Inhalt

VG Bayreuth, Beschluss v. 03.08.2022 – B 6 E 22.709
Titel:

Keine Erledigung der Abschiebungsandrohung nach illegaler Einreise in anderen Mitgliedstaat 

Normenketten:
AufenthG § 50 Abs. 1, Abs. 3 S. 1
Rückführungs-RL Art. 6 Abs. 2
VwGO § 123
Leitsatz:
Zwar erledigt sich eine Abschiebungsandrohung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge mit Erfüllung der Ausreisepflicht durch den Ausländer; die Ausreisepflicht besteht jedoch fort, wenn eine illegale Einreise in einen anderen Mitgliedstaat (hier: Frankreich) erfolgt ist, und zwar unabhängig von der Dauer des Aufenthalts dort. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erledigung der Abschiebungsandrohung, Erlaubte Einreise und Aufenthalt in anderen Mitgliedstaat bei Asylfolgeverfahren (hier: Frankreich), Kein Rückschluss von Unterbringungsbescheinigung auf Aufenthaltsrecht, Erfüllung der Ausreisepflicht, erlaubte Einreise in anderen Mitgliedstaat, erlaubter Aufenthalt in anderem Mitgliedstaat, illegale Einreise in anderen Mitgliedstaat, Asylfolgeverfahren in Frankreich, Unterbringungsbescheinigung, Rückschluss auf Aufenthaltsrecht, RL 2008/115/EG
Fundstellen:
InfAuslR 2023, 23
BeckRS 2022, 25376
LSK 2022, 25376

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 1.250 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebung nach Serbien.
2
Der Antragsteller ist serbischer Staatsangehöriger und reiste am 10.03.2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sein am 26.03.2018 gestellter Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 04.05.2018 als offensichtlich unbegründet abgelehnt, verbunden mit der Feststellung, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Außerdem forderte ihn die Behörde auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, widrigenfalls er nach Serbien abgeschoben werde (Ziffer 5 des Bescheides). Gegen diesen Bescheid ging der Antragsteller nicht vor. Spätestens am 15.05.2018 verließ der Antragsteller das Bundesgebiet.
3
Wie sich aus den vom Antragstellerbevollmächtigten vorgelegten Unterlagen ergibt, wurde der Antragsteller am 14.06.2018 erstmals in Frankreich registriert. In der Folge scheiterten zwei Rücküberstellungsversuche im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens am 27.12.2018 und am 18.02.2019, weil sich der Antragsteller an beiden Überstellungsterminen nicht im angekündigten Flugzeug befunden hat.
4
Sein in Frankreich gestellter Asylerstantrag wurde mit Bescheid vom 12.06.2019 abgelehnt. Der hiergegen erhobene Rechtsbehelf wurde vom Nationalen Asylgerichtshof („Cour nationale du droit d‘asile“) am 12.09.2019 abgelehnt (Bl. 45 der Gerichtsakte). Am 13.05.2020 erließ der Präfekt von Val-d‘Oise eine Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung (Bl. 42 der Gerichtsakte). Eine dagegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht („Tribunal administratife“) Cergy-Pontoise ab (Bl. 42-46 der Gerichtsakte). Daraufhin stellte der Antragsteller einen Asylfolgeantrag, den die Asylbehörde am 13.01.2021 ablehnte. Dagegen erhob der Antragsteller Klage zum Nationalen Asylgerichtshof („Cour nationale du droit d‘asile“), der ihm am 16.03.2021 Prozesskostenhilfe bewilligte (Bl. 40 der Gerichtsakte). Über die Klage ist noch nicht entschieden worden.
5
Am 30.06.2022 wurde der Antragsteller am Hauptbahnhof Stuttgart angetroffen, durch Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 01.07.2022 (Az.: …*) in Sicherungshaft genommen und befindet sich seitdem in der Abschiebehafteinrichtung …
6
Am 25.07.2022 ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Karlsruhe (Az.: ...) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragen,
dem Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu untersagen, den Antragsteller nach Serbien abzuschieben.
