Inhalt

LG Bamberg, Endurteil v. 30.05.2022 – 43 O 77/22
Titel:

VW-Dieselskandal: Keine Schadenersatzansprüche bei Motortyp EA 288 (hier: VW Golf Highline 2.0 TDI)

Normenketten:
BGB § 31, § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
Leitsätze:
1. Zu – jeweils verneinten – (Schadensersatz-)Ansprüchen von Käufern eines Fahrzeugs, in das ein Diesel-Motor des Typs EA 288 eingebaut ist, vgl. auch BGH BeckRS 2022, 11891; BeckRS 2022, 18404; OLG Koblenz BeckRS 2020, 6348; OLG München BeckRS 2022, 18805; BeckRS 2022, 23390; BeckRS 2021, 54742; BeckRS 2021, 54495; BeckRS 2021, 54503; OLG Frankfurt a. M. BeckRS 2020, 46880; OLG Stuttgart BeckRS 2021, 3447; OLG Bamberg BeckRS 2022, 18709; BeckRS 2022, 25139; BeckRS 2022, 25141 sowie BeckRS 2021, 55750 mit zahlreichen weiteren Nachweisen (auch zur aA) im dortigen Ls 1; anders durch Versäumnisurteil OLG Köln BeckRS 2021, 2388. (redaktioneller Leitsatz)
2. Es gibt keinerlei greifbare Anhaltspunkte dafür, dass der Motor EA 288 mit einer Prüfstandserkennungssoftware mit Umschaltlogik ausgestattet ist. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das Vorhandensein einer Zykluserkennung im Fahrzeug allein begründet für sich genommen nicht das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung; entscheidend ist, ob beim Erkennen des Prüfstands die Abgasreinigung grenzwertrelevant optimiert wird.  (Rn. 51 – 52) (redaktioneller Leitsatz)
4. Jedenfalls zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs ist eine Auslegung des Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) 715/2007, wonach ein „Thermofenster“ eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, nicht unvertretbar gewesen. (Rn. 68) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, sittenwidrig, (kein) Rückrufbescheid, Umschaltlogik, Thermofenster, Lenkwinkelerkennung, Drehzahl-Spanne, Fahrkurvenerkennung
Rechtsmittelinstanz:
OLG Bamberg, Beschluss vom 29.08.2022 – 10 U 65/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 25135

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 12.280,45 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Pkws.
2
Die Beklagte ist eine große Auto- und Motorenherstellerin, die u.a. den Dieselmotor mit der Bezeichnung EA 288 entwickelt und produziert hat, der in zahlreichen von ihr produzierten und in den Verkehr gebrachten Fahrzeugserien verbaut ist, so auch dem streitgegenständlichen Fahrzeug.
3
Der Kläger erwarb im September 2018 bei der … in Lohr am Main einen gebrauchten Pkw VW Golf Highline 2.0 TDI zum Preis von 14.600, - € brutto. Beim Erwerb wies der Pkw einen km-Stand von 122.500 km auf (Anlage K 1).
4
Das Fahrzeug verfügt über eine gültige Typengenehmigung nebst Zulassung und wird vom Kläger seit Erhalt privat genutzt. Im Schluss der mündlichen Verhandlung hatte es einen kmStand von 155.244 km.
5
Im Motor des Fahrzeugs ist eine sog. Zykluserkennung verbaut, die das Durchfahren des NEFZ - Prüfstands erkennt.
6
Mit außergerichtlichem Schreiben vom 18.11.2021 (Anlage K 9) hat der rechtsanwaltlich vertretene Kläger die Beklagte unter Fristsetzung zum 02.12.2021 erfolglos zur Zahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs aufgefordert.
7
Der Kläger stützt sein Begehren insbesondere auf § 826 Abs. 1 BGB.
8
Der Kläger behauptet, ihm sei es bei Erwerb des Fahrzeugs insbesondere darauf angekommen, dass er mit dem Fahrzeug in Umweltzonen von Großstädten fahren dürfe und er habe das Fahrzeug in der Erwartung erworben, dass er ein technisch einwandfreies und gerade betreffend die Motorsteuerung den gesetzlichen Bestimmungen entsprechendes Fahrzeug erwerbe. In Kenntnis der tatsächlichen Umstände hätte er das Fahrzeug nicht gekauft.
9
Der Kläger meint, in dem Fahrzeug sei eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 eingebaut und behauptet hierzu wie folgt:
„Die - unstreitig vorhandene - Zykluserkennung führe dazu, dass die Motorsteuerung auf dem Prüfstand in einen Modus geschaltet werde, in dem die Abgasreinigung insoweit gewährleistet wird, dass die gesetzlichen Grenzwerte eingehalten werden, während im regulären Straßenbetrieb ein anderer Modus eingesetzt werde, in dem die gesetzlichen Grenzwerte um ein Vielfaches überschritten werden.“
10
Konkret werde die Abgasrückführungsrate reduziert oder die Abgasrückführung vollständig ausgeschaltet, wenn
- eine bestimmte Temperatur unter- oder überschritten werde und/oder
- durch das Lenkrad der Lenkwinkel von Quer- oder Längsbeschleunigung über den Winkel von 15° hinausbewegt wird und/oder
- der Motor des Fahrzeugs einen vorgegebenen Zeitraum lang gelaufen ist und/oder
- der Motor eine durch die Software vorgegebene Motordrehzahl (UpM) oder DrehzahlSpanne erreicht und/oder
- ein bestimmter Getriebegang eingelegt wird und/oder
- der Unterdruck im Einlass einen gewissen Wert unter- oder überschreitet und/oder
- eine bestimmte Außentemperatur unter- oder überschritten wird (Thermofenster) und/oder
- andere durch die Software vorgegebenen Bedingungen eintreten, die Rückschluss auf Prüfsituationen ermöglichen.
