wurde, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und die Abschiebung nach Georgien oder einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht wurde. Die Bescheide enthielten eine Rechtsbehelfsbelehrung, wonach gegen sie innerhalb von einer Woche nach Zustellung Klage beim Verwaltungsgericht Regensburg erhoben werden könne.
2
Die drei Bescheide wurden am 15. März 2022 unter Adressierung an den Bevollmächtigten der Kläger als Einschreiben zur Post gegeben (laut Aktenvermerken „gemäß § 4 Abs. 2 VwZG“ - für die Kläger zu 1 bis 4 vgl. Bl. 305 der Bundesamts-Akte 8606968-430, für den Kläger zu 5 vgl. Bl. 169 der BundesamtsAkte 8602205-430, für die Klägerin zu 6 vgl. Bl. 171 f. der BundesamtsAkte 8607093-430). In den Bundesamtsakten sind für die drei Bescheide Einzelabfragen zur Sendungsverfolgung enthalten, wonach die Sendungen mit den Sendungsnummern RH409614761DE110 (für die Kläger zu 1 bis 4 vgl. Bl. 312 der BundesamtsAkte 8606968-430), RH409613770DE110 (für den Kläger zu 5 vgl. Bl. 174 der BundesamtsAkte 8602205-430) und RH409615617DE110 (für die Klägerin zu 6 vgl. Bl. 177 der Bundesamts-Akte 8607093-430) jeweils am 18. März 2022 zugestellt worden seien. Am 30. März 2022 ließen die Kläger über ihre Bevollmächtigten Klagen mit den Anträgen erheben, die Beklagte unter Aufhebung der o.g. drei Bescheide vom 7. und 8. März 2022 zu verpflichten, sie als Asylbewerber anzuerkennen oder ihnen die Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiären Schutz zuzuerkennen, sowie hilfsweise die Beklagte zur Feststellung zu verpflichten, dass für sie „Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG“ vorliegen.
3
Mit Schriftsätzen vom 29. April 2022 übermittelte die Beklagte dem Verwaltungsgericht Auslieferungsbelege für die Zustellungen der drei Bescheide. Auf allen drei Auslieferungsbelegen ist von den drei im Formular angebotenen Feldern „Empf“, „EmpfBev“ und „And. EmpfBer“ jeweils die zuletzt genannte Alternative angekreuzt. Jeder Auslieferungsbeleg enthält ein rechteckiges Unterschriftenfeld mit der Datumsangabe „18.03.2022“, in dem sich jeweils eine unleserliche Unterschrift befindet, vor der jeweils handschriftlich der Großbuchstabe „Q“ steht. An der unteren rechten Ecke der Unterschriftenfelder ist jeweils maschinenschriftlich der Großbuchstabe „Z“ platziert. Unterhalb des Unterschriftenfeld eines jeden Auslieferungsbelegs findet sich ein weiteres Feld mit dem Titel „Name u. Vorname in Großbuchstaben“, in dem jeweils maschinenschriftlich „MOURANKOU“ aufgeführt ist.
4
Die Kläger ließen gegenüber dem Verwaltungsgericht die Wirksamkeit der Zustellungen bestreiten. U.a. wurde vorgetragen, dass der als anderer Empfangsberechtigter in den Auslieferungsbelegen bezeichnete Herr M. weder in der Kanzlei der klägerseits bevollmächtigten Rechtanwälte tätig sei noch von den Beschäftigten dieser Kanzlei identifiziert werden könne.
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Mit Urteil vom 10. Mai 2022 wies das Verwaltungsgericht Regensburg - implizit unter Verbindung der drei gerichtlichen Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung (§ 93 Satz 1 VwGO) - die von den Klägern jeweils am 30. März 2022 erhobenen Klagen wegen Klageerhebung nach Ablauf der Klagefrist als unzulässig ab. Die Klagen seien laut den Entscheidungsgründen des Urteils nicht innerhalb der einwöchigen Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V. mit § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG erhoben worden. Die von der Beklagten vorgelegten Belege seien als Nachweis des Zugangs der Bescheide gem. § 4 Abs. 2 Satz 3 VwZG anzusehen. Basierend hierauf und in Anwendung von § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB sei von einem Beginn der Klagefrist am 19. März 2022 (0.00 Uhr) und von einem Fristablauf am Freitag, den 25. März 2022 (24.00 Uhr), auszugehen (ergänzend hierzu vgl. den im Eilverfahren gem. § 80 Abs. 5 VwGO ergangenen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 1. April 2022, Az. RN 9 S 22.30448 u.a.). Die Behörde habe - so die Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils vom 10. Mai 2022 (UA S. 4 f.) - gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 VwZG die Wahl zwischen den einzelnen darin vorgesehenen Zustellungsarten. Die hier erfolgte Zustellung gem. § 4 VwZG durch die Post mittels Übergabeeinschreiben sei nicht zu beanstanden. Eine Verpflichtung zur Zustellung gegen Empfangsbekenntnis oder mittels Zustellungsurkunde sehe das VwZG nicht vor, auch nicht bei Bevollmächtigten. Ferner seien die Zustellungen gem. § 7 VwZG korrekt an die Bevollmächtigten der Kläger gerichtet gewesen. Da auf Seiten der Beklagten ein Manipulationsinteresse nicht ersichtlich sei, bestünden unter Berücksichtigung der von der Beklagten vorgelegten Belege keine Zweifel daran, dass die Bescheide am 18. März 2022 (Freitag) korrekt zugestellt worden seien. Für die Bewirkung der Zustellung komme es nicht auf das tatsächliche persönliche „In-den-Händen-Halten“ der Bescheide an. Vielmehr sei Zustellungszeitpunkt nach § 4 Abs. 2 VwZG der Tag der Zustellung, welche auch durch Übergabe an eine andere empfangsberechtigte Person erfolgen könne. Soweit der Bevollmächtigte der Kläger vorgebracht habe, die die Auslieferungsbelege unterzeichnende Person sei seiner Anwaltskanzlei nicht bekannt, sei dies als Schutzbehauptung einzustufen, weil nicht plausibel erläutert worden sei, wie er trotz vermeintlicher Übergabe der streitgegenständlichen Bescheide an eine nicht empfangsberechtigte, der Kanzlei unbekannte Person gleichwohl nach seiner Schilderung am 23. März 2022 tatsächliche Kenntnis von den Bescheiden erhalten habe.
