Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 30.03.2022 – 6 K 18.31563
Titel:

Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG 

Normenkette:
AufenthG § 25 Abs. 4, Abs. 5
Leitsätze:
1. Dem Interesse, die Jahrgangsstufe 9 freiwillig zu wiederholen, kommt in der Abwägung kein höheres Gewicht zu als dem öffentlichen Interesse an der Ausreise eines Ausländers, zumal wenn er bereits über den Mittelschulabschluss verfügt und die Wiederholung allein der Aussicht auf dessen mögliche Optimierung dient. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aus einer langjährigen Verwurzelung in Deutschland kann sich ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot ergeben. Dies gilt allerdings nicht bei einem kürzeren Aufenthalt als von vier Jahren. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
langjährige Verwurzelung, inlandsbezogenes Abschiebungsverbot, Aufenthaltserlaubnis
Fundstelle:
BeckRS 2022, 24808

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Die Kläger sind türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Am 15. Juni 2018 reisten die Kläger zu 1) bis 4) aufgrund eines bis zum 19. Juni 2018 gültigen Visums in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 7. August 2018 Asylanträge. Diese wurden am 12. September 2018 abgelehnt; zugleich wurden die Kläger zu 1) bis 4) aufgefordert, innerhalb von dreißig Tagen nach unanfechtbarem Abschluss der Asylverfahren die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung angedroht. Hiergegen erhoben die Kläger zu 1) bis 4) Klage, die mit Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 20. Januar 2021 (Au 6 K 18.31563) abgewiesen wurde; der Bayerische Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung mit Beschluss vom 3. Mai 2021 ab (24 ZB 21.30301).
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Am 27. November 2018 wurde die Klägerin zu 5) geboren. Ihr seit 29. Januar 2019 als gestellt geltender Asylantrag wurde mit Bescheid vom 26. Februar 2019 abgelehnt. Zugleich wurde auch die Klägerin zu 5) aufgefordert, innerhalb von dreißig Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist die Abschiebung angedroht. Der Bescheid erwuchs am 15. März 2019 in Bestandskraft.
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Der Kläger zu 1) erhielt vom 17. Dezember 2018 bis zum 30. Juni 2019 eine Beschäftigungserlaubnis als Wagenreiniger von Zügen, vom 4. November 2019 bis zum 30. April 2020 als Reinigungskraft bei einem anderen Arbeitgeber und schließlich vom 1. Juni 2020 bis 31. Oktober 2020 bei einem weiteren Arbeitgeber als Gebäudereiniger. Letztere wurde mehrfach bis zum 30. November 2021 verlängert.
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Mit Schreiben vom 18. Mai 2021 beantragte die Bevollmächtigte der Kläger beim Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise einer Aufenthaltsgestattung sowie hilfsweise einer Duldung für die Klägerin zu 5) unter Verweis auf deren Minderjährigkeit und eines anhängigen Asylverfahrens beim Verwaltungsgericht Augsburg. Der Beklagte ersuchte die Klägerbevollmächtigte mit E-Mail vom 21. Mai 2021 um Angabe einer Rechtsgrundlage hinsichtlich einer Aufenthaltserlaubnis. Im Rahmen eines weiteren Schreibens an den Beklagten vom 31. Mai 2021 beantragte die Klägerbevollmächtigte für diese jeweils eine Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise eine Duldung. Dazu führte sie aus, der Kläger zu 1) arbeite in Vollzeit als Reinigungskraft und der Kläger zu 3) besuche die Schule und stehe vor seiner Qualifikationsprüfung, die im Juni und Juli 2021 erfolgen solle. Ebenfalls besuche der Kläger zu 4) die Schule; beide seien in Deutschland fest verwurzelt. Der Beklagte bat die Klägerbevollmächtigte daraufhin mit Schreiben vom 10. Juni 2021 sowie einem Telefonat vom 14. Juni 2021 um Angabe einer Rechtsgrundlage für die Aufenthaltserlaubnis, was diese zurückwies. Mit Schreiben vom 16. Juni 2021 wies der Beklagte auf das Trennungsprinzip nach § 7 AufenthG und § 8 AufenthG hin und erachtete das Vorbringen mangels Angabe einer Rechtsgrundlage nicht als Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Am 28. Juni 2021 beantragte die Klägerbevollmächtigte für den Kläger zu 4) erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise einer Duldung und gab an, er habe sich in Deutschland gut eingelebt und sei erfolgreich in der Schule. Der Kläger zu 1) stellte zudem mit Schreiben vom 14. Juni 2021 sowie 5. Juli 2021 einen Antrag an den Beklagten auf Genehmigung einer Ausbildungsduldung als Gebäudereiniger ab 1. September 2021 bei seinem bisherigen Arbeitgeber.
