Titel:
Beihilfe, Beihilfefähigkeit eines Hilfsmittels, Sondersteuerung für Rollstuhl (“munevo DRIVE“)
Normenketten:
BayBhV § 21 Abs. 1 S. 1
BayBhV Anlage 4 zu § 21 Abs. 1
Schlagworte:
Beihilfe, Beihilfefähigkeit eines Hilfsmittels, Sondersteuerung für Rollstuhl (“munevo DRIVE“)
Fundstelle:
BeckRS 2022, 25367
Tenor
Unter Abänderung des Bescheids des Beklagten vom 12. August 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2021 wird festgestellt, dass die Anschaffung einer Munevo-Smartglass-Steuerung für den Rollstuhl des Klägers beihilfefähig ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Beihilfe für die Anschaffung einer Rollstuhl-Sondersteuerung („munevo DRIVE“).
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1. Der im Jahr 1954 geborene Kläger leidet an den Folgen einer Querschnittslähmung im oberen Halswirbelbereich und ist vom Kopf abwärts komplett gelähmt. Er stand bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand als Steuerhauptsekretär im Dienste des Beklagten und ist beihilfeberechtigt (Beihilfebemessungssatz von 70 v.H.). Der Kläger benötigt eine 24-Stunden-Intensivpflege und verfügt über einen Elektrorollstuhl mit Kinnsteuerung; für beide Maßnahmen gewährt bzw. gewährte der Beklagte Beihilfeleistungen. Zusammen mit seinem Beihilfeantrag vom 14. Juli 2021 reichte der Kläger bei dem Beklagten einen Kostenvoranschlag für eine Sondersteuerung „munevo DRIVE“ ein. Beigefügt waren die Verordnung des Facharztes für Allgemeinmedizin … vom 8. Juli 2021 („Umversorgung auf Munevo-Drive proportionale Kopfsteuerung über Smartglass für elektrischen Rollstuhl nach erfolgreicher Erprobung“, Diagnose: G83.9) und der Kostenvoranschlag der Firma …, …, vom 12. Juli 2021, in dem Folgendes ausgeführt ist:
„Herr S. ist auf die Umversorgung auf die Smartglass-Steuerung angewiesen, da er starke Schmerzen bei der Nutzung der Kinnsteuerung hat sowie das Tracheostoma verdeckt ist und im Notfall nicht schnell genug erreicht werden kann. Somit ist ein selbstständiges Fahren des Elektrorollstuhls kaum mehr zulässig und die Eigenmobilität ist kaum gegeben. Er benötigt die Smartglass-Steuerung, damit er selbstständig und sicher seinen Alltag absolvieren kann. Somit ist die Versorgung (…) nach SGB V § 27 die optimale sowie wirtschaftlichere Hilfsmittelversorgung.“
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Mit Bescheid vom 12. August 2021 lehnte der Beklagte eine Beihilfegewährung für die Sondersteuerung ab, weil diese in der Anlage 4 zu § 21 Abs. 1 der Bayer. Beihilfeverordnung (BayBhV) nicht aufgeführt sei.