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Mit ihren ausdrücklich auf „ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO“ gestützten Anträgen auf Zulassung der Berufung, denen die Beklagte entgegentritt, verfolgen die Kläger ihr Rechtsschutzbegehren weiter. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten und die Behördenakten Bezug genommen.
II.
7
Die Anträge auf Zulassung der Berufung haben Erfolg.
8
1. Die Zulassung der Berufung erfolgt allerdings nicht aufgrund der von den Klägern ausdrücklich geltend gemachten ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO stellt im Asylrecht nach Maßgabe der Spezialregelung in § 78 Abs. 3 AsylG keinen Berufungszulassungsgrund dar (BayVGH, B.v. 16.3.2022 - 15 ZB 22.30278 - juris Rn. 22; OVG Saarl., B.v. 9.3.2022 - 2 A 50/22 - juris Rn. 8).
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2. Die Anträge auf Zulassung der Berufung haben aber deshalb Erfolg, weil die Kläger mit ihren gem. § 78 Abs. 4 Sätze 1 und 4 AsylG rechtzeitig eingereichten und begründeten Zulassungsanträgen in der Sache eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) und damit - auch wenn die diesbezüglichen Rechtsgrundlagen nicht als Berufungszulassungsgrund ausdrücklich genannt bzw. herausgestellt werden - einen tatsächlich auch vorliegenden Verfahrensmangel im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO insoweit rügen, als das Verwaltungsgericht fehlerhaft von einer Zustellung des Urteils schon am 18. März 2022 ausgegangen ist und deswegen die Klagen zu Unrecht wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig abgewiesen hat.
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a) Für die Erfüllung der Darlegungsanforderungen gem. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG ist es - wie bei den Parallelvorgaben gem. § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO - auch mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG und das hieraus abzuleitende verfassungsrechtliche Verbot, den Rechtsweg nicht in unzumutbarer Weise zu erschweren, unerheblich, ob in der Begründung der Anträge überhaupt eine rechtliche Zuordnung des dargelegten Zulassungsgrundes zu einem der Tatbestände des § 78 Abs. 3 AsylG erfolgt oder ob eine erfolgte Zuordnung zu einem anderen, nicht einschlägigen Berufungszulassungsgrund misslungen ist. Das Gesetz fordert gem. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG - wie bei § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO - nur die Darlegung der Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist und nicht die (korrekte) Subsumtion des Dargelegten unter die einzelnen Tatbestände des § 78 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 3 AsylG. Bezieht sich ein Antragsteller im Berufungszulassungsverfahren mithin nicht ausdrücklich auf einen besonders benannten Zulassungsgrund, lässt sich sein Vortrag aber auch ohne Nennung oder trotz Falschbenennung eines Zulassungsgrunds einem tatsächlich einschlägigen Zulassungsgründen zuordnen und liegen die Voraussetzungen dieses Zulassungsgrunds unter hinreichender Darlegung der diesbezüglichen Umstände vor, ist die Berufung aus diesem - tatsächlich einschlägigen - Berufungszulassungsgrund zuzulassen (BVerfG, B.v. 30.6.2005 - 1 BvR 2615/04 - NVwZ 2005, 1176 = juris Rn. 24; B.v. 16.4.2020 - 1 BvR 2705/16 - NVwZ-RR 2020, 905 = juris Rn. 18; BVerwG, B.v. 4.10.2006 - 6 B 64/06 - BayVBl 2007, 505 = juris Rn. 9; VGH BW, B.v. 25.2.1997 - 5 S 352/97 - NVwZ 1998, 865 = juris Rn. 2 f.; OVG NW, B.v. 31.7.1998 - 10 A 1329/98 - NVwZ 1999, 202 = juris Rn. 61; Lotz BayVBl. 1997, 257 (260); Seibert NVwZ 1999, 113/115; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 57; Rudisile in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Februar 2022, zu § 124a VwGO Rn. 92).