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Den Klägern wurde am 5. Juli 2021 eine bis zum 31. Oktober 2021 befristete Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG erteilt. Ein Antrag des Beklagten auf Passersatzpapierbeschaffung beim Landesamt für Asyl- und Rückführungen (LfAR) für die Kläger vom 13. Juli 2021 wurde am 15. Juli 2021 wieder storniert. Für die Kläger zu 1) bis 4) liegen gültige türkische Reisepässe vor, die Unterlagen für eine Passersatzpapierbeschaffung der Klägerin zu 5) versendete der Beklagte am 23. August 2021 an das LfAR. Bereits am 19. August 2021 stellte der Beklagte einen Antrag auf Durchführung einer Abschiebung der Kläger an das LfAR. Der Beklagte hörte den Kläger zu 1) mit Schreiben vom 23. August 2021 an und gewährte die Möglichkeit der Rücknahme seines Antrags auf Erteilung einer Ausbildungsduldung vom 5. Juli 2021 bis zum 15. September 2021 unter Hinweis auf die fehlenden Erteilungsvoraussetzungen.
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Am 29. August 2021 beantragte die Klägerbevollmächtigte beim Beklagten erneut, für den Kläger zu 1) eine Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise eine Ausbildungsduldung mit Beschäftigungserlaubnis sowie hilfsweise eine Duldung zu erteilen. Schließlich wurde mit Schreiben der Klägerbevollmächtigten vom 13. September 2021 eine Entscheidung über den Antrag vom 31. Mai 2021 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begehrt und dies auf dringende humanitäre und persönliche Gründe gestützt. Der Kläger zu 3) befinde sich im letzten Schuljahr, der Kläger zu 1) arbeite als Reinigungskraft und erfülle zudem die Voraussetzungen einer Ausbildungsduldung.
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Am 13. September 2021 stellte die Klägerbevollmächtigte einen isolierten Antrag auf Prozesskostenhilfe und beabsichtigte, eine Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Kläger, hilfsweise auf Verpflichtung des Beklagten, über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 31. Mai 2021 zu entscheiden, sowie einen Eilantrag, der auf die Untersagung aufenthaltsbeendender Maßnahmen und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gerichtet ist, zu erheben. Der Prozesskostenhilfeantrag wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 20. September 2021 (Au 6 K 21.1838 und Au 6 S 21.1839) abgelehnt; der Bayerische Verwaltungsgerichtshof wies eine dagegen erhobene Beschwerde mit Beschluss vom 10. Januar 2022 (10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736) zurück.
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Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2021, eingegangen am 10. Oktober 2021, erhob die Bevollmächtigte der Kläger Klage und beantragt,
Den Beklagten zu verpflichten, den Klägern zu 1) bis 3) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen;
Hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 31. Mai 2021 zu entscheiden.
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Zur Begründung haben die Kläger im Wesentlichen ausgeführt, es läge eine Untätigkeit im Sinne des § 75 VwGO bezüglich des am 31. Mai 2021 gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor. Die Kläger zu 3) und zu 4) hätten einen solchen Anspruch nach § 25 Abs. 4 AufenthG sowie aus § 25 Abs. 5 AufenthG, um ihre Schul- und Berufsausbildung zu beenden; beide gingen seit drei Jahren hier zur Schule, die Beendigung dieser stelle einen dringenden persönlichen Grund dar. Zudem sei eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, da die Schulausbildung der Kläger zu 3) und zu 4) noch nicht beendet und die Familieneinheit in Deutschland zu wahren sei sowie pandemiebedingte Abschiebungshindernisse vorlägen. Der Kläger zu 1) habe einen Anspruch auf Ausbildungsduldung bzw. Beschäftigungsduldung; die Zeiten einer Aufenthaltsgestattung seien hinsichtlich letzterer zu berücksichtigen. Einer Ausbildungsduldung stehe insbesondere der Versagungsgrund nach § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG nicht entgegen, da keine Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung des Klägers vor den Anträgen auf Ausbildungsduldung vom 14. Juni 2021 bzw. 5. Juli 2021 eingeleitet worden seien. Die Beantragung von Passersatzpapieren für alle Familienmitglieder am 13. Juli 2021, um die Ausbildungsduldung des Klägers zu 1) abzuwenden, sei rechtswidrig. Schließlich sei den Klägern aufgrund von Art. 8 EMRK im Hinblick auf ihre Verwurzelung und Integration eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Insbesondere der Kläger zu 1) habe seit fast drei Jahren in Deutschland gearbeitet und so den Lebensunterhalt der Familie bestritten. Ein Anordnungsgrund ergebe sich aus den mit Schreiben vom 23. August 2021 mitgeteilten veranlassten aufenthaltsbeendenden Maßnahmen. Zur Sicherung der Aufenthaltserlaubnis sei der weitere Aufenthalt der Antragsteller sicherzustellen.
