Inhalt

VG Augsburg, Beschluss v. 15.06.2022 – Au 8 S 22.50148
Titel:

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
VO(EU) 604/2013 (Dublin III-VO)
Leitsatz:
Es bestehen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien. Das gilt auch für eine  Familie mit einem minderjährigen Kind.  (Rn. 31 und 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
vorläufiger Rechtsschutz, Afghanistan, Dublin-Verfahren, Abschiebungsanordnung nach Italien, Familie mit minderjährigem Kind, keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien, systemischen Mängel des Asylverfahrens, Italien
Fundstelle:
BeckRS 2022, 24496

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller wenden sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsanordnung nach Italien.
2
Der Antragsteller zu 1) und die Antragstellerin zu 2) sind miteinander verheiratet und haben einen Sohn, den am * in Afghanistan geborenen Antragsteller zu 3). Die Antragsteller sind afghanische Staatsangehörige vom Volksstamm der Hazara und konfessionslos.
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Die Antragsteller reisten am 27. September 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerten Asylgesuche, von denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 8. Oktober 2021 Kenntnis erlangte. Am 28. Dezember 2021 stellten die Antragsteller förmliche Asylanträge.
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Aufgrund der Eurodac-Treffer für Italien für den Antragsteller zu 1) (*) bzw. für die Antragstellerin zu 2) (*) lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates nach der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Das Bundesamt richtete daher am 1. Dezember 2021 gestützt auf Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO ein Übernahmeersuchen an Italien, das auch den Antragsteller zu 3) miteinbezog. Die italienischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 10. Dezember 2021 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO.
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Bei ihrer Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags vor dem Bundesamt am 17. März 2022 gaben der Antragsteller zu 1) und die Antragstellerin zu 2) u.a. an, dass keiner von beiden an einer Krankheit leide oder auf die Einnahme von Medikamenten angewiesen sei. Auch ihr Sohn sei gesund. Die Ausreise aus Afghanistan per Flugzeug sei von Italien veranlasst worden, nachdem die Taliban Kabul eingenommen hätten. Eine deutsche Maschine hätten sie zu dieser Zeit nicht besteigen bzw. den Kontakt zu den Italienern schneller herstellen können. Sie seien nach Rom gebracht worden. Am Flughafen seien ihnen Fingerabdrücke abgenommen worden. Eine Anhörung, so wie hier, hätten sie noch nicht gehabt. Sie seien damals unter dem Schutz des Roten Kreuzes gewesen. Die Dolmetscher des Roten Kreuzes hätten ihnen gesagt, dass sie selbst entscheiden könnten, wohin sie in Europa gehen wollten. Mit den italienischen Behörden hätten sie keinerlei Kontakt gehabt. Sie seien nicht gefragt worden, ob sie einen Asylantrag stellen wollen in Italien. Am Flughafen sei viel los gewesen. Sie hätten zwar einige Unterlagen unterschrieben, hätten aber nicht genau gewusst, was das genau gewesen sei. Mit Hilfe des Roten Kreuzes seien sie außerhalb von Rom zunächst in einem Zelt und nach Quarantäne in einem Haus mit weiteren afghanischen Familien in Turin untergebracht worden. Nach ein bis zwei Wochen hätten sie beschlossen, Italien zu verlassen, wo sie sich insgesamt einen Monat aufgehalten hätten. In Italien sei alles gut gewesen. In Deutschland habe die Antragstellerin zu 2) einen Bruder, der Antragsteller zu 1) einen Cousin. Beide hätten in Deutschland viele Freunde, bessere Unterstützung und eine bessere Zukunft für die Familie.
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Im Rahmen der Anhörung nach § 25 AsylG führten der Antragsteller zu 1) und die Antragstellerin zu 2) u.a. ihr Verfolgungsschicksal/ ihre sonstige Fluchtgeschichte aus.
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Mit Bescheid vom 25. Mai 2022 lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheides), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheides) und ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3 des Bescheides). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4 des Bescheides). Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde der Bescheid den Antragstellern am 31. Mai 2022 zugestellt.
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Hiergegen haben die Antragsteller am 1. Juni 2022 Klage vor dem Verwaltungsgericht Augsburg erhoben (Au 8 K 22.50147), über die noch nicht entschieden ist.
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Gleichzeitig begehren sie einstweiligen Rechtsschutz und beantragen,
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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Zur Begründung wurde Bezug genommen auf den Asylantrag.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Die Antragsgegnerin legte die Behördenakte vor und bezog sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren Au 8 K 22.50147, und die vorgelegte Behördenakte des Bundesamts Bezug genommen.
II.
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Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bleibt ohne Erfolg.
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1. Die Anträge sind zulässig, insbesondere statthaft. Die Klage der Antragsteller hat keine aufschiebende Wirkung (§ 75 AsylG). Nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG können Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe gestellt werden.