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b) Hiervon ist vorliegend auszugehen. Die Kläger bringen mit ihren im Schriftsatz vom 8. Juni 2022 zusammengefassten Anträgen auf Zulassung der Berufung vor, gegen die Richtigkeit der Annahme des Verwaltungsgerichts einer am 18. März 2022 bewirkten Zustellung der streitgegenständlichen Bescheide sprächen die Regelungen des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG). Hiernach könnten Zustellungen nur an den allgemein oder für bestimmte Angelegenheiten bestellten Vertreter gerichtet werden; bei Vorlage einer schriftlichen Vollmacht sei die Beklagte sogar zur Zustellung an den Vertreter verpflichtet. Eine etwaige Zustellung am 18. März 2022 sei laut Auslieferungsbeleg an Herrn M. erfolgt. Dieser sei jedoch in den betroffenen Verwaltungsstreitsachen nicht der bestellte Bevollmächtigte. Die Vollmacht sei ausdrücklich den Rechtsanwälten der beauftragten Rechtsanwaltskanzlei erteilt worden. Herr M. sei kein Mitarbeiter der Kanzlei; dieser sei den Mitarbeitern der Kanzlei auch nicht bekannt. Aufgrund der Tatsache, dass sich der Büroraum der zuständigen Kanzlei in einem großen Gebäude befinde, wo mehrere Räume von verschiedenen Firmen angemietet seien, sei davon auszugehen, dass die Zustellungsurkunde in die Hände einer der Kanzlei unbekannten Person gelandet sei. Jedenfalls habe die Beklagte durch die „Zustellung“ der Ablehnungsbescheide an Herrn M. die Vorschriften des VwZG nicht beachtet. Gemäß § 8 VwZG gelte ein unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangenes Dokument als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen sei. Dieser tatsächliche Zugang sei erst am 23. März 2022 erfolgt. Dem auf die „Übergabe“ abstellenden Wortlaut des § 4 VwZG sei der Wille des Gesetzgebers zu entnehmen, dass es dabei ausschließlich um eine Übergabe an einen Zustellungsbevollmächtigten - und nicht an jede beliebige Person - handeln müsse. Dafür spreche sowohl der Sinn und Zweck als auch die „äußere Systematik“ der Vorschrift. Die Übergabe des Schreibens durch die Post an einen nicht Bevollmächtigten sei keine ordnungsgemäße Zustellung. Soweit das Verwaltungsgericht nach Bewertung der vorgelegten Nachweise hinsichtlich des von ihm angenommenen Zustellzeitpunkts auf § 4 Abs. 2 VwZG abstelle, gelte dies nur im Fall der Übergabe an eine tatsächlich empfangsberechtigte Person. Da diese Voraussetzung nicht gegeben gewesen sei, hätte auf § 8 VwZVG abgestellt werden müssen. Entgegen der Wertung des Verwaltungsgerichts sei der Vortrag einer Übergabe an eine der beauftragten Rechtsanwaltskanzlei unbekannte Person nicht als Schutzbehauptung einzustufen. Die Ablehnungsbescheide seien bei der Räumung des Kanzleibriefkastens entdeckt worden. Es werde davon ausgegangen, dass die der Kanzlei unbekannte Person diese Bescheide in den Briefkasten der Kanzlei eingeworfen habe. Selbst wenn es für den ganzen Ablauf eine andere Erklärung gäbe, müsse die Behörde hierfür wegen § 4 Abs. 2 Satz 3 VwZG die Beweislast tragen. Nach alledem seien die Klagen am 30. März 2022 noch fristgemäß erhoben worden.
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c) Mit diesem Vortrag legen die Kläger hinreichend die Voraussetzungen für einen wegen der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör einschlägigen Verfahrensmangel im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. mit § 138 Nr. 3 VwGO dar. Die diesbezüglichen Voraussetzungen des Berufungszulassungsgrunds sind zu bejahen, weil die geltend gemachte Gehörsverletzung durch das Erstgericht auch tatsächlich vorliegt.
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Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden. Es gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gibt einem Prozessbeteiligten das Recht, alles aus seiner Sicht Wesentliche vortragen zu können. Eine Verletzung des Grundsatzes liegt vor, wenn das Gericht einen entscheidungserheblichen Vortrag der Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen bzw. bei seiner Entscheidung nicht erwogen hat oder einen entsprechenden Vortrag dadurch vereitelt hat, dass es unter Verstoß gegen das Prozessrecht den Beteiligten die Möglichkeit zu weiterem Vortrag abgeschnitten hat, und dieser übergangene bzw. vereitelte Vortrag nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblich war (zusammenfassend BayVGH, B.v. 16.3.2022 - 15 ZB 22.30278 - juris Rn. 11 m.w.N.).
