Inhalt

VG München, Beschluss v. 22.03.2022 – M 28 E 21.32812
Titel:

Erfolgreicher Eilantrag türkischer Staatsangehöriger im Folgeantragsverfahren – exilpolitische Betätigung 

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 123
AsylG § 28 Abs. 1, Abs. 2, § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 36 Abs. 4, § 71
VwVfG § 51
Leitsätze:
1. Öffentliche Äußerungen, etwa in sozialen Netzwerken und Zeitungsartikeln, die Beteiligung an Demonstrationen, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können in der Türkei uU als Unterstützung separatistischer oder terroristischer Aktionen oder Organisationen gewertet und verfolgt werden. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Derzeit kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Türkei mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Angehörige und Unterstützer von Organisationen wie etwa der PKK, DHKP-C oder der Gülen-Bewegung vorgeht. (Rn. 25)  (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Türkei, einstweiliger Rechtsschutz, zulässiger Folgeantrag, veränderte Sachlage hinsichtlich Rückkehrbefürchtung (bejaht), exilpolitische Betätigung in besonders exponierter Weise, (asylrelevante) Nachfluchttatbestände im Folgeverfahren, Herkunftsland Türkei, Asylfolgeantrag, veränderte Sachlage, exponierte exilpolitische Betätigung, exilpolitische Äußerungen, Nachfluchttatbestand, Strafverfolgung, Asylanspruch, Anspruch auf internationalen Schutz
Fundstelle:
BeckRS 2022, 26190

Tenor

I. Die Verfahren M 28 E 21.32812 und M 28 E 21.32814 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
II. Die aufschiebende Wirkung der Klagen der Antragsteller gegen die jeweilige Nummer 1 der sie jeweils betreffenden Bescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. Dezember 2021 wird angeordnet.
III. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller, nach eigenen Angaben türkische Staatsangehörige, begehren einstweiligen Rechtsschutz gegen eine auf Bescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gestützte Abschiebung in die Türkei.
2
Die Antragsteller, die nach eigenen Angaben im März 2019 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland einreisten und im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft zusammenleben, stellten erstmals im April 2019 Asylanträge. Ihr Asylbegehren begründeten die Antragsteller im Kern damit, dass sie in der Türkei u.a. wegen Mitgliedschaft in einer sowie Propaganda für eine bewaffnete Terrororganisation zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden seien. Dem Urteil der 9. Großen Strafkammer Ankara vom … März 2019 habe der unzutreffende Vorwurf zugrunde gelegen, dass die Antragsteller Verbindungen zu der in der Türkei verbotenen Maoistischen Kommunistischen Partei (MKP) unterhalten hätten. Tatsächlich haben die Antragsteller lediglich an Demonstrationen bzw. Versammlungen teilgenommen und seien insbesondere Mitglieder in dem damals in der Türkei noch legalen Verein „Ankara Demokratik Haklar Federasyon“ (ADHF) gewesen. Dieser Verein, der sich insbesondere für demokratische und soziale Belange eingesetzt habe, sei erst nach dem Putschversuch per Dekret verboten worden. In demselben Strafverfahren seien 14 weitere Mitglieder des Vereins ADHF aufgrund der - im Wesentlichen - identischen Tatvorwürfe zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Zum Beweis ihrer Behauptungen legten die Antragsteller dem Bundesamt Auszüge aus dem Urteil des türkischen Strafgerichts vor. Die Antragsteller hätten die Türkei daraufhin auf Anraten ihrer Rechtsanwälte, genauso wie acht weitere der gemeinsam Verurteilten, wenige Tage vor der letzten mündlichen Verhandlung, in der auch das Urteil verkündet worden sei, noch im März 2019 verlassen und seien auf dem Luftweg mit den Visa, die ihnen zuvor noch ausgestellt worden seien, in die Bundesrepublik eingereist.
3
Bereits mit Bescheid vom 15. August 2019 erkannte das Bundesamt dem ebenfalls mit Urteil der 9. Großen Strafkammer Ankara vom … März 2019 Verurteilten A. K. G. die Flüchtlingseigenschaft zu. Dies wurde damit begründet, dass aufgrund des ermittelten Sachverhaltes davon auszugehen sei, dass die Furcht des auf dem Landweg eingereisten Antragstellers begründet sei.
