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VG München, Urteil v. 10.05.2022 – M 6 K 18.33184
Titel:

Asyl, Drittstaatenbescheid, Ungarn: Drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einer Familie mit drei minderjährigen Kindern in Ungarn

Normenketten:
VwGO § 92 Abs. 3
§ 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Auch unter günstigen Bedingungen wird es nicht möglich sein, in Ungarn das erforderliche Existenzminimum für sechs Personen zu erwirtschaften. Der Familie droht deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit akute Obdachlosigkeit und Verelendung. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland: Afghanistan, Drittstaatenbescheid (Ungarn), Internationaler Schutz in Ungarn gewährt, Abschiebungsverbot für Familie, Hypothetische Rückkehr aller Personen
Fundstelle:
BeckRS 2022, 26195

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. August 2018 wird in den Nummern 2 bis 4 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AsylG hinsichtlich Ungarns vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Kläger 5/6 und die Beklagte 1/6.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.   

Tatbestand

1
Die Kläger sind afghanische Staatsangehörige. Der Kläger zu 1) ist mit der Klägerin zu 2) verheiratet, bei den Klägern zu 3, 4, 5 handelt es sich um die minderjährige Kinder der Kläger zu 1) und 2).
2
Den Klägern wurde laut Mitteilungen der ungarischen Behörden am 18. April 2013 in Ungarn subsidiärer Schutz gewährt (vergleiche Blatt 65, 82, 116 der Behördenakte). In der Folge sind die Kläger über Österreich nach Deutschland eingereist und stellten hier am 23. April 2013 einen Asylantrag.
3
Die Anhörung der Kläger zur Zulässigkeit des Asylantrags beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erfolgte am 18. Juli 2018 (Blatt 91 der Behördenakte).
4
Mit Bescheid vom 6. August 2018 lehnte das Bundesamt den Antrag der Kläger als unzulässig ab (Ziff. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - nicht vorliegen. (Ziff. 2). Das Bundesamt forderte die Kläger auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen und drohte ihnen für den Fall des Nichteinhaltens dieser Frist die Abschiebung nach Ungarn oder einen anderen aufnahmebereiten oder -verpflichteten Staat mit Ausnahme von Afghanistan an (Ziff. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Gegen diesen Bescheid ließen die Kläger durch ihren Prozessbevollmächtigten am … August 2018 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage erheben und beantragen,
6
den Bescheid des Bundesamts vom 6. August 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, den Klägern subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote vorliegen.
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Die Beklagte trug mit Schreiben vom 4. Dezember 2020 vor, dass die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem Schutzstatus in Ungarn ausreichend seien.
8
Am ... 2019 wurde den Klägern zu 1 und 2 in Deutschland ein weiteres Kind (weiblich) geboren. Der in Deutschland geborenen Tochter wurde mit Bescheid vom 9. August 2021 vom Bundesamt ein Abschiebungsverbot sowohl hinsichtlich Afghanistans als auch hinsichtlich Ungarns gewährt. In der Begründung ist hierzu ausgeführt, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Vater (Kläger zu 1 des vorliegenden Verfahrens) alleine das erforderliche Existenzminimum für die Familie würde erwirtschaften können, auch wenn die Eltern und Geschwister des nachgeborenen Kindes in Ungarn einen Schutzstatus erhalten hätten. Die Mutter (Klägerin zu 2 des vorliegenden Verfahrens) werde nicht zum Lebensunterhalt beitragen können, da sie sich um das minderjährige Kind und dessen Geschwister werde kümmern müssen. Außerdem leide sie unter psychischen Problemen und in der Akte der Eltern befinde sich ein Schwerbehindertenausweis für die Mutter. Bei einer derzeitigen Rückkehr nach Ungarn unter Berücksichtigung der neuen familiären Situation mit mehreren minderjährigen Kindern und einer instabilen Ehefrau könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Vater alleine das erforderliche Existenzminimum werde erwirtschaften können, selbst wenn er Anspruch auf Sozialleistungen habe. Ausgehend von der bestehenden Familieneinheit und einer hypothetischen Rückkehr aller Personen sei deshalb für das nachgeborene Kind und seine Familie bei Rückkehr nach Ungarn das Existenzminimum nicht mehr gewährleistet.
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Die Beklagte verzichtete mit Schreiben vom 15. Februar 2022 auf mündliche Verhandlung.
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Die Kläger ließen durch ihren Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom … Februar 2022 Verzicht auf mündliche Verhandlung erklären und den Klageantrag dahingehend reduzieren,
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die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass bei den Klägern die Voraussetzungen des § 60 AufenthG hinsichtlich Ungarns vorliegen.
12
Mit Beschluss vom 10. Mai 2022 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen (§ 76 Abs. 1 AsylG).
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakten Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).