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Zugleich stellten die Kläger Eilanträge gerichtet auf die Untersagung aufenthaltsbeendender Maßnahmen und begehrten hierfür sowie für das Klageverfahren die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Der Eilantrag sowie die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wurden mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 12. Oktober 2021 (Au 6 E 21.2068 und Au 6 K 21.2067) abgelehnt (vgl. Gerichtsakte Bl. 81 ff.).
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Der Beklagte beantragt,
Die Klage wird abgewiesen.
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Zur Begründung verwies der Beklagte im Wesentlichen auf das in den §§ 7 und 8 AufenthG verankerte Trennungsprinzip; ein Eingang eines rechtmäßigen Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei daher erst am 13. September 2021 erfolgt und die erforderliche Frist der Klageerhebung nach § 75 Satz 2 VwGO nicht eingehalten. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG scheide aufgrund der vollziehbaren Ausreisepflicht der Kläger aus. Hinsichtlich einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG stelle der am Ende des Schuljahres 2021/22 erwartete Schulabschluss des Klägers zu 3) keinen dringenden persönlichen Grund dar. Der angestrebte Schulabschluss sei nicht in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu erwarten; bereits zum Ende des Schuljahres 2020/21 habe festgestanden, dass die Familie vollziehbar ausreisepflichtig sei und seit diesem Zeitpunkt freiwillig ausreisen habe können. Ferner liege im Hinblick auf Art. 8 EMRK keine derartige Integration der Kläger vor, dass von faktischen Inländern ausgegangen werden könne, die ihre wesentliche (Lebens-)Prägung im Bundesgebiet erfahren hätten.
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Mit Beschluss vom 10. Januar 2022 (10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736) wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die von den Klägern erhobenen Beschwerden gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Augsburg (B.v. 12.10.2021 - Au 6 E 21.2068 und Au 6 K 21.2067) zurück (vgl. Gerichtsakte Bl. 114 ff.).
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Ausweislich der Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Rahmen des Beschwerdeverfahrens (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2022 - 10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736 - Rn. 19) habe die Mittelschule, welche der Kläger zu 3) besuche, dem Senat auf dessen Anfrage hin mitgeteilt, dass der Kläger zu 3) die Mittelschule erfolgreich abgeschlossen, aber am 29. Juli 2021 ein Antrag auf „Schulverlängerung“ gestellt habe. Am 16. Dezember 2021 habe die Mittelschule dem Senat zudem das Zeugnis des Klägers zu 3) über den erfolgreichen Abschluss der Mittelschule sowie dessen Antrag vom 29. Juli 2021 auf freiwilliges Wiederholen nach § 17 Abs. 1 MSO samt Genehmigung vom selben Tag vorgelegt.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über welche ohne die Kläger verhandelt und entschieden werden konnte, weil diese ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden sind (Gerichtsakte Bl. 144 f.), dass beim Ausbleiben eines Beteiligten ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Die Kläger haben weder einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, noch auf Verpflichtung des Beklagten zur Entscheidung über den am 31. Mai 2021 gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Kläger.
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Die erhobene Verpflichtungsklage in Form einer Untätigkeitsklage - der Ausländer hat vor dem Hintergrund des § 81 Abs. 1 AufenthG bzw. § 7 Abs. 1 AufenthG durch seinen Antrag zu bestimmen, für welchen Zweck er den Aufenthaltstitel begehrt (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 81 AufenthG Rn. 7), was vorliegend durch Auslegung des Schreibens vom 31. Mai 2021 jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen erscheint - ist unbegründet, da kein Anspruch der Kläger zu 1) bis 3) auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besteht und auch nicht - im Hinblick auf die im Schreiben vom 31. Mai 2021 bezeichneten Kläger zu 1) bis 5) - bezüglich der Kläger zu 4) und 5) ersichtlich ist.
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1. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis der Kläger nach § 25 Abs. 4 AufenthG scheidet aufgrund deren bestehender vollziehbaren Ausreisepflicht aus.
