Titel:
Keine Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Motor EA 288 (hier: VW Golf)
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
ZPO § 148, § 251, § 522 Abs. 2
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a
VwVfG § 24 Abs. 1 S. 1, S. 2
Leitsätze:
1. Zu – jeweils verneinten – (Schadensersatz-)Ansprüchen von Käufern eines Fahrzeugs, in das ein Diesel-Motor des Typs EA 288 eingebaut ist, vgl. auch BGH BeckRS 2022, 11891; BeckRS 2022, 18404; OLG Koblenz BeckRS 2020, 6348; OLG München BeckRS 2022, 18805; BeckRS 2022, 23390; BeckRS 2021, 54742; BeckRS 2021, 54495; OLG Bamberg BeckRS 2022, 18709; BeckRS 2022, 25139 sowie BeckRS 2021, 55750 mit zahlreichen weiteren Nachweisen (auch zur aA) im dortigen Leitsatz 1. (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine wie auch immer geartete Bindungswirkung kommt einer an die (Medien-) Öffentlichkeit gerichteten Mitteilung des BGH (Pressemitteilung) nicht zu. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein unionsrechtlicher Anspruch auf Schadensersatz gegen den Fahrzeughersteller, wenn das Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstet ist, besteht allenfalls dann, wenn die EG-Typgenehmigung erwirkt worden ist, ohne dass die Genehmigungsbehörde vom Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung etwas wusste und diese Unkenntnis auf einer Täuschung der Genehmigungsbehörde beruht. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
4. Wenn das KBA als zuständige Typgenehmigungsbehörde nach eigener Prüfung selbst von der Zulässigkeit des „Thermofensters“ für ein Fahrzeug mit einem Dieselmotor des Typs EA 288 ausgeht, kann der Herstellerin keine andere Einschätzung abverlangt werden. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, arglistige Täuschung, sittenwidrig, Thermofenster, (kein) Rückrufbescheid, KBA, Aussetzung, Schlussanträge des Generalanwaltes
Vorinstanz:
LG Coburg, Endurteil vom 17.03.2022 – 51 O 558/21
Fundstelle:
BeckRS 2022, 25141
Tenor
1. Der Antrag des Klägers vom 03.08.2022 auf Aussetzung des Verfahrens und der (hilfsweise gestellt) auf Anordnung eines Ruhens des Verfahrens wird abgelehnt.
2. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Coburg vom 17.03.2022, Az. 51 O 558/21, wird zurückgewiesen.
3. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.4. Das in Ziffer 1. genannte Endurteil des Landgerichts Coburg ist vorläufig vollstreckbar.
5. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 19.345,26 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Senat sieht keinen Anlass, das vorliegende Verfahren gemäß § 148 ZPO analog bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) in dem dort anhängigen Verfahren C-100/21 auszusetzen.
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1. Eine Aussetzung des Rechtsstreits kommt zum einen nicht in Betracht, nachdem der Bundesgerichtshof die in dem Vorlagebeschluss des LG Ravensburg angesprochenen Fragen bereits geklärt und eine Vorlage an den Gerichtshof mehrfach ausdrücklich abgelehnt hat (BGH, Beschluss vom 26.01.2022, VII ZR 516/21, BeckRS 2022, 3676; Beschluss vom 23.03.2022, VII ZR 444/21, BeckRS 2022, 8312).
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a) Es entspricht der - für den Senat verbindlichen - höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass die von der Klagepartei genannten Vorschriften keine Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB sind und nur die nationalen Gerichte berufen und in der Lage sind, die betreffenden EU-Vorschriften unter das Konzept einer drittschützenden Norm zu subsumieren (BGH, Beschluss vom 04.05.2022, VII ZR 656/21, BeckRS 2022, 11994 Rn. 3; Beschluss vom 10.02.2022, III ZR 87/21, NVwZ 2022, 896 Rn. 12 ff., 17; vgl. auch OLG München, Beschluss vom 14.06.2022, 36 U 141/22, Seite 12).
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b) Soweit der Generalanwalt Rantos in seinen Schlussanträgen vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 (ECLI:ECLI:EU:C:2022:420) eine abweichende Ansicht vertritt, ist diese zum jetzigen Zeitpunkt weder für die deutschen Gerichte noch für den Gerichtshof rechtsverbindlich. Vielmehr erteilt der Gerichtshof von sich aus den Hinweis: „Die Schlussanträge sind für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe der Generalanwältin oder des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richterinnen und Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.“
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c) Auch die Würdigung der Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs Nr. 104/2022 vom 01.07.2022 zum Verfahren Via ZR 335/21 führt zu keinem anderen Ergebnis.