11
Das Fahrzeug verfüge also über zwei Betriebsmodi, wobei allein der auf dem Prüfstand genutzte Betriebsmodus die gesetzlichen Abgasgrenzwerte einhalte.
12
Konkrete Anhaltspunkte für die Richtigkeit dieses Sachvortrags seien diverse Presseberichte; strafrechtliche Ermittlungen gegen andere Konzernmarken (insb. die Audi AG); interne Ermittlungen der Beklagten, deren Ergebnis nicht mitgeteilt werde; die Messungen der Untersuchungskommission Volkswagen zum EA 288 im Jahre 2016; die festgestellt haben, dass die Stickoxid-Messergebnisse auf der Straße bis zu 10x höher liegen als auf dem Prüfstand; der Rückruf des KBA bzgl. des VW Touareg 3.0 im Jahre 2017 sowie fortdauernde Ermittlungen des KBA zu anderen Modellen; Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Braunschweig; die Meinung mehrerer Experten und in anderen Verfahren ergangene Beweisbeschlüsse.
13
Der Kläger meint, die Beklagte könne sich bzgl. keiner der genannten Abschalteinrichtung auch nicht auf die Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 berufen. Die Beklagte habe insoweit schon nicht konkret vorgetragen, welche konkreten Bauteile mit den Abschalteinrichtungen geschützt werden müssen und dass eine anderweitige Konstruktion des Motors nicht möglich gewesen sei. Die Abschalteinrichtungen seien auch zum Bauteil- oder Unfallschutz nicht notwendig im Sinne der Norm, wobei die Ausnahmeregelung zudem eng auszulegen sei.
14
Folge des Vorgehens der Beklagten sei, dass die EG-Typgenehmigung erschlichen sei, ihr deshalb keine Legalisierungswirkung zukomme und mit einem Entzug der Zulassung zu rechnen sei.
15
Der Kläger behauptet schließlich, die Beklagte habe die Manipulationen allein aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen vorgenommen und habe auf Vorstandsebene Kenntnis von dem Einbau unzulässiger Abschalteinrichtungen gehabt.
16
Er meint, bei Berücksichtigung einer Nutzungsentschädigung sei diese auf Basis einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km zu berechnen, wobei die Klageforderung unter Berücksichtigung des km-Stands im Schluss der mündlichen Verhandlung berechnet wird.
17
Der Kläger beantragt zuletzt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an die Klagepartei 11.906,69 EUR zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 3.Dezember 2021, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs Volkswagen Golf Highline 2.0 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer … zu zahlen.
2.
festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme des in Ziffer 1. genannten Fahrzeuges in Annahmeverzug befindet.
3.
die Beklagte zu verurteilen, an die … Rechtsschutz-Versicherungs AG, U.straße 7, 8. M. zur Schadensnummer: … vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 566,34 EUR sowie an die Klagepartei vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 250,00 EUR, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten, sowie die Klagepartei von weiteren vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 237,76 EUR gegenüber der … Rechtsanwaltsgesellschaft mbH freizustellen.
18
Soweit der Kläger ursprünglich in Ziffer 1 wegen der zwischenzeitlich weiteren Fahrleistung einen höheren Klagebetrag gefordert hat, hat er die Klage in Bezug auf den Differenzbetrag teilweise für erledigt erklärt.
19
Die Beklagte sich der Erledigungserklärung nicht angeschlossen und beantragt,
die Klage abzuweisen.
20
Die Beklagte bestreitet die Kaufmotivation des Klägers mit Nichtwissen.
21
Zum Vorliegen unzulässiger Abschalteinrichtungen behauptet und meint die Beklagte wie folgt:
„Das Fahrzeug enthalte gerade keine Umschaltlogik wie beim Vorgängermodell EA 189. Die Beklagte nimmt insoweit Bezug auf - unstreitige - Tests des KBA im Zeitraum 2015 / 2016 und den diesbezüglich vorgelegten Prüfbericht (Anlage B 1), aus dem sich ergibt, dass das KBA u.a. acht repräsentative Fahrzeuge mit Motoren des Typs EA 288 auf unzulässige Abschalteinrichtungen oder unzulässige Prüfstands- und Zykluserkennungen hin untersucht hat und auf Grundlage eines detaillierten Testverfahrens (Durchfahren des NEFZ kalt und weiterer sechs NEFZnaher Prüfzyklen auf dem Prüfstand und im realen Fahrbetrieb, bei denen einzelne Parameter vom NEFZ abweichen) zu dem Ergebnis gelangt ist, dass das verwendete Abgasnachbehandlungssystem bei voller Funktionsfähigkeit aller abgasbehandelnden Bauteile die gesetzlich vorgegebenen Abgasgrenzwerte einhält.“
22
Im Fahrzeug sei lediglich eine - dem KBA spätestens mit Schreiben vom 29.12.2015 (Anlage B 5) bekannt gemachte - Fahrkurvenerkennung bzw. Zykluserkennung vorhanden gewesen, die aber grundsätzlich zulässig ist, weil daran nur die Deaktivierung bestimmter Funktionen (z.B. ESC und Airbags) auf dem Prüfstand geknüpft sei, nicht aber an eine Optimierung der NOxEmissionen auf dem Prüfstandsbetrieb.