4
Mit Bescheiden vom 11. Dezember 2019 erkannte das Bundesamt die ebenfalls Verurteilten D. E., C** K. G. und Z. Y. als Asylberechtigte an und erkannte ihnen die Flüchtlingseigenschaft zu. Dies wurde damit begründet, dass aufgrund des ermittelten Sachverhaltes davon auszugehen sei, dass die Furcht der auf dem Luftweg eingereisten Antragsteller begründet sei.
5
Mit Bescheid vom 9. Januar 2020 erkannte das Bundesamt dem ebenfalls mit Urteil der 9. Großen Strafkammer Ankara vom … März 2019 Verurteilten E. M. G. die Flüchtlingseigenschaft zu. Dies wurde damit begründet, dass aufgrund des ermittelten Sachverhaltes davon auszugehen sei, dass die Furcht des über Griechenland eingereisten Antragstellers begründet sei.
6
Drei weiteren Personen, die ebenfalls verurteilt worden seien und die das Land noch rechtzeitig haben verlassen können, sei in der Schweiz ebenfalls ein Flüchtlingsschutz zuerkannt worden.
7
Mit Bescheiden des Bundesamts vom 11. Mai 2020 wurden die Anträge der Antragsteller abgelehnt. Das Bundesamt begründete dies u.a. damit, dass hinsichtlich der Echtheit der vorgelegten Unterlagen erhebliche Bedenken bestünden. Nachdem die Antragsteller im Klageverfahren das Urteil der 22. Strafkammer des Berufungsgerichts Ankara vom … Juni 2020 vorlegten, dass die Schuldsprüche gegen die Antragsteller sowie gegen die weiteren Mitangeklagten bestätigte, räumte das Bundesamt ein, dass die vorgelegten Beweismittel wohl formal in Ordnung seien. Es sei jedoch der Ansicht, dass inhaltlich nicht von einem Politmalus ausgegangen werden könne. Gegen die Bescheide gerichtete Klagen wurden rechtskräftig abgewiesen (VG Augsburg, U.v. 30.4.2021 - Au 4 K 20.30663; U.v. 30.4.2021 - Au 20.30662; BayVGH, B.v. 7.7.2021 - 24 ZB 21.30777; B.v. 7.7.2021 - 24 ZB 21.30763). Im erstinstanzlichen Urteil wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Verfolgung im Sinne einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung nach Auffassung des Gerichts nicht gegeben sei. Zwar habe das Gericht nach Inaugenscheinnahme der relevanten Unterlagen im UYAP-Account des Antragstellers keine Zweifel an deren Echtheit, auch verkenne das Gericht nicht, dass der von türkischen Behörden angewandte Begriff des „Terrorismus“ unscharf und Vorwand für eine Bandbreite an Repressalien sei, im Ergebnis könne unter Würdigung sämtlicher Umstände des vorliegenden Einzelfalls nicht mit erforderlicher Überzeugungsgewissheit angenommen werden, dass das gegen die Antragsteller durchgeführte Strafverfahren sowie der Strafausspruch nicht mehr legitimer Strafverfolgung entsprächen. Die Antragsteller seien unstreitig politisch aktive Personen, die in diversen Vereinen tragende Rollen eingenommen hätten. Nach eigenen Angaben der Antragsteller gebe es auch gewisse Verflechtungen zwischen diesen Vereinen und der verbotenen Partei MKP, sodass der Vorwurf der Mitgliedschaft in bzw. der Propaganda für die MKP jedenfalls „nicht völlig aus der Luft gegriffen“ und eine ideologische Verbindung der Vereinigungen zur MKP von den türkischen Behörden bzw. Gerichten den Antragstellern „nicht lediglich angedichtet“ worden sei.
