Inhalt

OLG München, Beschluss v. 25.08.2022 – 8 U 5204/21
Titel:

Keine Verfahrensaussetzung in einem sog. "Diesel-Verfahren"

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
ZPO § 148, § 522 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
AEUV Art. 267
RL 2007/46/EG Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 2
Leitsätze:
1. Der Schutz seines wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrags werden vom Schutzzweck der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV und den Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht erfasst. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Selbst wenn der EuGH den Anträgen des Generalanwalts folgen sollte, stünde es den Mitgliedstaaten weiterhin frei, einen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages wegen der Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts zu verneinen. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Prüfstandserkennungssoftware, Nutzungsanrechnung, wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht, Abschluss eines ungewollten Vertrags, Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages, Schlussanträge des Generalanwaltes
Vorinstanzen:
OLG München, Hinweisbeschluss vom 19.07.2022 – 8 U 5204/21
LG Passau, Urteil vom 02.07.2021 – 1 O 220/21
Fundstelle:
BeckRS 2022, 26588

Tenor

1. Der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens nach § 148 ZPO analog bis zur Entscheidung des EuGH über die Vorlagefragen in dem Vorabentscheidungsverfahren C-100/21 wird zurückgewiesen.
2. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Landgerichts Passau vom 02.07.2021, Aktenzeichen 1 O 220/21, wird zurückgewiesen.
3. Die Klagepartei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
4. Das in Ziffer 2 genannte Urteil des Landgerichts Ingolstadt ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 19.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Klagepartei macht gegen die Beklagte Ansprüche im Zusammenhang mit dem sog. Abgas-Skandal geltend.
2
Das Landgericht hat die Klage umfassend abgewiesen. Auf die dortigen Ausführungen wird Bezug genommen.
3
Weiter wird zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit vollumfänglich auf Ziffer I. des Hinweisbeschlusses des Senats vom 19.07.2022 verwiesen.
II.
4
Die Klagepartei hat erstinstanzlich in der Hauptsache beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 16.248,51 € nebst Zinsen Zugum-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Pkws zu bezahlen.
5
Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Berufung verfolgt die Klagepartei ihre erstinstanzlichen Anträge in vollem Umfang weiter.
6
Die Beklagte hat die Zurückweisung der Berufung beantragt.
7
Mit Hinweisbeschluss vom 19.07.2022 wurde die Klagepartei darauf hingewiesen, dass und weshalb der Senat beabsichtigt, ihre Berufung gemäß § 522 II ZPO als unbegründet zurückzuweisen. Es wurde ihr eine Frist zur Stellungnahme von drei Wochen ab Zustellung des Beschlusses (26.07.2022, mithin bis 16.08.2022 eingeräumt. Mit Schriftsatz vom 16.08.2022 wurde fristgemäß eine Gegenerklärung abgegeben.
III.
8
Der Antrag auf Aussetzung des Verfahrens vom 17.08.2022 ist zurückzuweisen.
9
1. Der Bundesgerichtshof geht - wie im Hinweisbeschluss des Senats ausgeführt - in ständiger Rechtsprechung (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19 Rn. 72 ff., BGHZ 225, 316; Urteil vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20 Rn. 10 ff., ZIP 2020, 1715; vgl. auch Beschluss vom 10. Februar 2022 - III ZR 87/21 Rn. 8 ff, juris) davon aus, dass die Rechtslage im Hinblick auf § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV von vornherein eindeutig („acte clair“, vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs 283/81, NJW 1983, 1257, 1258; BVerfG, NVwZ 2015, 52 Rn. 35) ist. Zuletzt hat er dies im Beschluss vom 4. Mai 2022 - VII ZR 656/21 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das den Gegenstand der Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 bildende Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Ravensburg ausgesprochen. Selbst wenn die Verordnung (EG) 715/2007 dem Schutz der Käufer eines Fahrzeugs vor Verstößen des Herstellers gegen seine Verpflichtung, neue Fahrzeuge in Übereinstimmung mit ihrem genehmigten Typ bzw. den für ihren Typ geltenden Rechtsvorschriften in den Verkehr zu bringen, diente, besage dies nichts für die Frage, ob damit auch der Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages erfasst sein solle. Es seien keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften (auch) einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckt habe und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags hätte knüpfen wollen (BGH, Beschluss vom 4. Mai 2022 - VII ZR 6 56/21 -, Rn. 3, juris).