7
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass das Asylverfahren des Antragstellers in Frankreich noch nicht rechtskräftig beendet worden sei. Der Rückführung nach Serbien stehe zudem Art. 6 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie entgegen. Der Antragsteller habe zwar kein Aufenthaltsrecht in Frankreich, sein Aufenthalt sei jedoch während des Asylverfahrens gestattet.
8
Mit Beschluss vom 01.08.2022 erklärte sich das Verwaltungsgericht Karlsruhe für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Bayreuth.
9
Mit Schriftsatz vom 02.08.2022 beantragte der Antragsgegner, vertreten durch die Regierung von Oberfranken, Zentrale Ausländerbehörde,
den Antrag abzulehnen.
10
Zur Begründung wurde im Wesentlichen mit Schriftsatz vom 01.08.2022 ausgeführt, dass die Abschiebungsandrohung vom 04.05.2018 nach Serbien seit 17.05.2018 vollziehbar sei. Den Unterlagen des Antragstellers sei nicht zu entnehmen, dass er ein Aufenthaltsrecht in Frankreich habe, weshalb § 50 Abs. 3 AufenthG nicht einschlägig sei.
11
Mit Schriftsatz vom 02.08.2022 wies der Antragstellerbevollmächtigte darauf hin, dass der Antragsteller lediglich seinen in Deutschland wohnhaften Sohn habe besuchen wollen. Er habe die Absicht, nach Frankreich zurückzukehren, um sein Asylverfahren dort weiter zu betreiben. Der Antragsteller habe in Frankreich eine Arbeitsstelle und eine Wohnung.
12
Mit Schriftsatz vom 03.08.2022 teilte der Antragsgegner auf gerichtliche Aufforderung hin mit, an der Abschiebung nach Serbien festhalten zu wollen.
13
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.
II.
14
Der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist abzulehnen, weil kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht wurde.
15
1. Der Abschiebung nach Serbien steht nicht entgegen, dass keine Abschiebungsandrohung mehr vorliegt. Denn die Abschiebungsandrohung des Bundesamts vom 04.05.2018 hat sich nicht dadurch erledigt, dass der Antragsteller im Mai 2018 in Frankreich eingereist ist und sich dort tatsächlich aufgehalten hat.
16
Der Antragsteller ist seiner Verpflichtung in Ziffer 5 des Bundesamtsbescheides vom 04.05.2018, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, nicht nachgekommen. Zwar erledigt sich die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid des Bundesamts mit Erfüllung der Ausreisepflicht (dazu VG Karlsruhe, B.v. 07.05.2019 - 5 K 2914/19 - juris Rn. 11 m.w.N.). Der Antragsteller hat aber seine Ausreisepflicht i.S.d. § 50 Abs. 1 AufenthG vorliegend nicht erfüllt. Gem. § 50 Abs. 3 Satz 1 AufenthG genügt der Ausländer seiner Ausreisepflicht nur, wenn ihm Einreise und Aufenthalt in dem Mitgliedstaat der EU erlaubt sind. Aus der Gesamtschau des § 50 Abs. 3 Satz 1 AufenthG und Art. 6 Abs. 2 der Rückführungslinie (RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348, S. 98) ergibt sich, dass die Ausreisepflicht fortbesteht, wenn eine illegale Einreise in einen anderen Mitgliedstaat erfolgt ist, und zwar unabhängig von der Dauer des Aufenthalts in dem anderen Mitgliedstaat (Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar AufenthG, Stand Juli 2022, § 50 Rn. 76). So liegt der Fall hier:
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a. Dem Antragsteller waren Einreise und Aufenthalt in Frankreich im Jahr 2018 nicht erlaubt, wie die Rücküberstellungsversuche im Rahmen des Dublin-Verfahrens vom 27.12.2018 und vom 18.02.2019 (Bl. 110 ff., 125 f. und 130 ff. der Behördenakte) zeigen (VG Bayreuth, B.v. 26.10.2017 - B 6 S 17.750 - juris Rn. 30).