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2. Die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung sind jedoch unbegründet.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des vorliegend aus § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG folgenden gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung ganz oder teilweise anordnen, wenn das Interesse der Antragsteller, von der Vollziehung des Bescheides vorläufig verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Bescheides überwiegt. Nach dieser Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem Aussetzungsinteresse der Antragsteller, die sich maßgeblich an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientiert, fällt die Interessenabwägung zu Lasten der Antragsteller aus. Die Abschiebungsanordnung nach Italien erweist sich bei der im einstweiligen Rechtsschutz allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich als rechtmäßig. Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
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a) Die Abschiebung der Antragsteller nach Italien ist rechtlich zulässig und tatsächlich möglich.
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aa) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
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Vorliegend ist aufgrund der Erkenntnisse nach den Eurodac-Treffern über eine Antragstellung auf internationalen Schutz in Italien nach summarischer Prüfung im Eilverfahren für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller nach Maßgabe der Dublin III-VO nicht die Antragsgegnerin (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG), sondern vielmehr Italien nach Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO i.V.m. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat. Gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO ist Italien auch für den Antragsteller zu 3) zuständig. Soweit die Antragsteller gegenüber dem Bundesamt angaben, in Italien gar keinen Antrag gestellt, sondern nur ihre Fingerabdrücke (zu erkennungsdienstlichen Zwecken) abgegeben zu haben, so vermag die reine Behauptung nicht glaubhaft den Beweiswert der Eurodac-Treffer (in Verbindung mit den Angaben der italienischen Behörden im Rahmen der Zustimmung auf das Übernahmeersuchen) zu erschüttern (vgl. dazu auch Art. 23 Abs. 4 UAbs. 1, Art. 22 Abs. 3 Dublin III-VO i.V.m. Anhang II Verzeichnis der VO(EG) Nr. 1560/2003). Darauf, ob die Antragsteller in Italien einen Antrag stellen wollten oder nicht, kommt es insoweit nicht an. Insbesondere besteht kein Recht auf Wahl des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutzes zuständigen Mitgliedstaats.
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Die Zuständigkeit ist auch nicht auf Deutschland übergegangen. Die Antragsgegnerin hat die Wiederaufnahmegesuche rechtzeitig innerhalb der Frist des Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO gestellt. Italien ist auch aufnahmebereit, wie sich aus der Antwort vom 10. Dezember 2021 ergibt. Die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO war zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO noch nicht abgelaufen. Durch die Einlegung des Eilantrages vom 1. Juni 2022 wurde die sechsmonatige Überstellungsfrist zunächst unterbrochen (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.2016 - 1 C 15.15 - juris). Dem eingelegten Rechtsbehelf kommt insoweit nicht nur hemmende, sondern unterbrechende Wirkung zu (vgl. ebd.).
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bb) Die Zuständigkeit ist auch nicht nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen. Nach dieser Vorschrift wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat zuständig, wenn keine Überstellung an einen anderen Mitgliedstaat erfolgen kann.
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Gründe i. S.d. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO, die der Überstellung der Antragsteller nach Italien entgegenstehen, sind indes nicht ersichtlich. Diese Vorschrift setzt voraus, dass es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da er dort infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) oder Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ausgesetzt wäre. Derartige systemische Mängel, sind nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen weder bei der Durchführung von Asylverfahren, noch hinsichtlich des Aufnahmesystems in Italien festzustellen (vgl. zum Ganzen VG München B.v. 17.6.2021 - M 3 S 21.50230 - juris Rn. 20).
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Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 - juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Zwar ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Die nationalen Behörden und Gerichte sind aber nur bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die auf ein ernsthaftes Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GRCh hindeuten, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Diese müssen zudem eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die nur vorliegt, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass einem Asylbewerber gerade aufgrund seiner besonderen Schutzbedürftigkeit und unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not drohen würde, die es ihm nicht erlauben würde, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 92, 95; zum Ganzen VG München B.v. 17.6.2021 - M 3 S 21.50230 - juris Rn. 22).
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Um diese Vermutung zu widerlegen, müssten Umstände substantiiert vorgetragen und ggf. belegt werden, die eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Die Anforderungen hieran sind allerdings hoch. Im Hinblick auf das Ziel der Dublin III-VO, zügig und effektiv den für das Asylverfahren zuständigen Staat zu bestimmen, können geringfügige Verstöße hierfür nicht ausreichen. Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss vielmehr ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 - NVwZ 2012, 417, Rn. 80; VGH BW, U.v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 - juris Rn. 41; zum Ganzen VG München B.v. 17.6.2021 - M 3 S 21.50230 - juris Rn. 23).
