Inhalt

OLG München, Beschluss v. 01.07.2022 – 8 U 1671/22
Titel:

Keine Haftung von Audi für den entwickelten, hergestellten und eingebauten 3,0-Liter-Motor bei Kauf im Januar 2019 (hier: Audi Modell 4GF0VA A7 Sportback 3.0 TDI Clean Diesel Quattro)

Normenketten:
BGB § 31, § 445a, § 823 Abs. 2, § 826
ZPO § 148, § 522 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
AEUV Art. 267
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5
RL 2007/46/EG Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46
Leitsätze:
1. Vgl. zu 3,0 Liter-Motoren von Audi mit unterschiedlichen Ergebnissen auch: BGH BeckRS 2021, 37683; BeckRS 2021, 41003; BeckRS 2022, 21374; BeckRS 2022, 19714; OLG Bamberg BeckRS 2022, 33515; OLG Karlsruhe BeckRS 2021, 43408; OLG München BeckRS 2021, 54385; BeckRS 2022, 18804; BeckRS 2022, 18875; BeckRS 2022, 28198; BeckRS 2022, 34469; BeckRS 2021, 52024; BeckRS 2022, 21228; BeckRS 2022, 23106; BeckRS 2022, 18807; BeckRS 2023, 2581; OLG Nürnberg BeckRS 2022, 21211; LG Bamberg BeckRS 2022, 29502; LG Kempten BeckRS 2022, 28679; LG Nürnberg-Fürth BeckRS 2022, 30355; OLG Bamberg BeckRS 2022, 28703 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1) sowie OLG Brandenburg BeckRS 2021, 52227 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1). (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Fahrzeughersteller, der sittenwidrig eine unzulässige Abschalteinrichtung entwickelt und implementiert hat, haftet dem Käufer nicht auf Schadensersatz, wenn er im Zeitpunkt des Kaufvertrages bereits umfangreiche Veranlassungen getroffen hatte, um eine – durch seine Vertragshändler vermittelte – Täuschung der Käufer zu verhindern (hier: verpflichtende interne Anweisung, Fahrzeugkäufer von der unzulässigen Abschalteinrichtung in Kenntnis zu setzen; Entwicklung eines Softwareupdates in Zusammenarbeit mit dem KBA, um den gesetzeswidrigen Zustand und die Stilllegungsgefahr nach Freigabe durch das KBA zu beseitigen). (Rn. 14 und 16 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Frist zur Stellungnahme gemäß § 522 Abs. 2 S.2 ZPO ermöglicht nicht eine Art „zweite Berufungsbegründung“. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Fahrzeughersteller unterliegt wegen etwaiger Aufwendungen des Fahrzeugverkäufers im Rahmen der Gewährleistung gem. § 445a BGB dem Rückgriff des Händlers, hat also wirtschaftlich die Folgen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen ggf. voll und alleine zu tragen, was ausreichenden Anreiz bietet, die Unionsvorschriften penibel einzuhalten. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, 3,0-Liter-Motor, EA 897, Audi, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Softwareupdate, Nachkauf, Rückruf, Rückgriff im Rahmen der Gewährleistung, Schlussanträge des Generalanwalts
Vorinstanz:
LG München II, Urteil vom 23.02.2022 – 11 O 1366/21
Fundstellen:
ZIP 2022, 1928
LSK 2022, 24486
BeckRS 2022, 24486