10
2. Die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 (Celex-Nr. 62021CC0100) geben keine Veranlassung, von dieser gefestigten Rechtsprechung abzuweichen oder nunmehr eine Vorlage an den EuGH gem. § 267 AEUV bzw. eine Aussetzung entsprechend § 148 ZPO bis zu einer Entscheidung des EuGH in dieser Sache in Erwägung zu ziehen.
11
Nach Auffassung des Senats stünde es - wie im Hinweisbeschluss dargelegt - den Mitgliedstaaten weiterhin frei, einen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages wegen einer Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts zu verneinen, selbst wenn der Europäische Gerichtshof den Anträgen des Generalanwalts folgen sollte. Zudem bieten die Anträge auch in der Sache - wie ebenfalls bereits erläutert - keine ausreichenden Anhaltspunkte, um nunmehr von einer durch den EuGH klärungsbedürftigen Frage auszugehen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die diesbezüglichen Ausführungen im Hinweisbeschluss des Senats vom 19.07.2022 verwiesen.
12
Die Pressemitteilung des BGH des VIa. Senats Nr. 104/2022 vom 01.07.2022 rechtfertigt, anders als die Berufung meint, keine andere Sichtweise. Auch insoweit wird auf die Darlegungen im Hinweisbeschluss Bezug genommen und darauf, dass eben der VIa. Senat auch nach den Schlussanträgen des Generalanwalts Rantos an seiner Rechtsprechung festhält.
13
So führt der BGH in einem Urteil vom 13. Juni 2022 - VIa ZR 6 80/21 - folgendes aus:
Entgegen der vom Prozessbevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geäußerten Rechtsauffassung ist allerdings nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht dem Zahlungsantrag des Klägers nicht auf der Grundlage des § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV und den Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 entsprochen hat. Auf diese Vorschriften kann der Kläger sein Begehren nicht stützen. Der Kläger macht als verletztes Schutzgut sein wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht und damit den Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrags geltend. Diese Interessen werden vom Schutzzweck der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV und den Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht erfasst (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 72 ff.; Urteil vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 10 ff.; Beschluss vom 4. Mai 2022 - VII ZR 656/21, juris Rn. 1 ff.).
14
Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen rechtfertigt die Presseerklärung des BGH zur Aufhebung des Termins vom 30.06.2022 nach Auffassung des Senats gleichfalls keine andere Beurteilung.
15
3. Soweit die Klagepartei den Aussetzungsantrag damit begründet, dass der Generalanwalt mit seiner Stellungnahme zur 3. und 4. Vorlagefrage des Landgerichts Ravensburg in der Rechtssache C-100/21 (Rn. 54) herausgearbeitet habe, dass als deliktische Anspruchsgrundlage eines durch Abgasmanipulationen geschädigten Fahrzeugkäufers auch unmittelbar europäisches Recht in Betracht komme (Schriftsatz vom 16.08.2022, S. 5; S.7), sodass aufgrund dieser Wertung unklar sei, ob die Anspruchsgrundlage überhaupt noch Sache des nationalen Rechts sei, sodass auch insoweit eine Klärung durch den EuGH abzuwarten sei, führt dies gleichfalls zu keiner anderen Beurteilung.
16