8
Im August 2021 stellten die Antragsteller Folgeanträge. Zur Begründung trugen sie u.a. vor, dass davon ausgegangen werden müsse, dass den Antragstellern seitens des Bundesamts die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden wäre, wenn dieses von Anfang an von der Echtheit der Dokumente ausgegangen wäre. Im Übrigen sei damit zu rechnen, dass die Antragsteller im Falle einer Rückkehr in die Türkei verhaftet würden und ihre Haft in einem Gefängnis des F-Typs verbüßen müssten. Weiterhin hätten die Antragsteller ihre politischen Aktivitäten auch in Deutschland fortgesetzt und seien in den letzten Monaten umfassend exilpolitisch tätig gewesen. Dabei hätten sie sich u.a. in mehreren Zeitungsartikeln, in sozialen Medien und auch in zwei TV-Sendungen kritisch gegenüber dem Erdogan-Regime geäußert. Im Übrigen legten die Antragsteller diverse Schreiben, u.a. ein an ein (damaliges) Mitglied des Bundestags gerichtetes Schreiben des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz, diverse Auszüge von (Online-)Kommentaren in sozialen Medien, in denen die Antragsteller massiv angefeindet worden sind, mehrere Schreiben von Abgeordneten des türkischen Parlaments und von in der Türkei tätigen Rechtsanwälten, sowie weitere Unterlagen vor, die als neue Beweismittel insbesondere belegen würden, dass zugunsten der Antragsteller von einem „Politmalus“ ausgegangen werden müsse.
9
Mit Bescheiden vom 7. Dezember 2021 lehnte das Bundesamt die Asylfolgeanträge der Antragsteller jeweils als unzulässig (Nr. 1 der Bescheide) und die Anträge auf Abänderung der Bescheide vom 11. Mai 2020 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG; Nr. 2 der Bescheide) ab. Das Bundesamt begründete dies im Kern damit, dass der Wiederaufgreifensgrund der Sachlagenänderung nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG im vorliegenden Fall nicht gegeben sei, da die Antragsteller keine neuen Gründe vorgebracht hätten, die es angebracht erscheinen ließen, die Wiederaufgreifensvoraussetzungen nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu bejahen. Die eingereichten Stellungnahmen sowie allgemeinen Berichte über die politische Situation in der Türkei führten nicht zu einer Änderung des Sachverhalts, insbesondere habe das Verwaltungsgericht Augsburg das Vorliegen eines Politmalus bereits in seinem Urteil im Erstverfahren verneint. Hinsichtlich ihres Vorbringens, exilpolitisch tätig zu sein, könne den Antragstellern gemäß § 28 Abs. 2 AsylG die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden. Die Gefahr politischer Verfolgung beruhe zum einen auf Umständen, die nach der unanfechtbaren Ablehnung des Asylerstantrags stattgefunden hätten, zum anderen drohe wegen der Aktivitäten auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung. Der Unterzeichner verkenne zwar nicht, dass die türkischen Behörden willkürlich darüber zu entscheiden scheinen, wer für die Veröffentlichung von als verboten angesehenen Nachrichten in den sozialen Medien strafverfolgt wird. Die Antragsteller hätten jedoch nicht glaubhaft machen können, dass ihnen wegen ihrer Beiträge flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung drohen würde. So habe der Bevollmächtigte der Antragsteller zwar Passagen ausgeführt, die die Antragsteller geäußert haben sollen („die Türkei ist kein demokratisches Land und Erdogan verfolgt eine islamistisch-faschistische Ideologie“), diese Äußerungen wiesen jedoch keinerlei Bezug zu einer Terrororganisation auf oder forderten zum Umsturz der Regierung auf, was dann ein berechtigtes Verfolgungsinteresse des türkischen Staates als besonders wahrscheinlich erscheinen lassen würde. Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG seien ebenfalls nicht gegeben.
10
Die Antragsteller erhoben hiergegen fristgerecht Klagen (M 28 K 21.32811, M 28 K 21.32813). Zugleich haben die Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht, den sie damit begründeten, dass angesichts der den Antragstellern drohenden Gefahren, die persönlichen Interessen der Antragsteller ein öffentliches Interesse der Bundesrepublik Deutschland überwögen.
11
Die Antragsteller beantragen,
der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, die Antragsteller nicht vor einer rechtskräftigen Entscheidung im Klageverfahren in die Türkei abzuschieben.
12
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Eilantrag abzulehnen.