23
Das Thermofenster sei technisch und physikalisch aus Zwecken des Motorschutzes unverzichtbar, im Übrigen arbeite es im Fahrzeug so, dass im Temperaturbereich zwischen - 24°C und +70°C die Abgasrückführung zu 100% aktiv ist und innerhalb dieses Temperaturbereichs auch keine Abstufung (sog. Abrampung) erfolge. Zudem handele es sich bei Einschätzung als Ausnahme nach Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 um eine vertretbare Rechtsauffassung, so dass ein sittenwidriges Handeln schon deshalb ausscheide.
24
Entsprechend habe das KBA auch schon mehrfach in amtlichen Auskünften bestätigt, dass Aggregate des Typs EA 288 keine unzulässigen Abschalteinrichtungen enthalten.
25
Der Herstellercode 23x4 betreffe lediglich eine freiwillige Servicemaßnahme, die im Rahmen des Nationalen Forums Diesel mit der Bundesregierung abgestimmt wurde. Der Kläger könne unproblematisch und ohne dadurch Nachteile zu erleiden auf diese Maßnahme verzichten. Die anderweitigen, von Klägerseite zitierten Einzelfallentscheidungen seien in Verkennung der Rechtslage erfolgt und nicht aussagekräftig.
26
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachvortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 30.05.2022 und den sonstigen Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

27
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
A.
28
Dem Kläger stehen gegen die Beklagte keine Schadensersatzansprüche wegen sittenwidriger Schädigung im Zusammenhang mit der behaupteten Manipulation der Motorsteuerungssoftware zu (§ 826 Abs. 1 BGB i.V.m. §§ 249 ff. BGB).
29
Die Voraussetzungen dieser Norm - wonach derjenige, der einem anderen in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich Schaden zufügt, zum Ersatz des Schadens verpflichtet ist - liegen nicht vor.
30
I. Der Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 kann im Einzelfall durchaus deliktische Schadensersatzansprüche begründen.
31
Voraussetzungen hierfür sind
a) der Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 durch die Beklagte, als deliktisches Verhalten (bewusstes Inverkehrbringen eines Fahrzeugs dessen technische Gegebenheiten objektiv einer Zulassung des Fahrzeugs entgegenstehen und bei dem trotz Tatbestandswirkung des Verwaltungsakts der EG-Typengenehmigung das Erschleichen einer objektiv rechtswidrigen Genehmigung durch den Fahrzeughersteller vorliegt, als deren Folge mit Betriebsuntersagung oder dem Widerruf der erschlichenen Typengenehmigung zu rechnen ist),
b) eine darauf beruhende Schädigung des Klägers, die regelmäßig darauf beruht, dass er einen wirtschaftlich nachteiligen - weil für ihn ungewünschten - Vertrag geschlossen hat,
c) die Sittenwidrigkeit des Handels der Beklagten, einschließlich einem Bewusstsein der Rechtswidrigkeit und d) ein Schädigungsvorsatz auf Seiten der Beklagten.
32
II. Diese Voraussetzungen hat der Kläger hier nicht hinreichend dargetan:
33
1. Die Behauptung des Klägers zum Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007, die das Durchfahren des NEFZ erkennt und dann im Prüfstandsbetrieb den Ausstoß von Stickoxiden so reduziert und optimiert, dass nur im Prüfstand die gesetzlichen Grenzwerte der EG-Typengenehmigung eingehalten werden, ist nicht hinreichend substantiiert.
34
a) Grundsätzlich ist es einer Partei nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Punkte zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann. Sie kann deshalb im Einzelfall genötigt sein, eine von ihr nur vermutete Tatsache zu behaupten und unter Beweis zu stellen. Unzulässig wird ein solches Vorgehen aber dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts oder die Richtigkeit ihres Vortrags willkürlich Vermutungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 16.04.2015 - IX ZR 195/14 = NJW-RR 2015, 829).
35
b) So liegt der Fall hier.
36
Für den Sachvortrag des Klägers - wonach das Fahrzeug mit der Prüfstandserkennungssoftware mit Umschaltlogik ausgestattet sei - gibt es keinerlei greifbaren Anhaltspunkte.