14
Eine Gehörsrüge hat auch dann Erfolg, wenn der Rechtsmittelführer - wie hier die Kläger - mit Erfolg geltend machen kann, die Vorinstanz habe zu Unrecht durch Prozessurteil anstatt durch Sachurteil entschieden. Denn in diesem Fall können die klägerseits vorgebrachten Argumente zu Sache nicht vom Erstgericht als erheblich und erwägenswert angesehen worden sein und können mithin von vornherein für die gerichtliche Entscheidungsfindung keine Berücksichtigung gefunden haben (vgl. BVerwG, B.v. 7.3.2017 - 6 B 53.16 - NVwZ-RR 2017, 468 = juris Rn. 14 m.w.N.; OVG NW, B.v. 25.7.2019 - 4 A 349/18.A - NJW 2019, 3738 = juris Rn. 2 ff.; SächsOVG, B.v. 20.1.2021 - 6 A 34/21.A - juris Rn. 3 ff.). Hiervon ist vorliegend auszugehen. Denn das Verwaltungsgericht hat nach dem Ergebnis der Sachverhaltsaufklärung des Senats im Zulassungsverfahren die Klagen der Kläger zu Unrecht wegen Ablaufs der Klagefrist als unzulässig abgewiesen.
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aa) Im vorliegenden Fall von Klagen gegen Bescheide, die die Asylanträge als offensichtlich unbegründet eingestuft haben (§ 30 AsylG), beträgt bei - wie hier - ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung(§ 58 VwGO) die Klagefrist gem. § 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V. mit § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG eine Woche nach Bekanntgabe der Bescheide (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 9.12.2021 - 2 B 6/20 - AuAS 2022, 5 = juris Rn. 16). Hierauf hat auch das Erstgericht - insofern richtig - abgestellt.
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bb) Das Verwaltungsgericht hat im erstinstanzlichen Verfahren für die Beurteilung der Einhaltung der Klagefrist einen unzutreffenden, nicht hinreichend ermittelten Sachverhalt zugrunde gelegt. Der Senat sah sich für die Beurteilung der Frage, ob eine Verletzung des Anspruchs der Kläger auf rechtliches Gehör wegen fehlerhafter Abweisung der Klagen als unzulässig vorliegt (tatsächliche Versäumung der Klagefrist?), veranlasst, den hierfür relevanten Sachverhalt im Berufungszulassungsverfahren im Wege des Freibeweises weiter aufzuklären (vgl. BVerwG, B.v. 8.12.1986 - 9 B 144.86 - Leitsatz; VGH BW, B.v. 26.5.2017 - 1 S 204/16 - ZMR 2017, 856 = juris Rn. 14; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 218) und hat hierzu die Parteien mit gerichtlichem Schreiben vom 27. Juni 2022 um Vorlage weiterer Informationen gebeten. Die Beteiligten haben hierauf dem Senat folgende Stellungnahmen / Unterlagen vorgelegt:
17
- Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 6. Juli 2022 unter Bezugnahme auf eine vom Bundesamt bei der Post eingeholten Information sowie auf entsprechende Kundeninformationen im Internet mitgeteilt, dass aufgrund der Corona-Pandemie Pakete und Einschreiben im Zeitraum März 2020 bis 4. April 2022 von der Post wegen der Ansteckungsgefahr nicht persönlich gegen Unterschrift zugestellt bzw. übergeben worden seien. Einschreiben seien in diesem Zeitraum in den jeweiligen Briefkästen hinterlegt worden. Der jeweilige Zusteller habe mit seiner Unterschrift die Hinterlegung bzw. den Einwurf in den Briefkasten des jeweiligen Adressaten bezeugt. So sei es auch bei der Zustellung der drei hier streitgegenständlichen Bescheide des Bundesamts gewesen. Bei Herrn M. handele es sich somit um den Zusteller, was durch das „Z“ wie „Zusteller“ im Unterschriftenfeld der Auslieferungsbelege verifiziert werde. Das „Q“ vor der Unterschrift stehe für „Quarantäne“. Diese Praxis bei der D P sei im betreffenden Zeitraum vorgeschrieben gewesen und sei auch von anderen Zustellunternehmen in ähnlicher Weise gehandhabt worden. Es verwundere, dass diese Handhabung der Anwaltskanzlei nicht bekannt gewesen sei, zumal diese vermutlich viele Einschreiben in dem entsprechenden Zeitraum auf die geschilderte Art und Weise erhalten habe und diese Praxis offensichtlich genehmigt bzw. dieser nicht widersprochen habe. Dass die Anwaltskanzlei der Bevollmächtigten der Kläger offenbar nur einmal in der Woche ihren Briefkasten leere und damit Gefahr laufe, mögliche Fristen, Termine etc. zu versäumen, liege in deren Verantwortungsbereich. Die streitgegenständlichen Bescheide seien am Freitag, den 18. März 2022, im Briefkasten des Bevollmächtigten hinterlegt und nach Aussage des Bevollmächtigten erst am Mittwoch, den 23.03.2022, aus dem Briefkasten entnommen worden. Eingangsstempel fehlten. Dies erscheine ihr - der Beklagten - suspekt. Zudem sei das Fristversäumnis selbst verschuldet. Es gehöre zur Sorgfaltspflicht einer verantwortlich arbeitenden Anwaltskanzlei, den „hauseigenen“ Briefkasten an Werktagen regelmäßig zu leeren. Freitag, der 18. März 2022, sei ein normaler Werktag gewesen.