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Diese Grundsätze konkretisierend hat der EuGH ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 91). Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne EGMR, U.v. 21.1.2011 - Nr. 30696/09 - M.S.S. - NVwZ 2011, 413 Rn. 342; zum Ganzen VG München B.v. 17.6.2021 - M 3 S 21.50230 - juris Rn. 24)
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Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 93). Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen (vgl. VG München B.v. 17.6.2021 - M 3 S 21.50230 - juris Rn. 25).
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cc) Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, wird nach Auffassung des Gerichts auf der Basis einer Gesamtwürdigung nach dem aktuellen Erkenntnisstand im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) die hohe Schwelle des Art. 4 GRCh, bei deren Überschreitung eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (unions-)rechtswidrig ist, nicht überschritten. Die Republik Italien ist als Mitgliedstaat der Europäischen Union an die europäischen Grundrechte (Art. 51 Abs. 1 GRCh) sowie an die EMRK gebunden. Deshalb spricht zunächst die durch das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens begründete Vermutung für die Zulässigkeit der Abschiebung in einen solchen Staat. Diese Vermutung ist nicht durch die Annahme systemischer Mängel des Asylverfahrens und/ oder der Aufnahmebedingungen entkräftet.
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Das entscheidende Gericht folgt insoweit der Beurteilung des EGMR, als dem für die Einhaltung und Auslegung europäischer Grundrechte maßgebenden Gericht. Dieser kam in seinem Urteil vom 23. März 2021 im Verfahren M.T. ./. Niederlande (Nr. 46595/19) bezüglich einer Abschiebung einer alleinstehenden Mutter mit zwei minderjährigen Töchtern im Alter von 6 und 8 Jahren zu dem Schluss, dass die gegenwärtigen Asylbedingungen Italiens bezüglich Ankunft und Einrichtungen dem von ihm im Urteil vom 4. November 2014 im Verfahren *./. Schweiz (Nr. 29217/12) geforderten „besonderen Schutz“ Asylsuchender mit spezifischen Bedürfnissen und extremer Verletzlichkeit gerecht werden (vgl. EGMR, U.v. 23.3.2021 - Nr. 46595/19 - M.T. ./. Niederlande - Rn. 49 ff.; vgl. zum Ganzen VG München B.v. 17.6.2021 - M 3 S 21.50230 - juris Rn. 27 ff.): Die aktuell erfolgten Änderungen der Rechtslage in Italien führten zu einer weitest gehenden Rückkehr zum vormaligen zweistufigen Aufnahmesystem von Antragstellern, die in Italien internationalen Schutz begehrten und stellten eine Abkehr von den mit dem sog. Salvini-Dekret einhergehenden Einschränkungen dar. Italien habe über das Gesetzesdekret Nr. 142/2015 vom 30. September 2016 die RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) und die RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) in nationales Recht umgesetzt. Die mit dem sog. Salvini-Dekret vom 5. Oktober 2018 erfolgte Einschränkung der Nutzung der sekundären Versorgungsebene ausschließlich für die Unterbringung unbegleiteter Minderjähriger sowie international Schutzberechtigter sei durch das am 22. Oktober 2020 in Kraft getretene Dekret Nr. 130/2020, welches in das Gesetz Nr. 173/2020, in Kraft getreten am 20. Dezember 2020, aufgenommen worden sei, aufgegeben worden. Die Unterbringungseinrichtungen der zweiten Ebene (nun nicht mehr SIPROIMI, sondern SAI - Sistema di accoglienza e integrazione - genannt) stünden nun auch wieder Antragstellern auf internationalen Schutz zur Verfügung. Darüber hinaus würden Antragsteller, die nach der Aufnahmerichtlinie als vulnerable Personen eingestuft werden, vorrangig an SAI-Aufnahmeeinrichtungen weitergeleitet. Auch sei die Bandbreite der in den Unterbringungseinrichtungen der ersten und zweiten Ebene zu erbringenden Versorgungsleistungen erweitert worden. Neben den materiellen Aufnahmeleistungen seien unter anderem eine Gesundheitsversorgung, soziale und psychologische Betreuung, Italienisch-Kurse und Rechtsberatungsdienste vorgesehen und das Recht der Antragsteller gewährleistet, sich als international Schutzsuchende bei den örtlichen Behörden zu registrieren (vgl. EGMR, U.v. 23.3.2021 - Nr. 46595/19 - M.T. ./. Niederlande - Rn. 32 bis 36 und 53). Auch der UNHCR sehe das Dekret Nr. 130/2020 positiv. Es garantiere unter anderem nicht nur die Wiederherstellung des Rechts der Asylsuchenden, ihren Wohnsitz anzumelden und effektiven Zugang zu wesentlichen Dienstleistungen, sondern bedeute auch die Rückkehr zu einem Aufnahme- und Integrationsmodell, das über die Jahre positive Ergebnisse im Hinblick auf die soziale Eingliederung gehabt habe (vgl. ebd. Rn. 37). Über die reformierte Rechtslage in Italien seien die Mitgliedstaaten auch durch ein Rundschreiben des italienischen Innenministeriums vom 8. Februar 2021 informiert worden. Hierin werde betont, dass die Unterbringungseinrichtungen der zweiten Ebene (SAI) nunmehr auch Familien offenstehe und die Familieneinheit gewährleistet werde (vgl. VG München B.v. 17.6.2021 - M 3 S 21.50230 - juris Rn. 32). Der EGMR kam in seinem Urteil vom 23. März 2021 im Verfahren M.T. ./. Niederlande schließlich zu der Beurteilung, dass im Falle einer Rücküberstellung der Mutter und ihrer Kinder keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK zu befürchten sei, da diese als Angehörige einer gemäß Art. 17 des Dekrets Nr. 142/2015 vulnerablen Personengruppe vorrangig in einem SAI-Netzwerk unterzubringen seien. Doch selbst wenn die Familie vorübergehend zunächst in einer Aufnahmeeinrichtung der ersten Ebene untergebracht würde, sei aufgrund des dort erweiterten Leistungsangebots keine Verletzung von Art. 3 EMRK zu erwarten (vgl. EGMR, U.v. 23.3.2021 - Nr. 46595/19 - M.T. ./. Niederlande - Rn. 54 f.).