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Danach sollen den Gerichten und den Berufungsgerichten, die nach Veröffentlichung der Schlussanträge des Generalanwalts in dieser Rechtssache nunmehr auch aus Gründen der Gewähr effektiven Rechtsschutzes die vor ihnen eröffnete Tatsacheninstanz nicht schließen, sondern die Entscheidung des Gerichtshofs abwarten werden (vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2022 - 4 W 4/22, juris Rn. 42 ff.), durch die auf den 21.11.2022 terminierte mündliche Verhandlung in der Sache (Az. VIa ZR 335/21) so bald als möglich im Anschluss an eine Entscheidung des Gerichtshofs höchstrichterliche Leitlinien an die Hand gegeben werden.
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Diese Mitteilung durch die Pressestelle des BGH signalisiert, dass der Bundesgerichtshof gewillt ist, das genannte Verfahren noch im Jahr 2022 zu verhandeln, und dabei davon ausgeht, dass in der Zwischenzeit eine Entscheidung des Gerichtshofs vorliege.
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Eine wie auch immer geartete Bindungswirkung kommt dieser an die (Medien-) Öffentlichkeit gerichteten Mitteilung nicht zu. Die mitgeteilten Umstände sind allein für die Ermessensentscheidung der Gerichte im Rahmen einer Entscheidung nach § 148 ZPO (analog) von Bedeutung, indem das Gericht bei seiner Ermessensausübung die Erfolgsaussichten des anderen Verfahrens und die mit der Aussetzung eintretende Verfahrensverzögerung gegeneinander abzuwägen hat (BGH, Beschluss vom 07.05.1992, V ZR 192/91, NJW-RR 1992, 1149, 1150; BeckOK ZPO - Wendtland, Stand: 01.03.2022, § 148 ZPO Rn. 13). Dies zeigt auch die ausdrücklich in der Pressemitteilung zitierte Passage des Beschlusses des OLG Braunschweig vom 02.03.2022, Rn. 42 ff., welche gerade den rechtlichen Rahmen einer Ermessensentscheidung des Gerichts sowie den insoweit eingeschränkten Prüfungsmaßstab einer Beschwerde gegen eine solche Entscheidung behandelt.
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Nach alledem kommt auch eine „Zurückstellung“ des Verfahrens bis zur Entscheidung des BGH im Verfahren VIa ZR 335/21 nicht in Betracht (ebenso: OLG Bamberg, 3. Senat, Beschlüsse vom 27.07.2022, Az. 3 U 3/22, vom 28.07.2022, Az. 3 U 81/22 und 02.08.2022, Az. 3 U 68/22 und OLG Bamberg, 6. Senat, Beschluss von 03.08.2022, Az. 6 U 29/22).
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2. Überdies erscheint die Klage auch dann ohne Erfolgsaussichten, wenn der Senat der Auffassung des Generalanwalts Rantos folgen würde.
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a) Zwar hat der Generalanwalt im Ergebnis angenommen, dass das Unionsrecht auch die Interessen eines Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, schütze. Er hat diese Rechtsfolge jedoch von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht, insbesondere, dass die EG-Typgenehmigung erwirkt worden ist, ohne dass die Genehmigungsbehörde vom Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung etwas wusste (Rn. 48 ff. der Schlussanträge). Es ist demnach erforderlich, dass der Genehmigungsbehörde die unzulässige Abschalteinrichtung nicht bekannt war, und dass diese Unkenntnis auf einer Täuschung der Genehmigungsbehörde beruht (vgl. OLG München, Beschluss vom 14.06.2022, 36 U 141/22, dort Seite 12).
12
Für einen solchen Sachverhalt ist für die sog. Thermofenster nichts ersichtlich. Vielmehr war deren Implementierung lange vor Zulassung der Fahrzeuge mit Motoren des Typs EA 288 nicht nur dem KBA, sondern allgemein bekannt.
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b) Zudem wäre der Beklagten nicht einmal fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen.