18
- Die Kläger ließen über ihre Bevollmächtigten eine von der Rechtsanwaltsfachangestellten N. B. unterschriebene Erklärung vom 12. Juli 2022 vorlegen, worin diese bestätigt, dass die streitgegenständlichen Bescheide des Bundesamtes im Kanzleibriefkasten am 23. März 2022 zwischen 11:00 und 12:00 Uhr erstmals aufgefunden worden seien. Der Kanzleibriefkasten sei - so die Bestätigung der Kanzleimitarbeiterin weiter - im Zeitraum vom 18. bis 23. März 2022 aufgrund ihrer Krankheit und der Krankheit ihrer Kollegin erst am 23. Februar 2022 von ihr geleert worden. Die Leerung des Kanzleibriefkastens erfolge ansonsten grundsätzlich von Montag bis Freitag zwischen 11:00 und 12:00 Uhr. Am Wochenende sei die Kanzlei geschlossen.
19
- Ergänzend ließen die Kläger mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 12. Juli 2022 vortragen, die Entleerung des Briefkastens der beauftragten Anwaltskanzlei sowie die interne Verteilung der Post erfolge durch zwei (namentlich benannte) Rechtsanwaltsfachangestellte, u.a. Frau B.. Diese nähmen Übergabeeinschreiben entgegen und leerten den Briefkasten üblicherweise montags bis freitags zwischen 11:00 und 12:00 Uhr. Die in den Briefkasten im Zeitraum von 18. bis 23. März 2022 eingelegte Post habe Frau B. am 23. März 2022 (Mittwoch) dem Briefkasten entnommen. Sie habe auch die Eintragungen im Posteingangs- und Ausgangsbuch vorgenommen. In dem Zeitraum 18. März 2022 (Freitag) bis 22. März 2022 (Dienstag) sei der Briefkasten der Rechtsanwaltskanzlei krankheitsbedingt ausnahmsweise nicht geleert worden. Am 18. März 2022 sei aber eine Zustellung durch Übergabeeinschreiben in den Kanzleiräumen grundsätzlich von 9:00 bis 16:00 Uhr grundsätzlich möglich gewesen. Auf den eingegangenen Bescheiden seien keine Eingangsstempel der Kanzlei mit Datumsangabe angebracht worden, weil diese gemäß der Geschäftspraxis ausschließlich auf Begleitschreiben angebracht würden. Die Briefumschläge zu den drei Schreiben des Bundesamts seien nicht aufbewahrt worden, weil es sich bei diesen um keine gelben Umschläge mit Datum, sondern um einfache Briefumschläge ohne Datum gehandelt habe; solche Briefumschläge hätten keine Beweiskraft, sodass deren Aufbewahren nicht dienlich sei. Die Bescheide seien den Prozessbevollmächtigten der Kläger nicht i.S. des § 4 VwZG durch die Post mittels Einschreiben am 18. März 2022 zugestellt worden. Als Datum der Bekanntgabe der Bescheide sei vielmehr auf den 23. März 2022 abzustellen, sodass die Klagen fristgemäß erhoben worden seien.
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Die kanzleiinterne Entnahme der drei Postsendungen mit den streitgegenständlichen Bescheiden am 23. März 2022 ist zudem unter den lfd. Nummern 50 - 52 auf dem in Kopie vorgelegten Auszug des Posteingangs- und Ausgangsbuchs der befassten Anwaltskanzlei vermerkt (vgl. die letzten Seiten in den VG-Akten RN 9 K 22.30452 und RN 9 K 22.30454). Nach dem Ergebnis der Amtsermittlung des Verwaltungsgerichtshofs im Berufungszulassungsverfahren ist - entgegen den Ausführungen des Erstgerichts in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils vom 10. Mai 2022 (UA S. 5) - damit nicht davon auszugehen, dass am 18. März 2022 einer für die bevollmächtigten Anwälte der Kläger nach der Verkehrsauffassung empfangsberechtigten Person namens „Mourankou“ die postalisch versandten Bescheide als Übergabe-Einachreiben übergeben wurden und hierüber zu diesem Zeitpunkt die Zustellung bewirkt wurde. Vielmehr steht nach Auswertung der voranstehenden Stellungnahmen, Erklärungen und Unterlagen, die im Berufungszulassungsverfahren auf gerichtliche Nachfrage vorgelegt worden sind, zur Überzeugung des Senats fest, dass ein Postzusteller namens Mouranku am Freitag, den 18. März 2022, drei Briefumschläge mit den drei Bescheiden nicht durch Übergabe den Bevollmächtigten der Kläger zustellte, sondern schlicht - ohne Übergabeversuch von Hand zu Hand an die Bevollmächtigten der Kläger - an diesem Tag diese Post in den Briefkasten einlegte und die Auslieferungsbelege unter unkorrekter Ankreuzung „And. EmpfBer“ (anderer Empfangsberechtigter) unterzeichnete.
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cc) Auf Basis des voranstehenden Sachverhalts begannen entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts die Fristen für die Erhebung der Klagen gegen die drei streitgegenständlichen Bescheide nicht am 18. März 2022 (Freitag) zu laufen, weil es an diesem Tag nicht zu einer ordnungsgemäßen Zustellung auf Basis des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) kam.