Der Senat hat hierzu bereits im Hinweisbeschluss (dort S. 12 unten ff.) ausgeführt, dass der Generalanwalt inhaltlich vorgeschlagen habe, die erste und zweite Vorlagefrage so zu beantworten, dass Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46 dahin auszulegen sind, dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist (IV B . 50 der Schlussanträge vom 02.06.2022), sich der Schlussantrag des Generalanwalts Rantos bezüglich der Vorlagefragen 3-6 jedoch auf die Feststellung beschränke, dass ein Erwerber eines Fahrzeugs einen Ersatzanspruch gegen einen Hersteller habe, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 (EG) ausgestattet sei, es jedoch Sache der Mitgliedstaaten sei, die Regeln für die Art und Weise der Berechnung des Ersatzes des Schadens, der dem Erwerber entstanden sei, festzulegen, sofern dieser Ersatz in Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes dem erlittenen Schaden angemessen ist (IV C 65 der Schlussanträge vom 02.06.2022). Damit stünde es den Mitgliedstaaten, selbst wenn der EuGH den Anträgen des Generalanwalts folgen sollte, weiterhin frei, einen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages wegen der Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts zu verneinen. Ein solcher ist aber Gegenstand der Berufung. Es ist daher schon nicht ersichtlich, inwieweit aufgrund der Schlussanträge des Generalanwalts nunmehr unklar sei, ob die Anspruchsgrundlage eines durch Abgasmanipulationen geschädigten Fahrzeugkäufers überhaupt noch Sache des nationalen Rechts sei, oder ob dieses allein noch die Rechtsfolgenseite betreffe, wie die Klagepartei meint (Schriftsatz vom 16.08.2022, dort S. 7), und daher eine Klärung durch den EuGH abgewartet werden müsse.
17
4. Eine mögliche Änderung der Berechnung der Nutzungsanrechnung durch den EuGH (S. 4) ist wegen der nach Auffassung des Senats offensichtlich nicht in Betracht kommenden deliktischen Haftung der Beklagten nicht entscheidungserheblich, so dass die vorliegende Entscheidung daher nicht von der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-100/21 abhängt (§ 148 Abs. 1 ZPO analog).
IV.
18
Die Berufung der Klagepartei ist danach im Beschlussweg gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als unbegründet zurückzuweisen, da der Senat einstimmig davon überzeugt ist, dass sie offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats nicht erfordern und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
19
Insoweit wird vollumfänglich auf die Ausführungen im Hinweisbeschluss des Senats vom 19.07.2022 verwiesen. Die Gegenerklärung rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Klagepartei macht insoweit lediglich geltend, dass die Ausführungen des Senats in Bezug auf den Verbau eines Thermofensters im klägerischen PKW auf S. 4 und S. 5 widersprüchlich seien. Dies ist jedoch nicht der Fall.
20
Aufgrund der Feststellungen im unstreitigen Tatbestand des landgerichtlichen Urteils steht fest, dass im klägerischen Fahrzeug ein Thermofenster verbaut ist, was der Senat seiner Beurteilung zugrunde gelegt hat (Hinweisbeschluss S. 2). Die Ausführungen auf S. 5 unter c) des Beschlusses beziehen sich demgegenüber auf die fehlende Darlegung unstreitiger oder nachgewiesener Anhaltspunkte für den Verbau einer evident unzulässigen, mithin illegalen Prüfstanderkennungssoftware in Form der behaupteten Motorsteuerungssoftware zur Prüfstandoptimierung sowie eines Thermofensters, welche ohne Weiteres ein objektiv sittenwidriges Verhalten der Beklagten begründen würde, so dass lediglich die Verwendung einer verwaltungsrechtlich unzulässigen Abschalteinrichtung in Betracht komme (Hinweisbeschluss S. 8 ff.), bei welcher es für die Annahme von Sittenwidrigkeit zusätzlicher Umstände bedürfe, die die Klagepartei hier jedoch gleichfalls nicht aufgezeigt habe.
V.
21
Eine Divergenz zu anderen obergerichtlichen Entscheidungen ist nicht ersichtlich. Auch liegt keine grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfrage vor, über deren Umfang und Bedeutung Unklarheiten bestehen (BGH, Beschluss vom 22.09.2015 - II ZR 310/14, ZIP 2016, 266 Rn. 3 mwN). Vielmehr lassen sich die aufgeworfenen Fragen auf der Grundlage der bisherigen und zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des BGH zweifelsfrei beantworten.
VI.
22
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit erfolgt gemäß §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
23
Zum Streitwert für das Berufungsverfahren wurde entsprechend dem erteilten Hinweis gemäß § 47 GKG auf bis zu 19.000,00 € festgesetzt.