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Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch (Schreiben vom 19.8.2021) und trug zur Begründung vor (Schreiben vom 25.8.2021), an seinem Rollstuhl befinde sich eine Kinnsteuerung, mit der er den Rollstuhl bewegen könne. Damit das Fahren mit dem Rollstuhl und die Bedienung des Buttons möglich sei, solle er immer die gleiche Sitzposition haben. Das sei jedoch durch die Instabilität des Körpers - bedingt durch den hohen Querschnitt - nicht immer machbar. Es passiere immer wieder, dass durch Bodenunebenheiten der Körper verrutsche und der Button für ihn nicht mehr erreichbar sei. Eine Anpassung des Steuerungsarms sei nur umständlich mit verschiedenen Inbusschlüsseln möglich. Durch die Steuerung sei zudem das Tracheostoma verdeckt, was einen Zugriff im Notfall erschwere. Mit der Sondersteuerung könne so etwas nicht mehr passieren. Die Sicherung seiner Eigenmobilität sei von sehr großer Bedeutung für ihn, weil er zwar voll gelähmt, aber geistig fit sei. Etwas selbständig erledigen zu können, z.B. im Garten oder zum PC zu fahren, den Fernseher umzuschalten oder seine Sitzposition zu verändern, seien die einzigen Tätigkeiten, die für ihn noch möglich seien.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober 2021 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Den Gründen ist zu entnehmen, dass Hilfsmittel nur dann beihilfefähig seien, wenn sie in der Anlage 4 zu § 21 Abs. 1 BayBhV aufgeführt seien, was bei der Sondersteuerung nicht der Fall sei. Der Kläger sei nach eigenen Angaben „voll gelähmt“ und könne, wie seine Ehefrau mitgeteilt habe, „so gut wie gar nichts machen - nicht mal an der Nase kratzen“. Auch wenn durch Bodenunebenheiten sein Körper verrutsche und der Button der Kinnsteuerung nicht erreichbar sein sollte, könne ihn die Betreuungskraft wieder aufrichten oder in einem Notfall eingreifen. Die Kostenzusage der privaten Krankenversicherung des Klägers binde die Beihilfestelle nicht.
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2. Bereits mit Schreiben vom 27. September 2021 hatte die Deutsche Krankenversicherung (DKV) dem Kläger eine Kostenübernahme für eine Sondersteuerung in Höhe von 3.089,25 Euro (= 30 v.H. von 10.297,51 Euro) zugesagt. Man habe mit dem Sanitätshaus einen individuellen Rabatt vereinbart, so dass sich der Kostenvoranschlag von 13.044,78 Euro auf 12.653,44 Euro mindere. Nicht erstattungsfähig seien die Kosten für die Bluetooth- und Phone-Steuerung in Höhe von 2.355,93 Euro, weil sie nicht medizinisch notwendig seien.
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Dem offensichtlich von der DKV eingeholten, undatierten Bericht des Fachberaters … ist zu entnehmen, dass am 21. September 2021 ein Beratungsgespräch mit der Ehefrau des Klägers erfolgt sei. Für die selbständige Mobilität stehe dem Kläger ein Elektrorollstuhl mit einer Kinnsteuerung zur Verfügung, mit der es zunehmend Probleme gebe. Bei einem Positionswechsel im Rollstuhl müsse jedes Mal die Position des Kinnjoysticks verändert werden. Dafür benötige man Werkzeug, was für die Ehefrau des Klägers sehr umständlich sei. Deshalb habe man oft auf die wichtige Umlagerung im Rollstuhl verzichtet. Wenn man den Rückenwinkel des Rollstuhls nach hinten fahre und der Kläger nur wenige Zentimeter nach unten rutsche, passe die Position der Kinnsteuerung nicht mehr. Dieses bekannte und häufig auftretende Problem könne man zwar durch die Montage der Kinnsteuerung an einem über die Schulter zu hängenden Harnisch lösen. Aber auch das funktioniere bei dem Kläger nicht, weil er sich seit Jahren eine sogenannte Hilfsatmung, indem er die Schultern beim Atmen hochziehe, angewöhnt habe. Diese Atmung helfe ihm zwar, die Sauerstoffsättigung ohne zusätzliche Sauerstoffgabe von außen im Blut konstant zu halten, führe aber dazu, dass die Kinnsteuerung bei jedem Atemzug angehoben werde und somit nicht funktioniere. Somit blieben nur noch zwei Möglichkeiten: Zum einen die angebotene Sondersteuerung und zum anderen die noch teurere Augensteuerung. Mit der angebotenen Steuerung könne der Kläger zusätzlich auch seinen Computer, sein Mobiltelefon und andere elektronische Geräte bedienen. Über Smarthome könne er dann auch Lichtschalter betätigen sowie Rollos, Türen und Fenster öffnen. Der Kläger sei in einer ersten Erprobung gut damit zurechtgekommen. Der Kostenvoranschlag sei nachvollziehbar und sei handelsüblich kalkuliert. Die Versorgung sei nachvollziehbar und notwendig, um dem Versicherten die selbständige Mobilität zu erhalten.
