Inhalt

VGH München, Beschluss v. 06.09.2022 – 15 ZB 22.30812
Titel:

Erfolglose Gehörsrüge in Asylstreitverfahren

Normenketten:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1
Leitsätze:
1. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Anderes gilt, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Recht auf rechtliches Gehör begründet keine Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder seine (mögliche) Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht (Georgien), Asylstreitverfahren, rechtliches Gehör, Gehörsrüge, Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, Überraschungsentscheidung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 28.06.2022 – RN 9 K 21.31629
Fundstelle:
BeckRS 2022, 25924

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens zu je einem Viertel. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Die Kläger, ein Ehepaar und ihre zwei minderjährigen Kinder, sind Staatsangehörige Georgiens und begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie hilfsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes und die Feststellung von Abschiebungshindernissen. Das Verwaltungsgericht hat ihre Klage mit Urteil vom 28. Juni 2022 abgewiesen. Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgen sie ihr Begehren weiter.
II.
2
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die von den Klägern allein geltend gemachte Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) liegt nicht vor.
3
Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden. Es gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gibt einem Prozessbeteiligten das Recht, alles aus seiner Sicht Wesentliche vortragen zu können. Eine Verletzung des Grundsatzes liegt vor, wenn das Gericht einen entscheidungserheblichen Vortrag der Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen bzw. bei seiner Entscheidung nicht erwogen hat oder einen entsprechenden Vortrag dadurch vereitelt hat, dass es unter Verstoß gegen das Prozessrecht den Beteiligten die Möglichkeit zu weiterem Vortrag abgeschnitten hat, und dieser übergangene bzw. vereitelte Vortrag nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des Gerichts entscheidungserheblich war. Im Übrigen brauchen sich die Gerichte nicht mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich und im Detail auseinanderzusetzen. Denn es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Anderes gilt, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BayVGH, B.v. 23.6.2022 - 15 ZB 22.30617 - juris Rn. 3).
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1. Soweit im Zulassungsvorbringen vorgetragen wird, das Verwaltungsgericht lasse wesentlichen Vortrag der Kläger unbeachtet, ergibt sich hieraus keine Verletzung rechtlichen Gehörs.
5
Abgesehen davon, dass sich das Verwaltungsgericht in den Gründen der Entscheidung nicht mit jedem Vorbringen der Beteiligten ausdrücklich und im Detail auseinanderzusetzen hat, führt das Verwaltungsgericht im Urteil im Sachverhalt ausführlich den Vortrag der Kläger, auf den sich diese im Zulassungsvorbringen beziehen, an (UA S. 2 f.) und würdigt diesen in den Entscheidungsgründen (UA S. 5 ff.). Zudem nimmt das Verwaltungsgericht im Rahmen des Urteils gem. § 77 Abs. 2 AsylG Bezug auf den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. November 2021, dem ebenfalls der vom Kläger zu 1 geschilderte Sachverhalt zugrunde liegt und in diesem gewürdigt wurde. Die umfangreiche Sachverhaltsschilderung im Zulassungsvorbringen zeigt nicht auf, dass das Verwaltungsgericht von einem falschen Sachverhalt ausging oder die konkrete Situation der Kläger nicht gewürdigt hat. Die Kläger wenden sich vielmehr im Gewand einer Gehörsrüge gegen die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, was jedoch keinen im Asylverfahrensrecht vorgesehenen Zulassungsgrund darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 23.6.2022 - 15 ZB 22.30617 - juris Rn. 4).
6
2. Der Vortrag, es liege eine Überraschungsentscheidung vor, weil die Kläger nicht damit rechnen mussten, dass ihr Vorbringen als nicht ausreichend eingestuft werde, führt ebenfalls nicht zum Erfolg der Gehörsrüge.
7
Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerwG, B.v. 2.5.2017 - 5 B 75.15 D - juris Rn. 11). Dies ist hier nicht der Fall.
8
Die Kläger hatten ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vom 23. Juni 2022 ausreichend Gelegenheit, ihr Verfolgungsschicksal vorzutragen. Da es hierbei Sache des Asylbewerbers ist, sein Verfolgungsschicksal ausreichend darzulegen und in seine Sphäre fallende Ereignisse, insbesondere persönliche Erlebnisse, in sich stimmig zu schildern, ist es nicht überraschend, wenn das Verwaltungsgericht im Rahmen der Urteilsbildung hierauf abstellt und dies entsprechend würdigt, zumal sich die tatsächliche und rechtliche Einschätzung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Entscheidungsfindung nach Schluss der mündlichen Verhandlung ergibt und das Recht auf rechtliches Gehör keine Pflicht des Gerichts begründet, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder seine (mögliche) Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen (vgl. BayVGH, B.v. 27.9.2021 - 15 ZB 20.32485 - juris Rn. 56 m.w.N.). Gegenteiliges zeigt das Zulassungsvorbringen nicht auf, zumal die in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht anwaltlich vertretenen Kläger weder Beweisanträge gestellt haben noch aufzeigen, welche darüber hinausgehenden Ausführungen gemacht worden wären.
9
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
10
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
11
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).