37
Der Kläger hat sich zur Stützung seiner Behauptungen letztlich nur auf folgende Gesichtspunkte berufen:
- Presse- und Fernsehberichterstattungen,
- strafrechtliche Ermittlungen
- interne Ermittlungen der Beklagten, deren Ergebnisse nicht öffentlich gemacht werden,
- Messungen der Untersuchungskommission Volkswagen im Jahre 2016, die gravierende Unterschiede zwischen Emissionen auf und außerhalb des Prüfstands ergeben haben,
- einen Rückruf bzgl. des VW Touareg 3.0 im Jahre 2017 - die Meinung mehrerer Experten zur Zykluserkennung
- die Beweiserhebungen in anderen Zivilverfahren
38
Diese Gesichtspunkte sind im konkreten Fall nicht geeignet, den Sachvortrag durch greifbare Anhaltspunkte für seine Richtigkeit zu untermauern:
39
(1) Die Presse- und Fernsehberichterstattung ist im Wesentlichen ohne Belang, zumal sie zum Großteil aus dem Jahre 2015 datiert und sich mit dem Motor des Typs EA189 befasst oder die Zykluserkennung und die Applikationsrichtlinie der Beklagten bzgl. des Motors EA 288 thematisiert, wobei das Vorhandensein der Zykluserkennung gerade unstreitig ist und die Applikationsrichtilinie mit den darin enthaltenen Angaben zu DeNOx- und DeSOx-Events im Wesentlichen für Motoren der Euro-6-Norm mit SCR-Katalysator (über den das streitgegenständliche Fahrzeug nicht verfügt) eine Rolle spielt.
40
(2) Strafrechtliche Ermittlungen - insb. die dargestellten gegen die Audi AG und deren Vorstandsmitglieder - stehen nicht im Zusammenhang mit dem Motor des Typs EA 288, sondern (gerichtsbekannt aufgrund einer Vielzahl von Verfahren gegen die Audi Ag) im Zusammenhang mit Motoren der Typen EA 896 und EA 897.
41
(3) Dass die Beklagte die Geschehnisse im Zusammenhang mit dem Motor EA 189 intern aufarbeitet, stellt offensichtlich keinen Anhaltspunkt dafür dar, dass die behauptete Abschalteinrichtung im Motor des Typs EA 288 vorhanden ist.
42
(4) Soweit der Kläger darauf verweist, dass die im Straßenbetrieb gemessenen NOx-Werte die für den Prüfstand vorgeschriebenen Grenzwerte deutlich übersteigen, kann dies auch nicht ausreichen, um den Rückschluss auf eine Prüfstandserkennungssoftware zu rechtfertigen. Es ist allgemein bekannt, dass der Straßenbetrieb mit der Prüfstandssituation nicht vergleichbar ist, sowohl in Bezug auf den angegebenen Kraftstoffverbrauch als auch in Bezug auf die Grenzwerte für Emissionen. Auf dem Prüfstand werden „ideale“, der Praxis nicht entsprechende und im Straßenbetrieb faktisch nicht reproduzierbare Situationen vorgegeben, etwa hinsichtlich der Umgebungstemperatur, der Kraftentfaltung (Beschleunigung und Geschwindigkeit), der Abschaltung von Klimaanlage usw., sodass der erzielte Wert zwar zu einer relativen Vergleichbarkeit der verschiedenen Fahrzeugfabrikate und -modelle geeignet ist, absolut genommen aber nicht mit dem Straßenbetrieb übereinstimmt. Im Straßenbetrieb liegen sowohl der Kraftstoffverbrauch als auch der Schadstoffausstoß erheblich höher, wie schon seit Jahren aufgrund entsprechender Tests etwa von Automobilclubs und der dadurch ausgelösten öffentlichen Diskussion bekannt ist.
43
Gerade deshalb hat der europäische Gesetzgeber auf Druck der Umweltverbände und Umweltparteien zwischenzeitlich den früher geltenden gesetzlichen Prüfzyklus NEFZ durch den sogenannten RDE-Test ersetzt, und zwar mit einem Konformitätsfaktor von zunächst 2,1. Danach wird zukünftig nicht nur auf dem Prüfstand, sondern auch im Straßenbetrieb gemessen, wobei im Straßenbetrieb allerdings der für den Prüfstand geltende Grenzwert zunächst noch um das 2,1-fache überschritten werden darf (vgl. https://www.kfzbetrieb.vogel.de/eubeschliesstgrenzwertefuerrealenfahrbetrieba-509842/ und https://www.kfzbetrieb.vogel.de/abgasskandalnichtnurbeivwa-506905/).
44
Angesichts des Umstands, dass im NEFZ Prüfzyklus gerade keine realistischen Werte für den Straßenbetrieb zu erwarten sind, kann allein der Hinweis darauf, dass verschiedene Prüforganisationen / Umweltverbände erhöhte Abgaswerte im Straßenbetrieb gemessen haben, unabhängig von der Frage, ob überhaupt das klägerische Fahrzeug hiervon konkret betroffen ist, nicht ausreichen, um die Schlussfolgerung der Klägerin als naheliegend erscheinen zu lassen, sein Fahrzeug sei mit einer Prüfstanderkennungssoftware versehen.
45
Der Testbericht des KBA vom April 2016 (Anlage B 1) steht der Annahme von greifbaren Anhaltspunkten für die Richtigkeit des klägerischen Sachvortrags gerade entgegen. Die Beklagte hat die darin enthaltenen Messmethoden auch im Vergleich gerade zu Fahrzeugen des Motortyps EA 189 - bei dem eine Umschaltlogik enthalten war - ausführlich dargestellt.