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Aus dem Bericht der vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur eingesetzten Untersuchungskommission „Volkswagen“ vom April 2016 ist zu entnehmen, dass in dem hier fraglichen Zeitraum Thermofenster von allen Autoherstellern verwendet und mit dem Erfordernis des Motorschutzes begründet wurden. Nach Einschätzung der Untersuchungskommission handelt es sich bei der Verwendung eines Thermofensters angesichts der Unschärfe der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 715/2007, wonach zum Schutz des Motors vor Beschädigungen und zur Gewährleistung eines sicheren Fahrzeugbetriebs notwendige Abschalteinrichtungen zulässig sind, um keine eindeutigen Gesetzesverstöße, sofern ohne die Verwendung des Thermofensters dem Motor Schaden drohe und „sei dieser auch noch so klein“ (vgl. BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, S. 123).
15
Nach der Mitteilung der Europäischen Kommission vom 19.07.2008 (Mitteilung über die Anwendung und die künftige Entwicklung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über Emissionen von Fahrzeugen für den Leichtverkehr und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen (Euro 5 und Euro 6), 2008/C 182/08) waren trotz der erhöhten NOx-Emissionen bei niedrigen Temperaturen keine Messungen vorgesehen. Die Hersteller waren auch nicht verpflichtet, Informationen über das Emissionsverhalten von Dieselfahrzeugen bei niedrigen Temperaturen zur Verfügung zu stellen (dort Ziffer 7). Das Vorhandensein eines Thermofensters war also dem KBA als Typgenehmigungsbehörde bekannt, wenngleich es keine Beschreibung über die exakte Wirkungsweise mangels entsprechender Verpflichtung erhalten hat. Unter diesen Umständen durfte sich die Beklagte grundsätzlich darauf verlassen, dass das KBA im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG eine Ergänzung verlangen würde, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit des Thermofensters in dem betreffenden Fahrzeug zu prüfen. Anderenfalls durfte sich die Beklagte auf die Prüfungskompetenz des KBA als Genehmigungsbehörde verlassen und ohne Verschulden von der Zulässigkeit ihres Vorgehens ausgehen.
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Wenn also das KBA als zuständige Typgenehmigungsbehörde nach eigener Prüfung selbst von der Zulässigkeit des „Thermofensters“ für das streitgegenständliche Fahrzeug VW Golf mit einem Dieselmotor des Typs EA 288 ausgeht, kann der Beklagten keine andere Einschätzung abverlangt werden. Selbst wenn also entgegen der Ansicht der Beklagten und des KBA eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegen sollte, liegt ein schuldhaftes Verhalten der Beklagten nicht vor. Unter diesen Umständen kommt deshalb auch eine Aussetzung nicht in Betracht (ebenso: OLG Bamberg, 3. Senat, Beschlüsse vom 27.07.2022, Az. 3 U 3/22, vom 28.07.2022, Az. 3 U 81/22 und 02.08.2022, Az. 3 U 68/22 und OLG Bamberg, 6. Senat, Beschluss von 03.08.2022, Az. 6 U 29/22).
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3. Die Anordnung eines Ruhens hat schon deshalb zu unterbleiben, weil es an den gemäß § 251 ZPO erforderlichen Anträgen der Parteien fehlt. Außerdem sieht der Senat keinen wichtigen Grund bzw. hält eine solche Anordnung auch nicht für zweckmäßig. Auf die obigen Ausführungen zum Antrag auf Aussetzung kann Bezug genommen werden.
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Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts Coburg vom 17.03.2022, Az. 51 O 558/21, war gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
19
Zur Begründung wird auf den vorausgegangenen Hinweisbeschluss des Senats vom 21.06.2022 Bezug genommen. Die Ausführungen des Klägers in der Stellungnahme vom 03.08.2022 zu dem Hinweisbeschluss des Senats, die der Senat zur Kenntnis genommen und erwogen hat, geben auch nach nochmaliger Prüfung der Sach- und Rechtslage keine Veranlassung. Tatsächlich beziehen sich die Ausführungen nicht, jedenfalls nicht erkennbar, auf hiesigen Hinweisbeschluss, sondern wiederholen bekannte Behauptungen und Rechtsansichten der Klägerseite zu Fahrzeugen, in denen sich Motoren des Typs EA 288 befinden. Zu den Darstellungen und Rechtsfragen wurde bereits Stellung genommen. Anlass zu erläuternden Wiederholungen oder Ergänzungen sieht der Senat nicht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils basiert auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.