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3. Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 27. Oktober 2021, eingegangen beim Bayer. Verwaltungsgericht Bayreuth am selben Tag, erhob der Kläger Klage und beantragte,
den Beklagten zu verpflichten, unter Abänderung seines Bescheides vom 12. August 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2021 dem Beihilfeantrag des Klägers vom 14. Juli 2021 für die Anschaffung einer Munevo-Smartglass-Steuerung für seinen Rollstuhl mit einem Betrag von 7.415,67 Euro stattzugeben.
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Zur Begründung führt der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsätzen vom 21. Dezember 2021 und vom 4. Mai 2022 aus, die Argumentation des Beklagten werde der Fürsorgepflicht des Dienstherrn nicht gerecht. Zwar sei die Sondersteuerung in der Anlage 4 zu § 21 Abs. 1 BayBhV nicht erwähnt, jedoch seien dort sowohl ein „Krankenfahrstuhl mit Zubehör“ als auch „Computerspezialausstattungen für Behinderte; Spezialhard- und -software“ als beihilfefähig verzeichnet. In der Rechtsprechung werde die Anschaffung eines Umweltkontrollsystems, mit dem eine vollständig gelähmte Person verschiedene Geräte bedienen könne, unter dem Aspekt der Fürsorgepflicht für beihilfefähig erachtet. So liege der Fall auch hier. Denn die Sondersteuerung diene dazu, dem Kläger einen letzten Freiraum für ein selbstbestimmtes Leben zu erhalten. Auch wenn er auf eine 24-Stunden-Betreuung angewiesen sei, würde ihm der letzte Rest an selbstbestimmter Lebensführung genommen, wenn er bei jedem Verrutschen seiner Sitzposition auf Hilfe angewiesen sei, um die Kinnsteuerung bedienen zu können. Zudem könne ihn die Betreuungsperson bei einem Verrutschen nicht wieder aufrichten, weil es aufgrund seines Körpergewichts und des Umstands, dass er das Aufrichten nicht aktiv unterstützen könne, regelmäßig der Mithilfe Dritter bedürfe. Nicht ohne Grund habe der Sachverständige die Maßnahme befürwortet. Es handele sich um kein Gefälligkeitsgutachten, weil die DKV und nicht der Kläger den Sachverständigen beauftragt habe.
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Mit Schriftsatz vom 25. Februar 2022 beantragte der Beklagte,
die Klage abzuweisen, und führte aus, bislang liege nur ein Kostenvoranschlag der Firma … vom 12. Juli 2021 sowie die Kostenzusage der DKV vom 27. September 2021 vor.
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Es sei bisher kein Kostennachweis erfolgt, so dass eine Beihilfegewährung grundsätzlich nicht möglich sei. Es gehe vielmehr darum, die grundsätzliche Beihilfefähigkeit der Steuerung festzustellen. Diese Beihilfefähigkeit sei nicht gegeben. Es ergebe sich auch keine andere Entscheidung, wenn man die Steuerung als Zubehör zu dem Elektrorollstuhl ansehe. Dem Kläger stehe bereits eine Steuerungsmöglichkeit (Kinnsteuerung) zur Verfügung; bei der begehrten Sondersteuerung handele es sich um eine andere Steuerungsart. Zudem stehe dem Kläger eine 24-Stunden-Pflegekraft zur Verfügung, deren Aufgabe es auch sei, ihm die Nutzung des Elektrorollstuhls nach seinen Wünschen zu ermöglichen. Darüber hinaus sei auch ein Verrutschen der „munevo DRIVE“ Sondersteuerung möglich. Man teile auch die Einschätzung der DKV, dass Teile der Steuerung (Bluetooth- und Phone-Steuerung) medizinisch nicht notwendig seien. Es sei nicht erkennbar, in wessen Auftrag der Fachberater seinen Bericht erstellt habe, so dass sich die Frage nach der Neutralität der Aussagen stelle. Zudem sei für die Empfehlung keine Begutachtung des Klägers selbst erfolgt; somit sei die Aussagekraft zusätzlich eingeschränkt. Aus der Kostenzusage der DKV lasse sich kein Beihilfeanspruch ableiten, weil es sich um unterschiedliche Sicherungssysteme handele.