46
Auch die von Beklagtenseite vorgelegten Bestätigungen des KBA - wonach bei Fahrzeugen mit dem Motortyp EA 288 keine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt worden sei, mithin auch kein Rückrufbescheid existiert - sprechen insoweit eine deutliche Sprache. Soweit der Kläger hier die Arbeit des KBA als nicht aussagekräftig ansieht, kann dies nicht nachvollzogen werden.
47
(5) Der Rückrufbescheid des KBA zum Fahrzeug VW Touareg wurde nicht vorgelegt. Es ist bereits nicht ersichtlich, dass es sich insoweit ebenfalls um ein Modell der EU-5-Norm handelt.
48
Für das eigene Fahrzeug des Klägers liegt unstreitig kein amtlicher Rückrufbescheid vor, sondern die Beklagte stellt lediglich eine freiwillige Servicemaßnahme zur Verfügung. Angesichts eines immerhin bereits 8 Jahre alten Fahrzeugs kann die von Beklagtenseite dargelegte Möglichkeit - Anpassung der Software an aktuellen Stand - nicht von der Hand gewiesen werden.
49
(6) Entscheidungen von Gerichten in anderen Verfahren sind für das vorliegende Verfahren ohne Belang - zumal weder der konkrete Sachvortrag in den dortigen Verfahren (etwa durch Vorlage von Schriftsätzen) dargestellt wird, noch ersichtlich ist, dass es sich um das gleiche Fahrzeugmodell handelt.
50
Die Beklagte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass insoweit schlicht Einschätzungen der Gerichte vorliegen, die aus Sicht der Beklagten den Sachverhalt fehlerhaft gewürdigt haben.
51
(7) Das unstreitige Vorhandensein der Zykluserkennung im Fahrzeug allein begründet für sich genommen nicht das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung.
52
Insoweit folgt das Gericht der Auffassung des OLG Stuttgart, Urteil vom 04.05.2021 - 16a U 202/19 = zitiert nach juris, wonach eine Funktion ohne Einfluss auf die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte nach den normativen Vorgagen (Art. 3 Nr. 10 i.V.m. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 keine Abschalteinrichtung darstellt, sondern entscheidend ist, ob beim Erkennen des Prüfstands die Abgasreinigung grenzwertrelevant optimiert wird - der hier gerade streitige Punkt.
53
Die Zykluserkennung begründet auch keinen greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen der behaupteten Abschalteinrichtung.
54
Die Beklagte hat nämlich insoweit durch Erläuterung des Dokuments „Entscheidungsvorlage: Applikationsrichtlinie & Freigabevorgaben EA 288“ ausreichend dazu vorgetragen, dass eine Zykluserkennung dazu dient, das Durchfahren des NEFZ grundsätzlich zu erkennen, um bestimmte Funktionen (ESC, Airbags) zu deaktivieren, jedoch auf die Motorsteuerung kein Einfluss genommen wurde.
55
(8) Abschließend kommt hinzu, dass die Beklagte das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung substantiiert (s.o.) in Abrede stellt und dass dem Kläger eine Kenntniserlangung ansonsten nicht als unmöglich erscheint (etwa durch Einholung außerprozessualer technischer Stellungnahmen), so dass sich insgesamt der Sachvortrag des Klägers als bloße willkürliche Vermutungen „aufs Geratewohl“ bzw. „ins Blaue hinein“ darstellt (so in vergleichbaren Fällen etwa auch LG Mönchengladbach, Urteil vom 19.12.2018 - 6 O 40/18 = zitiert nach juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28.09.2018 - I 22 U 95/18 = zitiert nach juris; OLG Stuttgart, Urteil vom30.07.2019 - 10 U 134/19 = zitiert nach juris; OLG Celle, Urteil vom 13.11.2019 - 7 U 367/18 = zitiert nach juris).
56
Das Gericht hat bei der Würdigung des Sachvortrags als nicht hinreichend substantiiert auch die Entscheidung des BGH, Urteil vom 28.01.2020 - VIII ZR 57/19 = zitiert nach juris berücksichtigt, dort aber ging es um einen Fall kaufrechtlicher Gewährleistung und nicht - wie hier - der sittenwidrigen Schädigung, die mehr verlangt als nur das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung.
57
Der Sachvortrag des Klägers beruht letztlich auf Mutmaßung und Verdachtsäußerung, deren tatsächliche Grundlage erst im Prozess ermittelt werden soll (so etwa auch OLG Naumburg, Urteil vom 29.11.2019 - 7 U 52/19 in einem vergleichbaren Fall), was insbesondere dadurch deutlich wird, dass die konkreten technischen Gegebenheiten, die überhaupt zur Erkennung des Prüfstands dienen sollen völlig pauschal mit und/oder verknüpft werden und den Eindruck erwecken, dass alle in verschiedensten Fahrzeugtypen diskutierten technischen Aspekte (Zeitfenster, Lenkwinkel, Drehzahl, Getriebe etc.) wahllos nebeneinander gestelllt werden.