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Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die Antragsteller, eine Familie mit einem minderjährigen Kind, keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, die mit Art. 3 EMRK unvereinbar wäre. Mangels Vorliegen individueller Besonderheiten ist die ausführlich begründete und belegte Einschätzung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschrechte in der oben zitierten Entscheidung auf die Antragsteller im hiesigen Verfahren übertragbar. Das minderjährige Kind stellt gemäß Art. 17 des Gesetzesdekrets Nr. 142/2015 jedenfalls eine schutzbedürftige Personengruppe dar, die vorrangig im SAI-Netzwerk unterzubringen ist. In Zusammenschau mit dem Rundschreiben vom 8. Februar 2021 ist davon auszugehen, dass die Familie als Ganzes einen vorrangigen Anspruch auf Unterbringung im SAI-Netzwerk hat. Doch selbst wenn die Familie - z.B. wegen mangelnder Kapazität - vorübergehend zunächst in einer Aufnahmeeinrichtung der ersten Ebene untergebracht würde, ist darin ob des dort erweiterten Leistungsspektrums - in Übereinstimmung mit dem EGMR - keine Verletzung von Art. 3 EMRK zu sehen (VG München B.v. 17.6.2021 - M 3 S 21.50230 - juris Rn. 33). Das Gericht hat auch keinen Anlass daran zu zweifeln, dass die deutschen Behörden vor einer Rückführung der Antragsteller die italienischen Behörden über die geplante Ankunft der Antragsteller und ihre familiäre Situation informieren werden.
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Individuelle außergewöhnliche Umstände, die im Falle der Antragsteller dennoch gegen eine Überstellung sprächen und die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen, sind nicht ersichtlich. Der Vortrag, die Antragstellerin zu 2) habe einen Bruder bzw. der Antragsteller zu 1) einen Cousin im Bundesgebiet, führt nicht zu dem Ergebnis, dass die Antragsgegnerin von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen müsste. Dafür, dass sie auf die Betreuung ihres Bruders bzw. Cousin dringend angewiesen wären, wurde nichts Substantiiertes vorgetragen. Dessen ungeachtet liegen die Voraussetzungen des Art. 2 g) Dublin III-VO nicht vor, da Bruder bzw. Cousin keine Familienangehörigen im Sinne der Vorschrift sind. Gleiches gilt für den Vortrag, die Antragsteller hätten Freunde im Bundesgebiet.
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b) Die Abschiebung nach Italien kann auch durchgeführt werden. Die Feststellung im angefochtenen Bescheid, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, ist voraussichtlich ebenfalls rechtmäßig. Die Antragsteller können sich auf zielstaatsbezogene - bezogen auf Italien - oder inlandsbezogene Abschiebungsverbote, die in Bezug auf die Abschiebungsanordnung gegenüber der Antragsgegnerin geltend gemacht werden können (vgl. BayVGH, B.v. 12.10.2015 - 11 ZB 15.50050 - juris Rn. 4), nicht berufen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Reisefähigkeit der Antragsteller eingeschränkt wäre. Abschiebungsverbote bezogen auf Afghanistan sind im Dublin-Verfahren nicht zu prüfen.
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c) Auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG erweist sich als voraussichtlich rechtmäßig. Nach Ansicht des Gerichts ist die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 15 Monate angemessen (§ 11 Abs. 2 AufenthG). Die Befristung hält sich innerhalb des von § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten gesetzlichen Rahmens von bis zu fünf Jahren. Das nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen wurde erkannt und ermessensfehlerfrei ausgeübt.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).