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Die streitgegenständlichen Bescheide unterlagen gemäß § 31 Abs. 1 Satz 3 AsylG einer Zustellpflicht, sodass wegen § 1 Abs. 2 VwZG das VwZG Anwendung findet (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 9.12.2021 - 2 B 6/20 - AuAS 2022, 5 = juris Rn. 21). Bei der von der Beklagten gewählten Zustellungsform über ein Einschreiben durch die Post sind die diesbezüglichen formalen Anforderungen in § 4 VwZG normiert, wobei im Einklang mit § 7 VwZG die Zustellung an die Bevollmächtigten der Kläger bewirkt werden sollte. Bei der Variante eines Einschreibens mit Rückschein bestätigt der Empfänger den Erhalt des Einschreibens mit seiner Unterschrift auf einem gesonderten Beleg - dem Rückschein - der dann postwendend im Original an den Absender zurückgesandt wird (Schlatmann in Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 12. Aufl. 2021, § 4 VwZG Rn. 13). Bei der Alternative eines Einschreibens mit Übergabe wird die eingelieferte Sendung zunächst in der Postfiliale registriert und der Einlieferer erhält einen Einlieferungsnachweis, der den Tag der Einlieferung angibt. Danach erfolgt die Zustellung des Einschreibens durch persönliche Übergabe an den Empfänger, seinen Ehegatten beziehungsweise Bevollmächtigten oder eine andere nach der Verkehrsauffassung empfangsberechtigten Person (hierzu vgl. Ronellenfitsch in Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, Stand Oktober 2019, § 4 VwZG Rn. 5 ff.; Schlatmann a.a.O. § 4 VwZG Rn. 13); nur gegen Unterschrift einer dieser Personen auf dem Auslieferungsbeleg wird die Sendung ausgeliefert (Schlatmann a.a.O. § 4 VwZG Rn. 2).
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Die hier tatsächlich vorgenommene Art und Weise der schlichten Einlegung der Post in den Briefkasten (sog. „Einwurf-Einschreiben“) unter bestätigender Unterschrift durch den Zusteller entspricht keiner der in § 4 VwZG vorgesehenen Alternativen der Zustellung in Form eines Einschreibens „durch Übergabe“ oder „mit Rückschein“ (vgl. BT-Drs. 15/5216 S. 12; BVerwG, U.v. 19.9.2000 - 9 C 7.00 - BVerwGE 112, 78 = juris Rn. 8; SächsOVG, B.v. 14.9.2010 - 5 A 595/08 - juris Rn. 8; VG Hamburg, U.v. 13.8.2021 - 1 A 5113/20 - juris Rn. 31; Dübbers, NJW 1997, 2503/2504; Schlatmann a.a.O. § 4 VwZG Rn. 2; Smollich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 4 VwZG Rn. 3). Damit ist hierdurch am 18. März 2022 keine bzw. jedenfalls keine ordnungsgemäße Zustellung gem. § 4 VwZG erfolgt, sodass hierdurch der Beginn der Klagefrist (§ 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V. mit § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) auf Basis von § 4 VwZG nicht ausgelöst werden konnte.
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dd) Die Zulassung der Berufung scheitert auch nicht daran, dass sich die Annahme des Erstgerichts, die Klagefrist sei nicht eingehalten worden bzw. die erhobenen Klagen seien unzulässig, aus einem anderen Grund im Ergebnis als richtig erweist.
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Weil die tatsächlich durchgeführte Art und Weise der Übermittlung gerade nicht den Anforderungen des § 4 VwZG entsprach, greift § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG nicht ein, sodass die in den Kanzleibriefkasten eingeworfenen Dokumente nicht am dritten Tag nach Aufgabe zur Post - also am 18. März 2021 - als zugestellt gelten (BVerwG, U.v. 19.9.2000 a.a.O.; VGH BW, B.v. 1.8.2016 - 3 S 1082/16 - BauR 2016, 1888 = juris Rn. 38; VG Hamburg, U.v. 13.8.2021 - 1 A 5113/20 - juris Rn. 31).
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Vorliegend kann der Beginn des Laufs der Wochenfrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V. mit § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG auch nicht über die Heilungsvorschrift des § 8 VwZG auf einen Zeitpunkt datiert werden, wonach diese Frist am Tag der Erhebung der Klagen (30. März 2022) als abgelaufen anzusehen wäre. Gemäß § 8 VwZG gilt ein Dokument für den Fall, dass sich dessen formgerechte Zustellung nicht nachweisen lässt oder es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Erst der Zeitpunkt des in diesem Sinne „tatsächlichen Zugangs“ heilt einen Zustellungsmangel, fingiert eine wirksame Zustellung und löst damit den Lauf der Klagefrist aus (BayVGH, U.v. 4.6.2013 - 12 B 13.183 - NVwZ-RR 2013, 789 - juris Rn. 13; juris Rn. 17).