58
2. Inwieweit der Einbau eines sog. „Thermofensters“ Ansprüche nach § 826 Abs. 1 BGB begründet, ist durch die Entscheidungen des BGH (Beschluss vom 19.01.2021 - VI ZR 433/19, Urteil vom 13.07.2021 - VI ZR 128/20) bereits hinreichend geklärt:
59
a) Der BGH hat dabei folgendes ausgeführt:
„[…] reicht der Umstand, dass die Abgasrückführung im Fahrzeug des Klägers […] durch eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems bei einstelligen Positivtemperaturen reduziert und letztlich ganz abgeschaltet wird, für sich genommen nicht aus, um dem Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen ein sittenwidriges Gepräge zu geben. Dabei kann zugunsten des Klägers in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unterstellt werden, dass eine derartige temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung 715/2007/EG zu qualifizieren ist (vgl. zu Art. 5 der Verordnung 715/2007/EG auch EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 - C-693/18, Celex-Nr. 62018CJ0693). Wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, wäre der darin liegende Gesetzesverstoß auch unter Berücksichtigung einer damit einhergehenden Gewinnerzielungsabsicht der Beklagten für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz dieser Steuerungssoftware durch die für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedürfte es vielmehr weiterer Umstände.
… ist der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems nicht mit der Fallkonstellation zu vergleichen, die dem Senatsurteil vom 25. Mai 2020 (VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179) zugrunde liegt und in der der Senat das Verhalten des beklagten Automobilherstellers gegenüber dem klagenden Fahrzeugkäufer als sittenwidrig qualifiziert hat. Dort hatte der Automobilhersteller die grundlegende strategische Frage, mit welchen Maßnahmen er auf die Einführung der - im Verhältnis zu dem zuvor geltenden Recht strengeren - Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm reagieren würde, im eigenen Kosten- und Gewinninteresse dahingehend entschieden, von der Einhaltung dieser Grenzwerte im realen Fahrbetrieb vollständig abzusehen und dem KBA stattdessen zwecks Erlangung der Typgenehmigung mittels einer eigens zu diesem Zweck entwickelten Motorsteuerungssoftware wahrheitswidrig vorzuspiegeln, dass die von ihm hergestellten Dieselfahrzeuge die neu festgelegten Grenzwerte einhalten. Die Software war bewusst und gewollt so programmiert, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten wurden (Umschaltlogik), und zielte damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde ab (vgl. Senatsurteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179 Rn. 16-27). Die mit einer derartigen - evident unzulässigen - Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeuge hatte der Hersteller sodann unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber, die die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und die ordnungsgemäße Durchführung des Typgenehmigungsverfahrens als selbstverständlich voraussetzten, in den Verkehr gebracht (vgl. Senatsurteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179 Rn. 17, 23, 25). Ein solches Verhalten steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber in der Bewertung gleich (Senatsurteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179 Leitsatz 1 und Rn. 23, 25).
Bei dem Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems wie im vorliegenden Fall fehlt es an einem derartigen arglistigen Vorgehen des beklagten Automobilherstellers, das die Qualifikation seines Verhaltens als objektiv sittenwidrig rechtfertigen würde. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts unterscheidet die im streitgegenständlichen Fahrzeug eingesetzte temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet. Sie weist keine Funktion auf, die bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert und den Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert, sondern arbeitet in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise. Unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen (Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Widerstand, etc., vgl. Art. 5 Abs. 3 a) der Verordnung 715/2007/EG i.V. m. Art. 3 Nr. 1 und 6, Anhang III der Verordnung (EG) Nr. 692/2008 der Kommission vom 18. Juli 2008 zur Durchführung und Änderung der Verordnung 715/2007/EG (ABl. L 199 vom 28. Juli 2008, S. 1 ff.) in Verbindung mit Abs. 5.3.1 und Anhang 4 Abs. 5.3.1, Abs. 6.1.1 der UN/ECE-Regelung Nr. 83 (ABl. L 375 vom 27. Dezember 2006, S. 246 ff.)) entspricht die Rate der Abgasrückführung im normalen Fahrbetrieb derjenigen auf dem Prüfstand.
Bei dieser Sachlage wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur gerechtfertigt, wenn zu dem - hier unterstellten - Verstoß gegen die Verordnung 715/2007/EG weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, setzt die Annahme von Sittenwidrigkeit jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt. Dabei trägt die Darlegungs- und Beweislast für diese Voraussetzung nach allgemeinen Grundsätzen der Kläger als Anspruchsteller (vgl. Senatsurteil vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179 Rn. 35).“
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b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze - denen das Gericht folgt - ist hier die Sittenwidrigkeit des Handelns der Beklagten nicht schlüssig dargetan:
61
(1) Sittenwidrig ist ein Verhalten, das gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt, wobei dies aufgrund einer umfassenden Würdigung von Inhalt, Zweck und Beweggründen des Handels zu beurteilen ist. Nicht bei jedem Pflichtverstoß sind diese Voraussetzungen zu bejahen, sondern es muss eine besondere Verwerflichkeit hinzukommen. Dabei kann es auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Sie kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (BGH, Urteil vom 28.6.2016 = WM 2019, 1929 Rdn. 16, juris). Bezüglich des Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden kommt es wesentlich auf die berechtigten Verhaltenserwartungen im Verkehr an.