13
Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtssowie auf die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
15
1. Die gemäß § 93 Satz 1 VwGO zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Eilanträge, die nach § 88 VwGO einerseits als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der (insofern in der Hauptsache alleine statthaften) Anfechtungsklage gegen die Ablehnung des Folgeantrags als unzulässig sowie andererseits als (Hilfs-)Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zur Sicherung eines Anspruchs der Antragsteller auf Feststellung des Vorliegens eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG auszulegen sind (zur Diskussion und rechtlichen Begründung hinsichtlich des [jeweils statthaften] einstweiligen Rechtsschutzes bei Ablehnung von Asylfolge- und Zweitanträgen vgl. ausführlich: Dickten in BeckOK AuslR, 27. Edition, Stand: 1. Oktober 2020, § 71 Rn. 31 ff. m.w.N. sowie VG München, B.v. 23. März 2017 - M 2 S 17.34212, M 2 E 17.34213 - juris), sind bei dieser Auslegung zulässig und in der (Haupt-)Sache begründet.
16
2. Es bestehen bereits ernstliche Zweifel (vgl. § 71 Abs. 4 Satz 1 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG) an der Entscheidung des Bundesamts, die Asylfolgeanträge der Antragsteller als unzulässig abzulehnen. Daher kann auch dahinstehen, ob die Antragsteller bezüglich eines vorläufig zu sichernden materiellen Anspruchs auf Feststellung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG für Anordnungsanspruch oder Anordnungsgrund maßgebliche Tatsachen i.S.d. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 ZPO hinreichend glaubhaft gemacht haben.
17
Ernstliche Zweifel in Sinne des § 71 Abs. 4 Satz 1 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 - juris, Rn. 99).
18
Gemessen hieran bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Antragsgegnerin, für die Antragsteller kein (weiteres) Asylverfahren durchzuführen.
19
Die ernstlichen Zweifel des Einzelrichters resultieren vorliegend daraus, dass die Antragsgegnerin wohl zu Unrecht davon ausgegangen sein dürfte, dass sich die dem ursprünglichen Verwaltungsakt zugrundeliegende Sachlage aufgrund der diversen, exilpolitischen Aktivitäten der Antragsteller in den sozialen Medien nachträglich nicht zu deren Gunsten geändert habe und die Antragsgegnerin hierbei voraussichtlich auch Reichweite und Bedeutung des § 28 Abs. 2 AsylG verkannt haben dürfte.
20
a) Hinsichtlich des rechtlichen Rahmens und des Prüfungsmaßstabs bezüglich der § 71 AsylG i.V.m. § 51 VwVfG wird zunächst auf die Ausführungen in den streitgegenständlichen Bescheiden, denen das Gericht (nur) insoweit folgt, verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
21
b) Der Einzelrichter ist davon überzeugt, dass die in diversen Medien verlautbarten, exilpolitischen Äußerungen der Antragsteller die türkischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) veranlassen könnten, ihnen gegenüber eine (rechtsstaatswidrige) Strafverfolgung einzuleiten. Da die beiden Antragsteller bei all diesen Gelegenheiten stets gemeinsam und als Paar auftraten, der türkische Staat ihnen mithin voraussichtlich die jeweiligen Äußerungen des Partners zurechnen dürfte, erscheint vorliegend eine getrennte Beurteilung der verfolgungsrelevanten Gefährdungsprognosen nicht sinnvoll.
22
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung aus politischen Gründen in der Türkei (derzeit) nur bei Personen besteht, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind, gegen sie ein Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist oder sie sich in besonders exponierter Weise exilpolitisch betätigt haben und sie deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristischer Organisationen angesehen werden (OVG LSA, B.v. 17.5.2016 - 3 L 177/15 - juris Rn. 18; SächsOVG, U.v. 7.4.2016 - 3 A 557/13.A - juris Rn. 34.). Eine Verfolgungsgefahr ist insbesondere auch dann nicht ausgeschlossen, wenn die Person bereits wegen Terrorvorwürfen verurteilt worden ist (OVG NRW, U.v. 2.6.2013 - 8 A 2632/06.A - juris Rn. 106 ff.).