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3. Mit Schriftsätzen vom 25. Februar 2022 und vom 4. Mai 2022 erklärten die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.
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4. Ergänzend wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Über die Klage konnte gem. § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten insoweit ihr Einverständnis erklärt haben.
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2. Nach § 88 VwGO darf das Gericht zwar über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtsschutzziel zu ermitteln (vgl. BVerwG, U.v. 3.7.1992 - 8 C 72/90 - juris Rn. 19 m.w.N.). Vorliegend begehrt der Kläger die Entscheidung über den Kostenvoranschlag der Firma … vom 12. Juli 2021, gerichtet auf die Gewährung von Beihilfeleistungen für die Anschaffung einer Sondersteuerung „munevo DRIVE“ in Bezug auf seinen Elektrorollstuhl. Das Gericht legt die Klage dahingehend aus, dass die Klägerseite mangels Vorliegens einer beihilfefähigen Rechnung nicht die Durchsetzung eines Leistungsbegehrens mittels einer Verpflichtungsklage, sondern die Feststellung der Beihilfefähigkeit der Maßnahme mittels einer Feststellungsklage gem. § 43 VwGO begehrt.
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3. Die so verstandene Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Der Kläger hat - entgegen der vom Beklagten vertretenen Rechtsauffassung im Bescheid vom 12. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Oktober 2021 - einen Anspruch auf Feststellung, dass die Anschaffung der Sondersteuerung „munevo DRIVE“ dem Grunde nach beihilfefähig ist.
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Grundsätzlich sind Aufwendungen des Klägers gemäß Art. 96 Abs. 3 Satz 1, Satz 2 Nr. 3 des Bayerischen Beamtengesetzes (BayBG) aufgrund des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 96 Abs. 1 Satz 1 BayBG beihilfefähig mit einem Bemessungssatz in Höhe von 70 v.H.
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Die vom Kläger begehrte Sondersteuerung „munevo DRIVE“ ist dem Grunde nach beihilfefähig. Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 BayBhV i.d.F. vom 18. August 2021 sind die Aufwendungen für Anschaffung oder Miete der in der Anlage 4 genannten oder vergleichbarer Geräte zur Selbstbehandlung und zur Selbstkontrolle, Körperersatzstücke sowie die Unterweisung im Gebrauch dieser Gegenstände beihilfefähig, wenn sie ärztlich in Schriftform verordnet sind; das gilt nicht für Gegenstände von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis oder Gegenstände, die der allgemeinen Lebenshaltung unterliegen.
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Unter den nicht in der Bayer. Beihilfeverordnung definierten Begriff der Hilfsmittel fallen alle Gegenstände, die, ohne Arzneimittel (§ 18 BayBhV) zu sein, zur Wiedererlangung der Gesundheit, zur Besserung oder Linderung von Leiden oder zum Ausgleich eines angeborenen oder erworbenen Körperschadens notwendig und deren Anschaffungskosten nicht Aufwendungen der allgemeinen Lebenshaltung sind (Mildenberger, Beihilferecht in Bund, Ländern und Kommunen, Stand: Januar 2022, Anm. 2 zu § 25 Abs. 1 BBhV und Anm. 2 zu § 21 Abs. 1 BayBhV). Nach den auch im Beihilferecht anwendbaren Grundsätzen zum Heil- und Hilfsmittelbegriff der gesetzlichen Krankenversicherung (Mildenberger, a.a.O., Anm. 3 zu § 25 Abs. 1 BBhV) ist umfasst der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck des Behinderungsausgleichs auch solche Hilfsmittel, die die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen, so dass ein Hilfsmittel von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren ist, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines körperlichen Freiraums im Nahbereich der Wohnung und das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen. Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums zählt u.a. die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. eines Schulwissens. Schließlich gehört zu den elementaren Grundbedürfnissen des täglichen Lebens auch ein persönlicher Freiraum, eine Intimsphäre, in der sich ein Mensch betätigen kann, ohne dabei von anderen beobachtet zu werden (st.Rspr. vgl. nur: BSG, U.v. 24.5.2006 - 3 B KR 16/05 R - juris Rn. 14; U.v. 24.1.1990 - 3/8 RK 16/87 - NJW 1991, 1564 f. = juris Rn. 18; Pitz in: Engelmann/Schlegel, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020, Stand: 9.8.2021, Rn. 34 ff. zu § 33 SGB V).