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§ 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG hat zur Tatbestandsvoraussetzungen, dass die den Anspruch geltend machende ausländische Person nicht vollziehbar ausreisepflichtig ist. Dies ist bei den Klägern jedoch nicht der Fall: Die Kläger sind gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG mit Ablauf der in den bestandskräftigen ablehnenden Asylbescheiden jeweils festgesetzten Ausreisefrist nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG in Verbindung mit § 67 Abs. 1 Nrn. 4 und 6 AsylG vollziehbar ausreisepflichtig geworden (BayVGH, B.v. 10.1.2022 - 10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736 - Rn. 36). Andere bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erlangte Aufenthaltstitel der Kläger bestehen nicht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 50 Abs. 1 AufenthG). Folglich fehlt es bereits an einer Tatbestandsvoraussetzung des § 25 Abs. 4 AufenthG.
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2. Auch ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist nicht gegeben.
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Nach § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Weder liegt aufgrund der Schulausbildung der Kläger zu 3) und 4) ein dringender persönlicher Grund im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG, der ein Abschiebungshindernis und mithin eine rechtliche Unmöglichkeit nach § 25 Abs. 5 AufenthG begründet, vor, noch folgt eine solche rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise der Kläger unter Berücksichtigung des Art. 8 EMRK bzw. aufgrund von Gesundheitsgefahren im Herkunftsstaat.
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a) Dringende persönliche Gründe liegen vor, wenn sich bei der erforderlichen Interessenabwägung ergibt, dass dem privaten Interesse des Ausländers an einem vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet ein deutlich höheres Gewicht zukommt als dem öffentlichen Interesse an der Ausreise. Die Beantwortung der Frage, ob dringende persönliche Gründe vorliegen, ist gerichtlich nachprüfbar und der auf der Rechtsfolgenseite erforderlichen Ermessensausübung vorgelagert. Ein dringender persönlicher Grund im Sinne der Vorschrift kann das Interesse sein, eine Schulausbildung abzuschließen, wenn sich die betroffene Person im letzten Schuljahr befindet, oder das Interesse, ein in wenigen Wochen zu Ende gehendes Schuljahr abzuschließen (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2022 - 10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736 - Rn. 25 f. m. w. N.).
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b) Unter Beachtung dieser Maßstäbe sind dringende persönliche Gründe als Voraus setzung auf der Tatbestandsseite des § 25 Abs. 5 AufenthG weder hinreichend substantiiert vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Mit Schriftsatz vom 31. Mai 2021 hat die Klägerbevollmächtigte vorgetragen, dass der Kläger zu 3) die Abschlussklasse der Mittelschule besuche, damit vor seiner Abschlussprüfung stehe und im Juni und Juli 2021 auch die zusätzliche Prüfung für die besondere Leistungsfeststellung ablegen wolle. Mit Schriftsatz vom 20. September 2021, mithin nach den Sommerferien, hat die darlegungs- und materiell beweispflichtige Klägerseite dann aber eine Bestätigung der Mittelschule über die Schulzugehörigkeit des Klägers zu 3) vorgelegt, wonach dieser (weiterhin) die Mittelschule besuche und sein Schulbesuch im Juli 2022 ende, ohne dies indes näher zu erläutern (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2022 - 10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736 - Rn. 27). Ausweislich der durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof im Rahmen des Beschwerdeverfahrens (B.v. 10.1.2022 - 10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736) gewonnenen Erkenntnisse habe der Kläger zu 3) laut seines Zeugnisses vom 28. Juli 2021 die Mittelschule mit dem Absolvieren der Jahrgangsstufe 9 erfolgreich im Sinne von § 19 MSO abgeschlossen. Er habe lediglich die zusätzliche Prüfung für die besondere Leistungsfeststellung in der Jahrgangsstufe 9 für den qualifizierenden Abschluss der Mittelschule nach § 23 MSO nicht bestanden. Am 29. Juli 2021 habe er einen Antrag auf „Schulverlängerung“, also auf freiwilliges Wiederholen nach § 17 Abs. 1 MSO, gestellt, der noch am selben Tag, einen Tag vor dem letzten Unterrichtstag vor den Sommerferien, genehmigt worden sei. Dem Vorbringen der Klägerseite ist nicht zu entnehmen, dass der Kläger zu 4) eine Abschlussklasse besucht (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2022 - 10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736 - Rn. 27).