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b. Auch zum jetzigen Zeitpunkt sind dem Antragsteller Einreise und Aufenthalt in Frankreich nicht erlaubt, weil sich der Antragsteller im gerichtlichen Verfahren betreffend seinen Asylfolgeantrag befindet, woraus sich kein Aufenthaltsrecht ergibt.
19
aa. Ein mögliches Aufenthaltsrecht des Antragstellers hat das Gericht anhand der vom Antragstellerbevollmächtigten vorgelegten Urkunden in französischer Sprache geprüft. Das Gericht konnte diese Dokumente heranziehen, ohne gem. § 173 Satz 1 VwGO, § 142 Abs. 3 Satz 1 ZPO entsprechend die Beibringung einer Übersetzung anzuordnen, weil es über französische Sprachkenntnisse verfügt, die es ihm erlauben, die Unterlagen zu übersetzen (von Selle in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, Stand 01.07.2022, § 142 Rn. 19).
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bb. Zwar ergibt sich aus der Entscheidung des Nationalen Asylgerichtshofs („Cour nationale du droit d‘asile“) vom 16.03.2021 (Bl. 40 der Gerichtsakte), dass der Antragsteller Prozesskostenhilfe für sein anhängiges Gerichtsverfahren betreffend seinen Asylfolgeantrag erhält („Article 1er“ der Entscheidung), womit deutlich wird, dass das Asylfolgeverfahren noch anhängig ist. Gleichwohl folgt hieraus kein Aufenthaltsrecht. Vielmehr ergibt sich aus dem „Country Report: France“ der „aida, Asylum Information Database“ (Stand 2021) auf Seite 88, dass im französischen Gerichtsverfahren nach abgelehntem Asylfolgeantrag nicht einmal ein der Duldung nach deutschem Recht entsprechendes Aufenthaltsrecht erteilt wird und der Ausländer abgeschoben werden kann. Hinzu kommt, dass die Bewilligung von Prozesskostenhilfe - anders als nach unserem deutschen Verständnis - nicht von den Erfolgsaussichten der Hauptsache abhängt. Denn in der ablehnenden Entscheidung vom 25.06.2020 (Bl. 46 der Gerichtsakte), in der sich der Antragsteller gegen die Anordnung des Präfekten vom 13.05.2020 gewendet hat, wurde dem Antragsteller in Ziffer 1 Prozesskostenhilfe bewilligt, obwohl die Berufung in der gleichen Entscheidung zurückgewiesen wurde. Begründet wurde die Bewilligung von Prozesskostenhilfe auf S. 3 der Entscheidung vielmehr mit der Tatsache, dass es sich um ein Eilverfahren handelte und das Verfahren für die Zukunft des Antragstellers von großer Bedeutung ist.
21
cc. Die vom Antragstellerbevollmächtigten vorgelegte „Déclaration de domiciliation“ (Bl. 49 der Gerichtsakte) des französischen Innenministeriums („Ministère de l`Intérieur“) belegt auch kein Aufenthaltsrecht. Zum einen handelt es sich hierbei lediglich um eine Meldebescheinigung, die den Antragsteller zu dem unter Ziffer 3 (Versorgung im Krankheitsfall bzw. Eröffnung eines Bankkontos) bzw. Ziffer 4 (Sozialleistungen) der Bescheinigung Aufgeführtem berechtigt. Zum anderen ist als Ausgabedatum der Tag des 24.07.2019 und als Ablaufdatum der Tag des 24.07.2020 angegeben; diese Bescheinigung ist zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung also nicht mehr gültig.