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Zum Teil wird der Sinn des § 8 VwZG darin gesehen, dass alle Verstöße gegen vorgeschriebene Zustellungen generell dann ohne Rechtsfolgen bleiben sollen, wenn auch ohne ihre Einhaltung der Zweck der Zustellung erreicht worden ist, nämlich der tatsächliche Zugang des zuzustellenden Schriftstücks an den Zustellungsadressaten (SächsOVG, B.v. 14.9.2010 - 5 A 595/08 - juris Rn. 9; so i.E. auch VG Magdeburg, B.v. 20.11.2018 - 6 B 339/18 - juris Rn. 5). Insofern stünde vorliegend der grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 8 VwZG nichts im Wege. Demgegenüber betonen andere, dass Heilungsvorschriften wie § 8 VwZG, Art. 9 VwZVG oder § 189 ZPO nur auf die Heilung von Fehlern bei der Zustellung, nicht aber auf eine fehlende Zustellung schlechthin zugeschnitten und deshalb dann nicht anwendbar seien, wenn es von vornherein am Zustellungswillen der bekanntgebenden Behörde (oder im Fall des § 189 ZPO eines bekanntgebenden Gerichts) fehlt, wenn es also von der bekanntgebenden Stelle von Anfang an als ausreichend angesehen wurde, das betreffende Schriftstück nicht in einer gesetzlich vorgesehenen Weise zuzustellen, sondern formlos zu übermitteln (zu § 8 VwZG: Smollich, in: Mann/Sennekamo/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2019, § 8 VwZG Rn. 2; zu § 9 VwZG a.F.: BVerwG, U.v. 19.6.1963 - V C 198.62 - BVerwGE 16, 165 = juris Rn. 15; zu § 189 VwGO: Czybulka/Kluckert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 65 Rn. 82; Schenk in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Februar 2022, § 56 VwGO Rn. 73; zu Art. 9 VwZVG: Harrer/Kugele/Kugele/Thum/Tegethoff, Verwaltungsrecht in Bayern, Bd. I, Stand September 2022, Art. 9 VwZVG, Rn. 2, 7). Das wird - wie auch die Kläger vorliegend geltend machen - insbesondere für die von der Behörde gewählte Bekanntgabeform eines sog. „Einwurf-Einschreibens“ vertreten, die in § 4 VwZG gerade nicht als Zustellform vorgesehen ist (vgl. VG Hamburg, U.v. 13.8.2021 - 1 A 5113/20 - juris Rn. 32; VG Göttingen, B.v. 24.9.2018 - 1 B 251/18 - juris Rn. 4; VG Bremen, B.v. 11.2.2010, 2 K 1351/09, juris Rn. 22). Folgt man Letzterem, erscheint es denkbar, dass § 8 VwZG von vornherein keine Anwendung findet, falls es der Beklagten bei der Beauftragung der Post bekannt gewesen sein sollte, dass diese die Übermittlung nicht in den in § 4 VwZG vorgesehenen Formen umsetzen wird, und sie sich hierauf bewusst eingelassen hat. Es ist aber nach Aktenlage nicht zweifelsfrei ersichtlich, dass der Beklagten bei Beauftragung der Post bekannt war, dass die Übermittlung nicht in den gesetzlichen Formen des § 4 VwZG, sondern in Form eines nicht als Zustellungsform anerkannten „Einwurf-Einschreibens“ umgesetzt wird. Entsprechendes kann nicht unterstellt werden, weil nach den Aktenvermerken in den Bundesamtsakten die Bescheide als Einschreiben „gemäß § 4 Abs. 2 VwZG“ zugestellt werden sollten (s.o. I.). Hinweise darauf, dass die Beklagte von der Post ausgeklärt wurde, dass im betreffenden Zeitraum keine Zustellungen in den Formen des § 4 VwZG umgesetzt werden oder dass ein Amtsträger des Bundesamts in zurechenbarer Weise auch für den vorliegenden Fall (etwa über die Lektüre entsprechender Informationen im Internet) positive Kenntnis davon hatte, dass die Beauftragung der Post mit einer Zustellung durch Einschreiben nicht zu einer Übermittlung in den gesetzlichen Formen des § 4 VwZG führen werde, sind den vorgelegten Unterlagen nicht zu entnehmen.
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Von einer diesbezüglichen Streitentscheidung sowie ggf. Sachverhaltsaufklärung kann abgesehen werden, weil auch für den Fall der grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 8 VwZG eine Zustellungsfiktion als Auslöser des Beginns der einwöchigen Klagefrist allenfalls erst am 23. März 2022 eingetreten ist, sodass die einwöchige Klagefrist auch dann bei Erhebung der Klagen am 30. März 2022 gewahrt wurde.