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Vor dem Hintergrund dieser Systematik ist eine Gesamtabwägung vorzunehmen, ob die Aufwendungen für den zu beurteilenden Gegenstand unter Berücksichtigung der genannten Beispielsfälle notwendig und angemessen sind, oder ob sie im Hinblick auf die genannten Ausschlussgründe - insbesondere weil die Gegenstände der allgemeinen Lebenshaltung dienen - von der Beihilfefähigkeit ausgeschlossen sind (VG Regensburg, U.v. 12.2.2019 - RO 12 K 17.2008 - juris Rn. 23; vgl. auch VGH BW, U.v. 10.10.2011 - 2 S 1369/11 - juris Rn. 27).
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Gemessen an diesen Grundsätzen handelt es sich bei der begehrten Sondersteuerung „munevo DRIVE“ um ein grundsätzlich beihilfefähiges und - wie sich aus der Verordnung des Facharztes für Allgemeinmedizin … vom 8. Juli 2021 ergibt - ärztlich verordnetes Hilfsmittel im Sinne der Anlage 4 zu § 21 Abs. 1 BayBhV.
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Der Beklagte weist zwar zutreffend darauf hin, dass die vorgenannte Sondersteuerung in dieser Positivliste nicht ausdrücklich aufgeführt ist. Dabei kann aber nicht unberücksichtigt bleiben, dass auch die Anlage 4 zu § 21 Abs. 1 BayBhV - vergleichbar mit der Positivliste in Anlage 11 zu § 25 Abs. 1 und 4 BBhV - Oberbegriffe enthält, die mehrere Ausführungen erfassen können, weil angesichts der schnellen Entwicklung neuer Produkte ein vollständiges Verzeichnis aller Hilfsmittel einschließlich aller Modelle und Modellvarianten weder möglich noch zweckmäßig ist. Es ist mithin in jedem Einzelfall zu prüfen und entscheiden, ob ein Gegenstand unter einen der Oberbegriffe der Anlage fällt (so: Mildenberger, Beihilferecht in Bund, Ländern und Kommunen, Stand: Januar 2022, Anm. 1 zu § 25 Abs. 1 BBhV). Demnach hat das Gericht aufgrund des Umstands, dass in der vorgenannten Positivliste sowohl das Hilfsmittel „Computerausstattung“ als auch das Hilfsmittel „Krankenfahrstuhl mit Zubehör“ aufgeführt sind und somit dem Grunde nach beihilfefähig sein können, unter Berücksichtigung des technischen Fortschritts keine Zweifel daran, dass die vom Kläger begehrte Sondersteuerung dem Grunde nach von der Anlage 4 der BayBhV erfasst wird. Die Steuerung ist ohne jeden Zweifel geeignet, die beeinträchtigten Körperfunktionen zu ermöglichen, zu ersetzen, zu erleichtern oder zu ergänzen. Sie dient ferner der Befriedigung von Grundbedürfnissen, wie z.B. der allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens bzw. der Erweiterung des durch die Behinderung eingeschränkten Freiraumes (so zur vergleichbaren Problematik im Rahmen von § 182b RVO (jetzt § 33 Abs. 1 SGB V): BSG U.v. 24.1.1990 - 3/8 RK 16/87 - NJW 1991, 1564 f. = juris Rn. 18).
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Soweit der Beklagte einwendet, man gewähre dem Kläger bereits Beihilfeleistungen für die Bereitstellung einer 24-Stunden-Pflegekraft und habe ihm Beihilfe für die Anschaffung eines elektrisch betriebenen Krankenfahrstuhls mit Kinnsteuerung gewährt, steht das angesichts der hier vorliegenden Besonderheiten des Einzelfalls dem Grunde nach einer Beihilfegewährung nicht entgegen.