22
dd. Die „Attestation de domiciliation“ (Bl. 51 der Gerichtsakte) der „Aurore Association“, die am 10.06.2022 ausgegeben wurde und bis 10.06.2023 gültig ist, bescheinigt dem Antragsteller ebenfalls kein Aufenthaltsrecht. Vielmehr handelt es sich lediglich um eine Wohnungsbescheinigung, die keinerlei Aussagen hinsichtlich des aufenthaltsrechtlichen Status trifft. Dementsprechend kann sich der Antragsteller in einem aufenthaltsrechtlichen Verfahren auch nicht darauf berufen, dass diese Bescheinigung bis 10.06.2023 gültig ist.
23
ee. Nichts anderes ergibt sich aus der vorgelegten „Attestation d‘Hébergement“ (Bl. 50 der Gerichtsakte) der „Aurore Association“, die am 01.07.2022 ausgegeben worden ist. Denn hierbei handelt es sich lediglich um eine Bescheinigung, dass der Antragsteller in der dort genannten Unterkunft untergebracht ist. Diese Bescheinigung trifft keinerlei Aussage über ein etwaiges Aufenthaltsrecht.
24
ff. Auch die „Attestation de demande d‘asile procedure accelerée Réexamen“ (Bl. 48 der Gerichtsakte) des Innenministeriums („Ministère de l‘Intérieur“), ausgestellt am 15.12.2020, bescheinigt dem Antragsteller kein Aufenthaltsrecht. Insbesondere war diese Bescheinigung über den Asylfolgeantrag im Eilverfahren nur bis 14.06.2021 gültig.
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Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass aus dem Umstand, dass der Antragsteller eine Unterkunft und eine Arbeitsstelle in Frankreich hat, nicht auf ein Aufenthaltsrecht geschlossen werden kann. Zumal den Betroffenen im französischen Asylsystem der Zugang zum Arbeitsmarkt sehr zügig ermöglicht und für eine Unterbringung gesorgt wird (dazu VG Würzburg, B.v. 02.03.2020 - W 8 S 20.50083 - juris Rn. 16, 18).
26
2. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich darüber hinaus nicht die Konsequenz, dass dem Antragsteller vorrangig die freiwillige Rückkehr nach Frankreich zu ermöglichen bzw. die Abschiebung dorthin anzudrohen wäre. Denn hierfür ist gem. § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bzw. Art. 6 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie notwendig, dass der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis hat, was hier gerade nicht der Fall ist (zum Ganzen auch VG Freiburg, B.v. 07.01.2022 - 10 K 38/20 - juris Rn. 3). Zwar ist der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie („Aufenthaltstitel oder sonstige Aufenthaltsberechtigung“) weit zu fassen. Davon erfasst ist jede Berechtigung, mit denen ein Mitgliedstaat das Recht auf legalen Aufenthalt gewährt; eine Duldung reicht hierfür indes nicht aus (Lutz in Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3rd Edition 2022, Part C II Art. 6 Rn. 13; VGH Mannheim, B.v. 23.02.2021 - 12 S 603/21 - juris Rn. 9). Der Antragsteller hat jedoch - wie oben ausgeführt - kein Aufenthaltsrecht, sondern befindet sich im Gerichtsverfahren betreffend den Asylfolgeantrag und ist damit auch in Frankreich vollziehbar ausreisepflichtig.
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Zu keinem anderen Ergebnis führt schließlich die Erklärung des Antragstellerbevollmächtigten, der Antragsteller wolle freiwillig nach Frankreich ausreisen und nicht in der Bundesrepublik verbleiben. Insbesondere sei darauf hingewiesen, dass dieser Vortrag angesichts des Aufgriffs in Stuttgart am 30.06.2022 und der Verbringung in die Abschiebehafteinrichtung … sowie der Erhebung des Eilantrags am 25.07.2022 nunmehr erst am 02.08.2022 und damit reichlich spät erfolgte.
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3. Darüber hinaus liegen nach dem Vortrag des Antragstellerbevollmächtigten keinerlei Anhaltspunkte für eine rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nach Serbien vor.
29
4. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffer 8.3 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.