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Bei der Anwendung des § 8 VwZG und vergleichbarer Heilungsvorschriften mit identischen Voraussetzungen - vgl. z.B. § 189 der Zivilprozessordnung (ZPO) oder Art. 9 VwZVG - ist umstritten, ob zur Bejahung des „tatsächlichen Zugangs“ des Dokuments beim Empfangsberechtigten der bloße Eintritt der Voraussetzungen des Zugangs in entsprechender Anwendung des § 130 Abs. 1 S. 1 BGB genügt - was schon dann der Fall ist, wenn das zuzustellende Dokument so in seinen Machtbereich des Adressaten gelangt ist, dass dieser unter normalen Verhältnissen bzw. dem gewöhnlichen Geschehensablauf die Möglichkeit hat, von ihrem Inhalt Kenntnis zu nehmen (so: BSG, U.v. 11.12.1973 - 2 RU 13/72 - juris Rn. 20; VG Berlin, B.v. 12.3.2014 - 7 L 300.13 - juris Rn. 32), oder ob der Zustellungsadressaten das zuzustellende Schriftstück als Voraussetzung des Heilungstatbestands „in die Hand bekommen“ muss (zum Streitstand, i.E. offenlassend: BayVGH, B.v. 29.7.2021 - 11 CS 21.1465 - juris Rn. 13; B.v. 9.3.2017 - 22 ZB 17.245 - juris Rn. 12, 16, Czybulka/Kluckert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 65 Rn. 82; Ronellenfitsch in Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, Stand Oktober 2019, § 8 VwZG Rn. 10). Die überwiegende Ansicht, der der Senat folgt, vertritt mit überzeugenden Erwägungen die zuletzt genannte engere Ansicht und fordert für eine Heilung, dass der Zustellungsadressat - hier: einer der bevollmächtigten Anwälte der Kläger (§ 7 VwZG) - das betreffende Schriftstück selbst „in der Hand hält“ (vgl. NdsOVG, B.v. 28.5.2018 - 12 ME 25/18 - ZUR 2018, 480 = juris Rn. 68 ff.; VGH BW, B.v. 26.3.2020 - 1 S 424/20 - VBlBW 2020, 376 = juris Rn. 29; VG München, B.v. 13.6.2018 - M 23 E 18.1325 - juris Rn. 36; VG Köln, B.v. 23.11.2020 - 15 L 2167/20.A - juris Rn. 11; BFH / Großer Senat, B.v. 6.5.2014 - GrS 2/13 - NJW 2014, 2524 = juris Rn. 65 ff.; BFH, B.v. 15.5.2020 - IX B 119/19 - juris Rn. 4; BGH, U.v. 21.3.2001 - VIII ZR 244/00 - MDR 2001, 360 = juris Rn. 22; U.v. 15.3.2007 - 5 StR 536/06 - BGHSt 51, 257 = juris Rn. 14; U.v. 12.9.2019 - IX ZR 262/18 - NJW-RR 2019, 1465 = juris Rn. 31; OLG Köln, B.v. 30.4.2020 - 23 WLw 5/19 - juris Rn. 13; Schlatmann in Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 12. Aufl. 2021, § 8 VwZG Rn. 4; Olthaus in Sadler/Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Aufl. 2020, § 8 VwZG Rn. 13). Ausschlaggebend hierfür ist insbesondere, dass § 8 VwZG (und vergleichbare Regelungen wie § 189 ZPO oder Art. 9 VwZVG) im systematischen Kontext zu Regelungen über strikt formgebundene Zustellungsvarianten stehen und auch angesichts der weitgehenden Heilungsfolgen das Adjektiv „tatsächlich“ in § 8 VwZG gesetzessystematisch und teleologisch als begrenzendes Tatbestandsmerkmal resp. als Gegenstück zu „fiktiv“ zu verstehen ist und deshalb gegenüber § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB eine qualifizierte Form des Zugangs fordert (vgl. BFH, B.v. 6.5.2014 a.a.O.).
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Aufgrund dieses vorzugswürdigen formalen Ansatzes ist vorliegend nicht der Einwurf der Post in den Briefkasten der Anwaltskanzlei am 18. März 2022 (Freitag) anzusehen. Auch wenn nach der Verkehrsauffassung wohl spätestens am folgenden Montag (21. März 2022) zu erwarten gewesen wäre, dass auch bei krankheitsbedingter Abwesenheit der angestellten Rechtsanwaltsfachgehilfinnen die Briefkastenentleerung von den in der Kanzlei beschäftigten Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten selbst erfolgt, ist der „tatsächliche“ Zugang i.S. von § 8 VwZG nicht auf diesen Tag (oder den folgenden Dienstag, 22. März 2022) anzusetzen. Abzustellen ist vielmehr auf den Zeitpunkt, an dem der mit der Sache befasste Rechtsanwalt der von den Klägern beauftragten Kanzlei die drei Postsendungen mit den Bescheiden tatsächlich „in seinen Händen hielt“, nachdem diese von der Rechtsanwaltsgehilfin aus dem Briefkasten genommen und diesem übergeben worden waren. Das geschah nach dem Ergebnis der Ermittlung im Zulassungsverfahren erst am Mittwoch, den 23. März 2022. Hiernach lief bei Anwendung des § 8 VwZG die Klagefrist gemäß § 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB erst am 30. März 2022 (24.00 Uhr) ab. Die ausweislich der in den Akten des Verwaltungsgerichts befindlichen Eingangsnachweise am 30. März 2022 erfolgten Klageerhebungen waren damit am Maßstab § 74 Abs. 1 Halbs. 2 i.V. mit § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG noch fristgemäß, sodass die Klagen nicht wegen Nichteinhaltung der Wochenfrist als unzulässig hätten abgewiesen werden dürfen.