Inhalt

VGH München, Beschluss v. 29.09.2022 – 10 C 22.556
Titel:

Rechtsweg bei doppelfunktionalen Maßnahmen der Polizei

Normenketten:
VwGO § 40 Abs. 1 S. 1, § 166 Abs. 1 S. 1
EGGVG § 23 Abs. 1 S. 1
GVG § 17a Abs. 2 S. 1
Leitsatz:
Bei doppelfunktionalen Maßnahmen der Polizei ist der Rechtsweg danach zu bestimmen, ob das Ziel des polizeilichen Einschreitens und dessen Schwerpunkt der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung dienen. Maßgeblich ist, wie sich der Sachverhalt einem verständigen Bürger bei natürlicher Betrachtungsweise darstellt, wobei der Sachverhalt einheitlich zu betrachten ist. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe für beabsichtigte Beschwerde, Rechtswegverweisung, ordentlicher Rechtsweg, polizeiliche Maßnahmen (präventiv / repressiv), „doppelfunktionale“ Maßnahmen der Polizei
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 18.01.2022 – Au 8 K 21.26
Fundstelle:
BeckRS 2022, 27359

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung für eine beabsichtigte Beschwerde gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 18. Januar 2022 wird abgelehnt.

Gründe

1
Die Klägerin beantragt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung einer namentlich benannten Rechtsanwältin für eine beabsichtigte Beschwerde gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 18. Januar 2022, mit dem dieses den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht Lindau (Bodensee) verwiesen hat.
2
Die beim Verwaltungsgericht erhobene Klage richtet sich darauf, verschiedene polizeiliche Maßnahmen, die zwei Polizeibeamte gegenüber der Klägerin in einem Hostel in Lindau am 13. November 2020 getroffen haben bzw. getroffen haben sollen, im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage für rechtswidrig zu erklären. Das Verwaltungsgericht hat gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das zuständige Amtsgericht verwiesen, da im vorliegenden Verfahren gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG der ordentliche Rechtsweg eröffnet sei. Nur wenn die Polizei zur Gefahrenabwehr (präventiv) tätig werde, sei der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffnet. Demgegenüber seien die ordentlichen Gerichte (Strafgerichte) für die Kontrolle von (repressiven) Strafverfolgungsmaßnahmen, welche sich als Justizverwaltungsakte darstellten, zuständig. Bei - wie hier - sog. doppelfunktionalen Maßnahmen sei der Rechtsweg danach zu bestimmen, ob der Grund oder das Ziel des polizeilichen Einschreitens und gegebenenfalls dessen Schwerpunkt der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung dienten. Hiernach erwiesen sich die fraglichen Maßnahmen bei einer lebensnahen einheitlichen Betrachtung als repressiver Natur. Schon aufgrund der erfolgten Belehrung der Klägerin als Beschuldigter hätten sie aus Sicht eines verständigen Bürgers schwerpunktmäßig der Strafverfolgung gedient. Sie hätten die Vorbereitung bzw. Durchführung einer etwaigen Strafanzeige bezüglich eines im Raum stehenden „Einmietbetrugs“ bezweckt.
3
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung einer Rechtsanwältin für eine beabsichtigte Beschwerde gegen diesen Beschluss ist abzulehnen, weil die Voraussetzungen dafür nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht vorliegen.
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Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V. mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
5
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 - 1 BvR 380/16 - juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 - 1 BvR 1695/15 - juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 - 1 BvR 826/13 - juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 - 2 BvR 748/13 - juris Rn. 12).
6
Im Falle eines isolierten Prozesskostenhilfeantrags eines anwaltlich nicht vertretenen Beteiligten ist maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussichten nicht der der Bewilligungsreife, sondern der der gerichtlichen Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch, weil Kosten für das beabsichtigte Klageverfahren bisher gar nicht angefallen sind (BayVGH, B.v. 2.11.2020 - 10 C 20.2308 - juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 9.3.2020 - 11 ZB 19.991 - juris Rn. 12.).
7
Die Überprüfung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 18. Januar 2022 ergibt, dass die beabsichtigte Beschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, weil das Verwaltungsgericht aller Voraussicht nach zu Recht den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht Lindau (Bodensee) verwiesen hat.
8
Die hier streitigen polizeilichen Maßnahmen gehören zu den sogenannten doppelfunktionalen Maßnahmen der Polizei. Darunter werden Handlungen verstanden, die sich nicht ohne weiteres als Maßnahmen der Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung einordnen lassen, weil sie nach Maßgabe entsprechender Befugnisnormen sowohl nach Polizeirecht als auch nach der Strafprozessordnung vorgenommen worden sein könnten. Bei diesen Maßnahmen ist nach der überwiegenden Rechtsprechung der Rechtsweg danach zu bestimmen, ob der Grund oder das Ziel des polizeilichen Einschreitens und gegebenenfalls dessen Schwerpunkt der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung dienten. Für die Abgrenzung der beiden Aufgabengebiete ist maßgebend, wie sich der konkrete Sachverhalt einem verständigen Bürger in der Lage des Betroffenen