Entscheidungsgründe

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1. Soweit die Klage mit Ausnahme der Feststellung des Vorliegens eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG zurückgenommen wurde, ist das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
15
2. Die aufrecht erhaltene Klage, über die mit Einverständnis der Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
16
Die Kläger haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO).
17
Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG (i.V.m. der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK) und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319, Rn. 17, juris). Die Klage hat bereits dann Erfolg, wenn auch nur zur Feststellung eines dieser beiden nationalen Abschiebungsverbote verpflichtet wird und letztlich für die Begründetheit der Klage unerheblich ist, auf welchen von beiden sich das Abschiebungsverbot durchgreifend gründet.
18
2.1 Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
19
In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist anerkannt, dass die Rückführung eines Flüchtlings in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 EMRK auch durch den rückführenden Staat darstellen kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort gegen Art. 3 EMRK verstoßende Bedingungen herrschen. Solche Bedingungen können dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. hierzu insgesamt EGMR, U.v. 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S./Belgien und Griechenland - juris Rn. 263 f. und 365 ff.).
20
Allerdings verpflichtet diese Norm nicht, jede Person innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs mit einem Obdach zu versorgen oder sie finanziell zu unterstützen, um ihr einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, B.v 2.4.2013 - 27725.10, Mohammed Hussein/Italien und Niederlande - ZAR 2013, 336 f.; U.v. 21.1.2011 - 30696.09, M.S.S./Belgien und Griechenland - juris Rn. 249 m.w.N.). Auch gewährt sie von einer Überstellung betroffenen Ausländern grundsätzlich keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Allein die Tatsache, dass die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse bei einer Überstellung bedeutend geschmälert würden, begründet grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Vorschrift (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 - 27725.10, Mohammed Hussein/Italien und Niederlande - ZAR 2013, 336/337). Die Verantwortlichkeit eines Staates ist jedoch dann begründet, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und - trotz ausdrücklich im nationalen Recht verankerter Rechte - behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EGMR, U.v. 21.1.2011 - 30696/09, M.S.S./Belgien und Griechenland - juris Rn. 250; siehe auch EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a. - juris Rn. 88 ff.). Bei der Prüfung einer Überstellung kommt es nicht nur auf die generellen Verhältnisse im Zielstaat an, sondern auch auf die individuellen Umstände des konkret Betroffenen. Jedenfalls ist es erforderlich, dass die dort gewährleisteten Rechte effektiv und nicht nur theoretisch und illusorisch zur Verfügung stehen (vgl. hierzu: EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10, Paposhvili/Belgien -juris Rn. 182, 187, 191 m.w.N.).
21
2.2 Unter Berücksichtigung der aktuellsten Erkenntnismittel zu den Aufnahmebedingungen anerkannt Schutzberechtigter in Ungarn geht das erkennende Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung davon aus, dass den Klägern in Ungarn eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht.
22