23
aa) Lediglich der Vollständigkeit halber sei - vorab - angemerkt, dass nach Überzeugung des Einzelrichters bereits die strafrechtliche Verurteilung der 9. Großen Strafkammer Ankara für sich genommen eine erhebliche - verfolgungsrelevante - Gefährdung der Antragsteller aus politischen Gründen begründen dürfte, da erwiesen ist, dass sie von den türkischen Sicherheitsbehörden als tatsächliche Unterstützer einer terroristischen Organisation angesehen werden und sich die Sicherheitsbehörden im Falle einer Rückkehr der Antragsteller wohl für diese „interessieren“ würden (vgl. hierzu OVG NRW, U.v. 2.6.2013 - 8 A 2632/06.A - juris Rn. 108). Hiervon scheint im Übrigen auch die Antragsgegnerin selbst - jedenfalls hinsichtlich der fünf weiteren, in der Türkei verurteilten türkischen Staatsangehörigen - auszugehen, da sie alle fünf als Asylberechtigte anerkannt bzw. ihnen jedenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat (inhaltlich beruhen letztlich sämtliche Verurteilungen auf der Mitgliedschaft in dem - damals noch legalen - Verein ADHF; den Urteilsgründen lässt sich im Übrigen entnehmen, dass sich die weiteren Tatvorwürfe, z.B. Teilnahme an bestimmten Demonstrationen, Beisichführen von verbotenen Büchern etc., allenfalls im Detail voneinander unterscheiden). Eine Begründung dafür, aus welchen Gründen die Antragsgegnerin die Frage der Rückkehrgefährdung demgegenüber bei den Antragstellern anders bewertet, lässt sich weder den (insoweit völlig unsubstantiierten) Äußerungen der Antragsgegnerin im gerichtlichen Verfahren noch den Behördenakten entnehmen.
24
bb) Nach Überzeugung des Einzelrichters dürften bei den Antragstellern (jedenfalls) Besonderheiten im o.g. Sinne vorliegen, weil sie sich „in besonders exponierter Weise“ exilpolitisch betätigt haben und sie deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten dürften, weil sie als tatsächliche oder potentielle Unterstützer einer terroristischen Organisation angesehen würden. Da sich die Antragsteller (erst) nach rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens auf diese Weise exilpolitisch betätigt haben, dürften sie im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer - gegenüber dem Erstverfahren gesteigerten und mithin im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG als „neu“ zu bewertenden - Verfolgungsgefährdung ausgesetzt sein; die Sachlage dürfte sich daher - soweit dies im Eilverfahren beurteilt werden kann - nachträglich zu ihren Gunsten geändert haben.
25
(a) Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsartikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen z.B. Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können in der Türkei strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen und Handlungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. Weiter muss davon ausgegangen werden, dass E-Mail- und Telefonkommunikation sowie Einträge in sozialen Medien überwacht werden sowie dass türkische diplomatische Vertretungen Informationen über regierungskritische türkische Staatsangehörige, die sich im Ausland befinden, an die türkischen Behörden weiterleiten (vgl. Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, Stand: April 2021, S. 15 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7.7.2017 zur Türkei: Gefährdung bei Rückkehr von kurdischstämmigen Personen mit oppositionspolitischem Engagement und möglichen Verbindungen zur PKK, S. 2 f.). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet wurden. Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation vom 6.12.2021, Türkei, S. 172 f.). Derzeit kann zudem nicht davon ausgegangen werden, dass die Türkei mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Angehörige und Unterstützer von Organisationen wie etwa der PKK, der DHKP-C oder der Gülen-Bewegung („FETÖ“) vorgeht; es bestehen insbesondere erhebliche Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit und an der fairen Prozessführung. Hinzu kommen in diesen Fällen (teils gravierende) Mängel bei den Verteidigungsmöglichkeiten (vgl. zu den Einzelheiten: Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation vom 6.12.2021, Türkei, S. 41 ff.).
26
Gemessen hieran hält es der Einzelrichter jedenfalls i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG für möglich, dass die exilpolitischen Äußerungen der Antragsteller die türkischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) veranlassen könnten, eine (rechtsstaatswidrige) Strafverfolgung gegenüber den Antragstellern einzuleiten.