bei natürlicher Betrachtungsweise darstellt. Dabei muss der Sachverhalt im Allgemeinen einheitlich betrachtet werden, es sei denn, dass einzelne Teile des Geschehensablaufs objektiv abtrennbar sind. Hat die Polizei die Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft oder das Amtsgericht weitergeleitet oder auf Weisung der Staatsanwaltschaft gehandelt, so kann an der strafprozessualen Natur ihres Einschreitens kein vernünftiger Zweifel bestehen. Eine Maßnahme, die nach dem Gesamteindruck darauf gerichtet ist, eine strafbare Handlung zu erforschen oder sonst zu verfolgen, ist der Kontrolle der ordentlichen Gerichte nach §§ 23 ff. EGGVG nicht etwa deshalb entzogen, weil durch die polizeilichen Ermittlungen möglicherweise zugleich auch künftigen Verletzungen der öffentlichen Sicherheit vorgebeugt wurde (BVerwG, U.v. 3.12.1974 - I C 11.73 - BVerwGE 47, 255 = juris Rn. 24; BayVGH, B.v. 5.11.2009 - 10 C 09.2122 - juris Rn. 9 ff.; BayVerfGH, E.v. 28.2.2011 - Vf. 84-VI-10 - juris Rn. 37; NdsOVG, B.v. 8.11.2013 - 11 OB 263/13 - juris Rn. 4).
9
Nach diesen Maßstäben würde sich im Rahmen einer Beschwerde gegen den Verweisungsbeschluss die Meinung des Verwaltungsgerichts, die getroffenen bzw. behaupteten polizeilichen Maßnahmen hätten als Strafermittlungsmaßnahmen der Strafverfolgung gedient, aller Wahrscheinlichkeit nach bestätigen. Dies ergibt sich gerade auch aus der Durchsicht der vorgelegten polizeilichen Akte. Einsatzgrund der beiden beteiligten Polizeibeamten war ein im Raum stehender möglicher Einmietbetrug in dem fraglichen Hostel, dem die Polizeibeamten auf Bitten der Hostel-Managerin nachgingen; dieser Verdacht ließ sich allerdings nach und aufgrund der Durchführung der hier streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen nicht erhärten. Gleichwohl fertigten die Polizeibeamten einen umfangreichen Vorlagebericht (einschl. Einsatzberichten, Zeugenaussagen etc.) zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft an, der mit der Bemerkung schließt: „Im Moment sind die polizeilichen Ermittlungen soweit abgeschlossen und der Vorgang wird der Staatsanwaltschaft zur Prüfung für weitere Maßnahmen vorgelegt.“ (Vorlagebericht der Polizeiinspektion Lindau vom 27.11.2020, Bl. 19-22 der Behördenakte). Zusammen mit der bereits vom Verwaltungsgericht hervorgehobenen Belehrung der Klägerin als Beschuldigter wegen eines Anfangsverdachts des Einmietbetrugs ergibt sich auch für den Senat das Gesamtbild strafrechtlicher Ermittlungsmaßnahmen, zumal auch nicht erkennbar ist, welchen gefahrenabwehrenden (präventivpolizeilichen) Zwecken im Sinne des Polizeiaufgabengesetzes die hier streitgegenständlichen Maßnahmen gedient haben sollten.
10
Die Klägerin legt in ihrem umfangreichen Schriftsatz vom 28. Februar 2022 keine inhaltlichen Einwendungen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts dar.
11
Auch hat das Verwaltungsgericht weder gegen das Recht der Klägerin auf Anhörung (vgl. § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG) verstoßen, noch hat es durch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren den Verwaltungsrechtsweg „als zulässig anerkannt“.
12
Bereits mit Schreiben vom 11. Februar 2021 hatte das Verwaltungsgericht auf mögliche Zweifel an der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs hingewiesen und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme zu einer etwaigen Verweisung des Verfahrens gegeben. Die Klägerin hat mit Schreiben vom 26. Februar 2021 hierauf geantwortet. Erneut wurde der Klägerin mit gerichtlichem Schreiben vom 13. Dezember 2021 mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, den Rechtsstreit zu verweisen, da es sich nach Auffassung des Gerichts bei sämtlichen in Rede stehenden Maßnahmen um repressiv-polizeiliche Maßnahmen gehandelt habe. Dieses Schreiben hat die Klägerin bei der von ihr genannten „postlagernd“-Adresse nicht abgeholt. Ein gleichlautendes Schreiben vom 14. Januar 2022 wurde ihr dann zugestellt. Auch wenn das Verwaltungsgericht dann bereits am 18. Januar 2022 entschieden hat, wurde das Recht auf Gehör der Klägerin nicht verletzt, da ihr die Zweifel des Verwaltungsgerichts an der Zulässigkeit des beschrittenen Verwaltungsrechtswegs hinreichend bekannt waren.
13
Auch in den Gründen des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 9. März 2021, mit dem der Klägerin Prozesskostenhilfe (unter Festsetzung von Monatsraten) bewilligt wurde, wurde ausgeführt, dass eine hinreichende Erfolgsaussicht „vorläufig“ gegeben sei, da die Frage nach der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs im vorliegenden Fall eine schwierige Rechtsfrage darstelle, die nach den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben nicht im Prozesskostenhilfeverfahren vorab entschieden werden dürfe, sondern im Hauptsacheverfahren zu klären sei. Es stünden nämlich mehrere polizeiliche Maßnahmen inmitten, die nicht ohne weiteres eindeutig der Gefahrenabwehr oder aber der Strafverfolgung zugeordnet werden könnten; dies sei im Hauptsacheverfahren zu klären. Eine Feststellung, dass der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sei, liegt darin gerade nicht.
14
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, weil das Prozesskostenhilfeverfahren gerichtsgebührenfrei ist und dem Gegner entstandene Kosten gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO nicht erstattet werden.
15
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).