Ebenso wie das Bundesamt im Bescheid für die jüngste Tochter der Familie vom 9. August 2021 ist das Gericht der Überzeugung, dass die Familie der Kläger bei hypothetischer Betrachtung als Familieneinheit zusammen nach Ungarn zurückkehren würde. Auch unter günstigen Bedingungen wird es für den Kläger zu 1 deshalb nicht möglich sein, in Ungarn, das erforderliche Existenzminimum für 6 Personen zu erwirtschaften. Der Familie droht deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit akute Obdachlosigkeit und Verelendung.
23
In der Länderinformation der Staatendokumentation Ungarn, Version 2, Veröffentlichung: 12. April 2022, Seite 11 ff des Bundesamts heißt es zur Situation der Schutzberechtigten in Ungarn:
24
„Nur NGOs und kirchliche Organisationen bieten Integrationsleistungen wie Wohnen, Sprachkurse, Hilfe bei der Suche nach Beschäftigung oder Familienzusammenführung an. Ihre Kapazitäten sind jedoch stark begrenzt und können nicht alle versorgen. Aufgrund des Mangels an Wohnungen auf dem freien Markt sind die Mieten zu hoch für Schutzberechtigte, die gerade einen Status erhalten haben. Außerdem vermieten viele Vermieter nicht gerne an Ausländer. Die Sprachbarriere ist ein Problem. Die COVID-19-Pandemie hat Schutzberechtigte mit Schwierigkeiten bezüglich Wohnen konfrontiert. Durch die COVID-19-Pandemie wurden viele Schutzberechtigte arbeitslos oder haben verminderte Einkommen. Das hat negative Auswirkungen, z.B. auf die Deckung wohnungsbezogener Kosten usw. (AIDA 4.2021). Anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte haben in Ungarn Zugang zum Arbeitsmarkt im selben Ausmaß wie ungarische Staatsbürger. Zur Beschäftigung dieser Gruppen gibt es aber keine Statistiken. Auch hier ist die Sprachbarriere das größte Zugangshindernis. Es gibt keine gezielte staatliche Unterstützung für Schutzberechtigte zur Erlangung einer Beschäftigung. Sie sind berechtigt, die Dienste des Nationalen Arbeitsamtes unter den gleichen Bedingungen in Anspruch zu nehmen wie Ungarische Staatsbürger, obwohl es schwierig ist, einen englischsprachigen Sachbearbeiter zu finden. In der Praxis bieten NGOs auch auf diesem Sektor Unterstützung. Ihre Aktivitäten beschränken sich jedoch auf Budapest. Schutzberechtigte waren auch auf dem Arbeitsmarkt stark von der COVID-19-Pandemie betroffen. Viele arbeiteten im Gastgewerbe und im Tourismus und verloren daher ihre Arbeit oder ihre Arbeitsstunden wurden stark reduziert. Das bedroht nicht nur ihre Selbsterhaltungsfähigkeit,…“
25
Nach Auswertung der Erkenntnislage zu Ungarn ist das Gericht zu dem Schluss gelangt, dass die Familie keine ausreichende Unterstützung im Falle einer Rückkehr dorthin erhalten wird, weder bei der Wohnungssuche noch bei Sprachkursen noch durch sonstige staatliche Integrationshilfen. Sie können nicht ohne weiteres die Rechtspositionen, die die Rechtsordnung des Zielstaates formal gewährt, effektiv einfordern. Sie müssen erst in eine der einheimischen Bevölkerung vergleichbare tatsächliche Position einrücken, die ihnen die Teilhabe an den gewährten Rechten ermöglicht (vgl. VGH BW, B.v. 15.3.2017 - A 11 S 2151/16 - juris Rn. 25).
26
Die Familie gehört mit 4 minderjährigen Kindern zu den besonders schutzbedürftigen Personen, für die es unter den aktuellen Umständen unzumutbar ist, nach Ungarn zurückzukehren.
27
Die Klage ist daher im Hinblick auf ein Abschiebungsverbot nach Ungarn gem. § 60 Abs. 5 AufenthG erfolgreich.
28
3. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO bzw. - soweit die Klage zurückgenommen wurde - § 155 Abs. 2 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 - 10 B 60/08 - juris); Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 AsylG).
29
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
30
Soweit das Verfahren eingestellt wurde (Nr. I. Satz 1 des Tenors), ist die Entscheidung unanfechtbar (§ 80 AsylG).