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Aus den Ausführungen des von der privaten Krankenversicherung des Klägers eingeschalteten Technischen Beraters …, an dessen Sachkunde und Unparteilichkeit für das Gericht keine Zweifel bestehen, ist die derzeit vom Kläger verwendete Kinnsteuerung aufgrund der konkret vorliegenden Behinderung - Querschnittslähmung im oberen Halswirbelbereich - mit deutlichen Nachteilen behaftet. Die vom Sachverständigen überzeugend dargestellte Problematik eines Verrutschens der Kinnsteuerung bei Bodenunebenheiten, der nur mit größerem Aufwand durchzuführenden Nachjustierung der Kinnsteuerung und der nicht allein von der Pflegekraft zu bewältigenden Neupositionierung des Klägers im Rollstuhl macht deutlich, dass diese gravierenden Nachteile nur mit der begehrten Sondersteuerung verhindert bzw. ausgeglichen werden können. Zur Auffassung des Gerichts ist aufgrund der auch insoweit überzeugenden, detaillierten und in sich widerspruchsfreien Ausführungen des Technischen Beraters demnach im Fall des Klägers auch eine Befestigung der Kinnsteuerung an einem Harnisch nicht geeignet, diese elementaren Nachteile auszugleichen.
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Auch der Umstand, dass dem Kläger eine 24-Stunden-Pflegekraft zur Seite steht, steht der Beihilfefähigkeit der Sondersteuerung im vorliegenden Fall nicht entgegen. Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kläger zwar geistig fit ist, aufgrund seiner Lähmung aber unter massivsten körperlichen Einschränkungen leidet. Es mag zwar sein, dass nicht jede Querschnittslähmung einen Anspruch auf eine Beihilfegewährung für die hier streitgegenständliche Sondersteuerung begründet und dass der Beklagte dem Kläger bereits Hilfsmittel und Dienstleistungen zur Verfügung stellt bzw. gestellt hat. Das schließt aber nicht aus, dass darüber hinaus wegen der Besonderheiten des Einzelfalles, insbesondere der Art und Schwere der Erkrankung, weitere bzw. andere Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Denn zur Überzeugung des Gerichts ist die vom Kläger begehrte Sondersteuerung erforderlich und geeignet, den Umfang der Tätigkeiten, die der Kläger ohne Hilfe Dritter erledigen kann, spürbar zu erweitern und ihm dadurch - für seine Verhältnisse - substantielle Freiräume zu verschaffen. Unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls, vor allem der extremen Behinderung des Klägers, und nicht zuletzt auch im Lichte der Fürsorgepflicht des Dienstherrn (zu diesem Aspekt vgl. VG Hannover, U.v. 30.3.2017 - 13 A 6599/16 - juris Rn. 23 f.) ist die Anschaffung einer Sondersteuerung „munevo DRIVE“ vorliegend dem Grunde nach beihilfefähig. Das schließt zur Überzeugung des Gerichts auch die in dem Kostenvoranschlag enthaltene Bluetooth- und Phonesteuerung mit ein, weil hierdurch ohne Zweifel auch die Möglichkeit der Kontaktaufnahme - ohne Hilfe Dritter - und Kommunikation mit anderen Menschen (BSG, U.v. 24.5.2006 - 3 B KR 16/05 R - juris Rn. 14) ermöglicht bzw. spürbar erleichtert wird.
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4. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO). Der Einräumung einer Abwendungsbefugnis nach § 711 ZPO bedurfte es angesichts der - wenn überhaupt anfallenden - dann allenfalls geringen, vorläufig vollstreckbaren Aufwendungen der Beklagten nicht, zumal diese auch die Rückzahlung garantieren kann, sollte in der Sache eventuell eine Entscheidung mit anderer Kostentragungspflicht ergehen.
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5. Gründe für eine Zulassung der Berufung durch das Verwaltungsgericht nach § 124 Abs. 1, § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V. m. § 124 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 VwGO liegen nicht vor.