62
Mit der Inverkehrgabe des Fahrzeugs bringt der Hersteller konkludent zum Ausdruck, dass das Fahrzeug entsprechend seines objektiven Verwendungszwecks im Straßenverkehr eingesetzt werden darf, d. h. über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfügt, deren Fortbestand nicht aufgrund bereits bei der Auslieferung des Fahrzeugs dem Hersteller bekannte, konstruktive Eigenschaften gefährdet ist. Dies setzt voraus, dass nicht nur die erforderlichen Zulassungsund Genehmigungsverfahren formal erfolgreich durchlaufen wurden, sondern auch, dass die für den Fahrzeugtyp erforderliche EG-Typengenehmigung nicht durch eine Täuschung des zuständigen Kraftfahrtbundesamt erschlichen worden ist und das Fahrzeug den für deren Inhalt und Fortdauer enthaltenen Vorschriften tatsächlich nicht entspricht.
63
Wurde die Rechtslage fahrlässig verkannt, fehlt es an dem für die Sittenwidrigkeit in subjektiver Hinsicht erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit. Das auf Seiten der Beklagten das Bewusstsein eines möglichen Gesetzesverstoßes, verbunden mit einer zumindest billigenden Inkaufnahme desselben, vorhanden war, ist vom Kläger weder ausreichend dargetan noch ersichtlich.
64
Art. 5 Abs. 2 S. 2 a) VO (EG) 715/2007 sieht vor, dass die Verwendung einer Abschalteinrichtung zulässig ist, „wenn die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeuges zu gewährleisten“. Auf diese Erlaubnisgründe beruft sich die Beklagte im vorliegenden Fall, was sogar der Kläger selbst vorträgt.
65
Die Gesetzeslage ist entgegen der Ansicht des Klägers an dieser Stelle nicht unzweifelhaft und eindeutig.
66
Das OLG Stuttgart hat mit Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19 - hinsichtlich Pkw, die über ein solches „Thermofenster“ verfügen, Folgendes ausgeführt:
„Die Auslegung, dass Abschalteinrichtungen zum Motorschutz nur dann „notwendig“ sein können, wenn keine andere konstruktive Lösung möglich ist, auch wenn diese erheblich teurer sein sollte, ist möglich, aber letztlich nicht überzeugend. Gegen eine solche Auslegung spricht der Aufbau des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 sowie dessen Zweck. Gemäß Art. 5 Abs. 1 der Verordnung sind Fahrzeuge vom Hersteller so auszurüsten, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen der Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. Darüber hinausgehende Anforderungen werden von der Verordnung nicht vorgegeben. Abschalteinrichtungen sind generell unzulässig und nur in dem in der Verordnung in Art. 5 Abs. 2 beschriebenen Ausnahmefall erlaubt. Art. 5 Abs. 2 S. 2 a) will danach nicht die Entwicklung aufwendiger Konstruktionen eines Motors vorgeben, sondern für Motoren, die grundsätzlich den Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 genügen, zum Schutz vor Beschädigungen oder Unfall und für den sicheren Betrieb des Fahrzeugs einen Handlungsspielraum in Form einer ansonsten verbotenen Abschalteinrichtung einräumen. Dieses Ziel der Norm, den Fahrzeugherstellern ausnahmsweise eine konstruktive Freiheit einzuräumen, würde es widersprechen, dem Wort „notwendig“ in Art. 5 Abs. 2 S. 2 a einen eigenen, unter Umständen sogar über die Anforderung des Art. 5 Abs. 1 hinausgehenden Konstruktionsauftrag der Verordnung zu entnehmen. Mit dem Wort „notwendig“ wird lediglich klargestellt, dass die Abschalteinrichtung dem Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall und dem sicheren Betrieb dienen muss und eine reine Zweckmäßigkeit nicht genügt, sondern sie dafür erforderlich sein muss. Eine engere Auslegung würde im übrigen unter Umständen zu der gerade nicht gewollten Benachteiligung von Kleinwagenherstellern führen, wenn diese gezwungen wären, eine sehr aufwendige und sehr teure Lösung, soweit eine solche zur Verfügung steht, in ihre Fahrzeuge einzubauen, obwohl Kleinwagen auf günstige Verkaufspreise angewiesen sind und Kleinwagen im Vergleich zu Fahrzeugen mit größerem Gewicht und häufig größeren Motoren in der Regel dem Ziel der Verordnung, Emissionen zu reduzieren, eher entsprechen„(OLG Stutgart, Urteil vom 30.07.2019 - 10 U 134/19).
67
Auf Grundlage dieser rechtlichen Erwägungen - denen sich das Gericht anschließt und denen sich u.a. auch die Oberlandesgerichte Köln (Beschluss vom 04.07.2019 - 3 U 148/19 = zitiert nach juris), Koblenz (Urteil vom 21.10.2019 - 12 U 246/19 = zitiert nach juris), Celle (Urteil vom 13.11.2019 - 7 U 367/18 = zitiert nach juris) und München (Beschluss vom 29.09.2019 - 8 U 1449/19 = zitiert nach juris) angeschlossen haben - war es für die Beklagte zumindest nicht fernliegend, sich im Hinblick auf die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung auf den Motorschutz zu berufen. Zu diesem Ergebnis kommt auch der 5. Untersuchungsausschuss gemäß Art. 44 des GG des deutschen Bundestages (Drucksache 18/12900), wenn ausgeführt wird, dass „den Herstellern ein zu großer Auslegungsspielraum gegeben wird“. Es wird weiter ausgeführt, dass die Hersteller weitreichend das sogenannte Thermofenster definieren können, indem die Abschalteinrichtung nur innerhalb eines bestimmten Außentemperaturbereichs zum Tragen kommt, auch wenn eine weite Spannbreite der nicht eingeschlossenen Außentemperaturen eher die Regel denn die Ausnahme in Europa darstellt. Zurzeit sei es „der Hersteller, der durch seine Motorkonstruktion bestimme, wie häufig eine Abschalteinrichtung greifen müsse, damit die vorgegebene Lebensdauer des Motors erfüllt werden könne“ (Seite 537 der zitierten Drucksache).