27
Dies fängt schon damit an, dass sich die Antragsteller, die hierbei stets gemeinsam auftraten, in verschiedenen Medien prominent, so beispielsweise auch in der Süddeutschen Zeitung, zu ihrer ablehnenden Asylentscheidung geäußert haben und dabei - wie auch die Antragsgegnerin zutreffend feststellt - ihr Missfallen an der ablehnenden Entscheidung im Erstverfahren deutlich zum Ausdruck gebracht haben. Darüber hinaus prangerten die beiden Antragsteller in den verschiedenen Medien jedoch auch unverhohlen die Missstände im türkischen Justizsystem an und positionierten sich vor allem widerholt sehr kritisch und deutlich gegen den türkischen Präsidenten bzw. dessen Politik. So sprach etwa die Antragstellerin bei ArtiTV, einem türkischsprachigen Fernsehsender, der über immerhin fast 150.000 Abonnenten und somit eine durchaus beachtliche Reichweite verfügt (vgl. zu den Hintergründen und der Reichweite des Senders auch: https://www.deutschlandfunk.de/arti-tv-exil-sender-mit-ungewisser-zukunft-100.html, zuletzt am 21.3.2022 online abgerufen), offen und unmissverständlich vom „Erdogan-Regime“ bzw. der „Diktatur von Erdogan“ und davon, dass unter der „AKP-Herrschaft“ die „Bedingungen des Faschismus vorherrschend“ geworden seien (Behördenakte S. 227 f.). Der Antragsteller führte in diversen Zeitungsartikeln beispielsweise aus, dass „die Einstufung als Mitglied in einer als terroristisch bezeichneten Organisation das gängige Mittel sei, Oppositionelle aus dem Weg zu schaffen“ (Behördenakte S. 151) oder dass der türkische Präsident Erdogan mit seiner „islamistisch-faschistisch Ideologie ein Problem für die Türkei und die Welt sei“ (Behördenakte S. 236 ff). Gerade vor dem Hintergrund, dass die Antragsgegnerin in ihren Bescheiden - zu Recht - umfangreich dazu ausführt, dass die türkischen Behörden willkürlich darüber zu entscheiden scheinen, wer für die Veröffentlichung von als verboten angesehenen Nachrichten in den sozialen Medien strafverfolgt wird, erscheint ihre dort auch wiedergegebene Meinung, dass derartige Verlautbarungen weder Bezug zu einer Terrororganisation hätten noch zum Umsturz der Regierung auffordern würden und deshalb ein Verfolgungsinteresse des türkischen Staats nicht besonders wahrscheinlich sei, nicht nur kleinkariert sondern geradezu absurd. Es kann angesichts des (insoweit) willkürlichen Vorgehens der türkischen (Strafverfolgungs-)Behörden offenkundig gerade nicht davon ausgegangen werden, dass solche Äußerungen lediglich anhand ihres exakten Wortlauts und losgelöst von deren unmissverständlicher Botschaft beurteilen würden. Es ist vielmehr zu erwarten, dass die Äußerungen der Antragsteller als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können und sie daher geeignet sind, in der Türkei eine (rechtsstaatswidrige) Strafverfolgung einzuleiten, zumal die Antragsteller in der Türkei ohnehin bereits als Mitglieder einer terroristischen Organisation angesehen werden und ihre Äußerungen von den türkischen Behörden daher besonders kritisch beurteilt werden dürften.
28
Angesichts ihrer strafrechtlichen Verurteilung, der Tatsache, dass sie sich bereits in der Türkei in besonders exponierter Weise oppositionspolitisch betätigt haben sowie der umfangreichen medialen Berichterstattung über die ablehnende Entscheidung im Erstverfahren sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, ist auch davon auszugehen, dass den türkischen Sicherheitsbehörden oder jedenfalls den türkischen diplomatischen Vertretungen die exilpolitischen Betätigungen der Antragsteller bekannt sind bzw. ihnen diese spätestens im Falle einer (unfreiwilligen) Rückkehr in die Türkei bekannt würden.
29
Nach alldem dürften die Antragsteller im Falle einer Rückkehr voraussichtlich nicht hinreichend sicher davor sein, in der Türkei Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu werden.
30
(b) Auch dürfte § 28 Abs. 2 AsylG der Gewährung eines Schutzstatus vorliegend nicht entgegenstehen. Zum einen ist - soweit ersichtlich - in der Rechtsprechung bisher noch nicht abschließend geklärt, ob § 28 Abs. 2 AsylG (im Folgeverfahren) auch der Anerkennung einer Person als Asylberechtigter i.S.d. Art. 16a GG entgegenstehen kann (nachfolgend (aa)). Zum anderen spricht im konkreten Fall ohnehin viel dafür, dass die Regelvermutung des § 28 Abs. 2 AsylG widerlegt sein dürfte (nachfolgend (bb)).