23
Dem Interesse des Klägers zu 3), dass er die Jahrgangsstufe 9 freiwillig gemäß § 17 Abs. 1 MSO wiederholt, kommt in der Abwägung kein deutlich höheres Gewicht zu als dem öffentlichen Interesse an der Ausreise der Kläger. Der Kläger zu 3) verfügt bereits über den Mittelschulabschluss, die freiwillige Wiederholung dient allein der Aussicht auf dessen mögliche Optimierung. Auch dem Interesse des Klägers zu 4), das begonnene Schuljahr abzuschließen, kommt in der Abwägung gegenüber dem genannten Interesse kein deutlich höheres Gewicht zu. Entgegen dem Vorbringen der Klägerseite begründet der Umstand, dass eine Person (überhaupt) zur Schule geht, keine deutlich überwiegenden persönlichen Gründe. Dies gilt auch, wenn man berücksichtigt, dass sich das Schulsystem im Bundesgebiet von dem des Zielstaats unterscheidet. Der Einwand der Kläger, der Kläger zu 4) habe kaum eine Chance, die Aufnahmeprüfung zu schaffen, so dass „ein Anschluss nicht mehr möglich“ sei, ist pauschal und unsubstantiiert. Dies gilt auch, soweit die Kläger den Einwand dahingehend abschwächen, dass sich der Kläger zu 4) nicht der dem Alter entsprechenden Bildungsstufe anschließen könne. Auch dies begründet keine deutlich überwiegenden persönlichen Gründe (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2022 - 10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736 - Rn. 28). Schließlich ist auch der Umstand zu beachten, dass zu Beginn des Schuljahres 2021/2022 bereits seit 2. Juni 2021 eine vollziehbare Ausreisepflicht der Kläger zu 3) und zu 4) bestand und deshalb ihr Vertrauen darauf, dieses auch in Deutschland abzuschließen, weniger schutzwürdig ist (vgl. VG Augsburg, B.v. 12.10.2021 - Au 6 E 21.2068 und Au 6 K 21.2067 - Rn. 42).
24
c) Schließlich liegt auch kein Abschiebungshindernis vor, das sich aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergibt, die ihre Grundlage in Art. 8 EMRK aufgrund langjähriger Verwurzelung in Deutschland haben (BVerwG, B.v. 14.12.2010 - 1B 30/10 - juris Rn. 3). So können schützenswerte Bindungen im Bundesgebiet eine Abschiebung wegen Verwurzelung im Bundesgebiet nach Art. 8 EMRK aus rechtlichen Gründen unmöglich machen (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2022 - 10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736 - Rn. 34). Dass Art. 8 EMRK es gebieten könnte, schon bei einem kürzeren Aufenthalt als vier Jahren von einer Verwurzelung auszugehen, liegt allerdings regelmäßig fern (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2022 - 10 C 21.2544, 10 CE 21.2735 und 10 C 21.2736 - Rn. 34 m. w. N.). Dies ist auch vorliegend anzunehmen: Zwar mögen die Kläger deutsche Sprachkenntnisse erworben, sowie der Kläger zu 3) die Schule in Deutschland für rund drei Jahre besucht und der Kläger zu 1) hier eine Arbeitsstelle gefunden haben. Daraus folgt aber insbesondere hinsichtlich ihrer erst am 15. Juni 2018 erfolgten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und dem seit 3. Mai 2021 rechtskräftig abgeschlossen erfolglosen Asylverfahren noch keine derartige Integration, dass von faktischen Inländern ausgegangen werden kann, die ihre wesentliche (Lebens-)Prägung im Bundesgebiet erfahren haben (vgl. VG Augsburg, B.v. 12.10.2021 - Au 6 E 21.2068 und Au 6 K 21.2067 - Rn. 44). Die Kläger zu 1) bis 4) haben sich die meiste Zeit ihres Lebens im Herkunftsstaat Türkei aufgehalten und sind von dort geprägt. Diese Prägung haben sie auch der Klägerin zu 5) vermittelt.
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d) Im Hinblick auf die im Herkunftsstaat befürchteten Gesundheitsrisiken aufgrund der Corona-Pandemie sind die Kläger auf die rechtskräftig abgelehnten zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG zu verweisen (vgl. VG Augsburg, U.v. 20.1.2021 - Au 6 K 18.31563).
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3. Das Vorliegen der Voraussetzungen weiterer Aufenthaltstitel ist weder hinreichend substantiiert dargelegt noch anderweitig ersichtlich. Insbesondere folgt auch aus Art. 8 EMRK unmittelbar keine Aufenthaltserlaubnis: Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert keinem Ausländer das Recht, in ein bestimmtes Land einzureisen und sich dort aufzuhalten (vgl. EGMR, U.v. 11.6.2019 - 42305/18 - NVwZ-RR 2020, 707/710 Rn. 60).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.