68
Jedenfalls zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Fahrzeugs ist eine Auslegung des Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) 715/2007, wonach ein „Thermofenster“ eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, nicht unvertretbar gewesen (so auch etwa OLG Koblenz - 12 U 246/19, Hinweisbeschluss vom 26.08.2019 sowie vom 17.09.2019 unter 12 U 555/19), weshalb auch das Inverkehrbringen unter Verwendung einer entsprechenden Software auch nicht als sittenwidrig angesehen werden kann (so im Ergebnis auch Hinweis des OLG Naumburg vom 12.09.2019).
69
Die Annahme des Vorsatzes bzw. einer besonderen Verwerflichkeit steht hier entgegen, dass die zitierten Vorschriften der Verordnung EG Nr. 715/2007 keineswegs so klar formuliert sind, dass sich die Verwendung einer temperaturabhängigen oder sonst variablen Abgasrückführung eindeutig als unzulässig darstellen müsste (vgl. die obigen Ausführungen).
70
Selbst wenn man unterstellen wollte, die Beklagte habe bei der Konstruktion des streitgegenständlichen Fahrzeugs nicht die damals bereits verfügbaren bestmöglichen Technologien eingesetzt, um eine höhere - und vor allem durchgehend hohe - Abgasrückführungsrate und damit durchgängig geringere Stickoxid-Emissionen zu ermöglichen, gilt doch, dass die Einstufung einer temperaturabhängigen Abgasrückführungssteuerung als „unzulässige Abschalteinrichtung“ aufgrund der damals geltenden Bestimmungen nicht derart eindeutig war, dass eine andere Auffassung kaum vertretbar erschiene und daraus der Schluss gezogen werden müsste, die Beklagte habe die Gesetzeswidrigkeit ihres Vorgehens erkannt und folglich die Typengenehmigungsbehörde - und letztlich auch die Käufer - täuschen wollen (OLG Nürnberg, Urteil vom 19.07.2019 - 5 U 1670/18 = zitiert nach juris).
71
Weiterer Sachvortrag dazu, aus welchen Umständen, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen und aus dem sich ergibt, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen fehlt.
72
Zu Recht weist das OLG Koblenz, Urteil vom 21.10.2019 - 12 U 246/19 = zitiert nach juris, darauf hin, dass der Streit um die Zulässigkeit in Größe eines Thermofensters einen Expertenstreit darstellt, bei dem nicht nur Rechtsfragen, sondern technische Fragen eine Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund führt der Umstand, dass das im Fahrzeug der Kläger verbaute Thermofenster - dessen Funktion zudem ungenau beschrieben wird - möglicherweise in seiner technischen Gestaltung als unzulässig anzusehen sein könnte, nicht dazu, dass von einem Sittenverstoß ausgegangen werden könnte.
73
Der vorliegende Fall unterscheidet sich erheblich von der Konstellation des EA-189 Motors im, da es sich bei der dort verwendeten Software um eine solche handelt, welche das Durchfahren des Prüfstandes erkannte und einen allein dafür konzipierten Betriebsmodus verwendete, um eine besondere Emissionsarmut vorzutäuschen, um die Zulassung zu erlangen. Dies ist vorliegend aber nicht der Fall. 43 O 77/22 - Seite 12 - Nach alledem vermag das Gericht dem Vortrag des Klägers ein Bewusstsein der etwaigen Rechtswidrigkeit auf Seiten der Beklagten als Voraussetzung der Sittenwidrigkeit ihres Handelns wegen Einbau des sog. Thermofensters nicht zu entnehmen.
74
II. Mangels Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen des § 826 Abs. 1 BGB in Bezug auf unzulässige Abschalteinrichtung bzw. Schädigungsvorsatz besteht ein Schadensersatzanspruch bereits dem Grunde nicht, so dass auch der Hilfsanspruch sowie Folge- und Nebenansprüche gerichtet auf Zahlung von Zinsen und Rechtsanwaltskosten bzw. auf Feststellung bestehenden Annahmeverzugs und Vorliegens einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung nicht bestehen.
B.
75
Ein Anspruch nach §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB bzw. nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV scheidet ebenfalls aus Rechtsgründen aus (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20).
C.
76
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
D.
77
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 709 S. 1, 2 ZPO.
E.
78
Der Streitwert ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

- Antrag zu 1:

12.280,45 €

- Antrag zu 2:

0,00 € (BGH, XI ZR 109/17)

- Antrag zu 3:

0,00 € (§ 4 ZPO)

GESAMT: 12.280,45 €
Verkündet am 30.05.2022