31
(aa) Nach seinem Wortlaut verhindert § 28 Abs. 2 AsylG, wenn im Folgeverfahren ein Nachfluchttatbestand vorliegt, regelmäßig - nur - die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Die Frage, ob bei Vorliegen von Nachfluchttatbeständen die Asylberechtigung anzuerkennen ist oder nicht, ist hingegen - (wohl) unabhängig davon, ob ein Erst- oder ein Folgeverfahren vorliegt - grundsätzlich anhand der Regelung des § 28 Abs. 1 AsylG zu prüfen.
32
Die (entscheidungserhebliche) Frage, ob § 28 Abs. 2 AsylG im Folgeverfahren über seinen (eindeutigen) Wortlaut hinaus auch der Anerkennung als Asylberechtigter entgegenstehen kann, vermag der Einzelrichter jedenfalls im Eilverfahren nicht abschließend zu entscheiden, zumal die Antragsgegnerin diese Frage in ihrem Bescheid schlicht übergangen hat. Angemerkt sei jedoch bereits an dieser Stelle, dass neben dem Wortlautargument auch die Gesetzesbegründung, in der es heißt, dass eine Regelung für das „kleine Asyl“ bisher gefehlt habe (in Abgrenzung zur in § 28 Abs. 1 AsylG geregelten Asylberechtigung als „großem Asyl“), dafür sprechen dürfte, dass § 28 Abs. 2 AsylG im Folgeverfahren - ausschließlich - der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegenstehen kann (in diese Richtung wohl auch Blechinger in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 10. Edition, Stand: 15.1.2022, juris Rn. 50).
33
§ 28 Abs. 1 AsylG würde der Anerkennung der Antragsteller, die glaubhaft vorgebracht haben dürften, auf dem Luftweg in die Bundesrepublik eingereist zu sein (vgl. insoweit die jeweiligen Einreisestempel und Visa), als Asylberechtigte im vorliegenden Fall jedenfalls nicht entgegenstehen, da die exilpolitischen Betätigungen der Antragsteller offenkundig einer „festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung“ entsprechen (vgl. hierzu sogleich (bb)).
34
(bb) Unabhängig davon, ob § 28 Abs. 2 AsylG im Grundsatz auch der Anerkennung als Asylberechtigter entgegengehalten werden kann, dürfte die Regelvermutung dieser Norm im vorliegenden Fall jedenfalls als widerlegt anzusehen sein.
35
Hierbei verkennt der Einzelrichter nicht, dass sich die Antragsteller erstmals nach (rechtskräftiger) Ablehnung ihrer Erstanträge in Deutschland exilpolitisch betätigt haben, sie unmittelbar nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik zunächst jedoch noch nicht (wieder) politisch aktiv geworden sind. Über die Gründe hierfür, die es durchaus geben mag, vermag der Einzelrichter (jedenfalls im Eilverfahren) nicht zu spekulieren; im Ergebnis dürfte es hierauf jedoch auch nicht entscheidend ankommen, da die politischen Aktivitäten der Antragsteller „ganzheitlich“, d.h. in einem größeren Kontext zu betrachten sind. Beide Antragsteller waren etwa 20 Jahre alt, als sie dem Verein ADHF beitraten. Von da an waren die Antragsteller über viele Jahre politisch aktiv, nahmen an politischen Veranstaltungen teil, engagierten sich in diversen politischen Vereinen und taten öffentlich ihre politische Meinung kund. Selbst nachdem die Strafprozesse gegen die Antragsteller eingeleitet worden sind, nahmen die Antragsteller noch an Demonstrationen teil und halfen teilweise sogar dabei, solche (auch politische) Veranstaltungen zu organisieren (bereits im Urteil des VG Augsburg vom 30.4.2021 heißt es hierzu: „Unstreitig handelt es sich bei den Klägern um politisch aktive Personen“). Die in Deutschland nach außen betätigten Überzeugung stellen sich daher sowohl inhaltlich als auch zeitlich als Fortsetzung der bisherigen politischen Betätigungen der Antragsteller in der Türkei dar und spiegeln mithin deren erkennbar betätigte feste Überzeugung wieder (Blechinger in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 10. Edition, Stand: 15.01.2022, juris Rn. 35 ff., 42 ff.), sodass im vorliegenden Einzelfall ausnahmsweise eine lediglich asyltaktische Motivation auszuschließen sein dürfte.
36
3. Den (gerichtskostenfreien, § 83b AsylG) Anträgen war deshalb stattzugeben.
37
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
38
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.