Tenor

1. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 23.02.2022, Aktenzeichen 11 O 1366/21, wird zurückgewiesen.
2. Die Klagepartei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts München II ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klagepartei kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf bis zu 45.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Klagepartei macht gegen die Beklagte Ansprüche im Zusammenhang mit dem sog. AbgasSkandal geltend.
2
Den landgerichtlichen Feststellungen zufolge erwarb die Klagepartei am 03.01.2019 einen gebrauchten Audi Modell 4GF0VA A7 Sportback 3.0 TDI Clean Diesel Quattro zum Preis von 44.900,00 €. Der Pkw, in dem ein Dieselmotor EA897 verbaut ist, ist von einem amtlichen verbindlichen Rückruf des KBA betroffen.
3
Die Beklagte hatte sich bereits im Januar 2018 an das KBA gewandt und im Dialog mit ihm an der Abstimmung einer Softwarelösung gearbeitet. Anschließend wies sie die Händler darauf hin, dass betroffene Fahrzeuge ohne durchgeführtes Update nur mit entsprechendem Hinweis an Kunden verkauft werden dürfen. Kaufinteressenten wurden über das weitere Vorgehen informiert (Informationsmeldung v. 25.01.2018, B2). Zudem erging an Vertragshändler und Servicepartner der Hinweis, dass vor jedem Verkauf eines Fahrzeugs die FIN in das entsprechende System Elsa Pro einzugeben sei (B3), damit der Händler sehe, ob das Fahrzeug betroffen sei. Zudem hatte die Beklagte schon in einer Pressemitteilung vom 21.07.2017 darüber informiert, dass sie für verschiedene Modelle mit verschiedenen Motoren an einem Nachrüstungsprogramm arbeite und die Aktion in enger Abstimmung mit dem KBA erfolge (B4). Weiter informierte das KBA in einer Pressemitteilung vom 23.01.2018 (B 5) wie folgt: Bei der Überprüfung der Audi 3.0l Euro 6, Modelle A4, A5, A6, A7, A8, Q5, SQ5, Q7, durch das KBA wurden unzulässige Abschalteinrichtungen nachgewiesen. …“. Das KBA habe deshalb in den vergangenen Wochen verpflichtende Rückrufe dieser Fahrzeuge angeordnet, um die Vorschriftmäßigkeit der produzierten Fahrzeuge wieder herzustellen. Diese Pressemitteilung war auch auf der Internetseite des KBAs ohne Weiteres für jeden einsehbar. Weiter ging bereits im Juli 2017 durch sämtliche Medien die Nachricht, dass auch Modelle der Beklagten vom Rückruf betroffen seien (z.B. B6, B7, B8, B10, B11, B12).
4
Die Klagepartei hat in der Hauptsache beantragt, die Beklagte zu verurteilen, Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des Fahrzeugs an sie 44.900,00 € nebst Zinsen unter Anrechnung einer, wie weiter ausgeführt, Nutzungsentschädigung zu zahlen.
5
Das Landgericht hat die Klage umfassend abgewiesen. Ein Anspruch aus § 826 BGB bestehe wegen einer fehlenden vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung der Beklagten zum Zeitpunkt des Kaufvertrages am 03.01.2019 nicht. Durch ihre, wie festgestellt, Zusammenarbeit mit dem KBA, bei einer, wie dargelegt, dazu erfolgten Berichterstattung seit 2017/2018 in sämtlichen Medien in der Bundesrepublik Deutschland, habe die Beklagte ein Verhalten an den Tag gelegt, dass objektiv geeignet gewesen sei, die Arglosigkeit potentieller Kunden zu beseitigen. Insbesondere habe sie ihre Vertragshändler über die Verwendung der Abschalteinrichtung informiert und diese und die Kunden in die Lage versetzt, über die Abgasproblematik der betroffenen Fahrzeuge Informationen einzuholen. Sie habe durch Einrichtung einer Internetplattform jedem Kunden ermöglicht, mit der Fahrzeugidentifikationsnummer herauszufinden, ob sein Fahrzeug der Nachrüstung bedürfe. Sie habe daher alles getan, um Händler und Kunden darüber aufzuklären, dass die jeweiligen Fahrzeuge von einem amtlichen Rückruf des KBAs betroffen sind. Dass die Beklagte u.U. noch weitere Schritte zu einer klareren Aufklärung hätte unternehmen können, stehe der Verneinung eines objektiv sittenwidrigen Vorgehens im Hinblick auf die an die Händler und die Presse und das KBA weitergereichten Informationen nicht im Weg. Vorliegend fehle es mithin an einem besonders verwerflichen sittenwidrigen Verhalten der Beklagten. Die Klagepartei habe auch keinen Anspruch aus § 263 StGB i.V.m. § 823 II BGB wegen einer fehlenden Täuschungshandlung. Weitere Anspruchsgrundlagen, die drittschützenden Charakter haben, seien nicht ersichtlich.
II.
6
Mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Berufung verfolgt die Klagepartei ihre erstinstanzlichen Anträge weiter.
7
Mit Hinweisbeschluss des Senats vom 12.04.2022 wurde die Klagepartei darauf hingewiesen, dass und weshalb der Senat beabsichtigt, ihre Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als unbegründet zurückzuweisen. Hierzu hat sie mit Schriftsatz vom 08.06.2022 Stellung genommen und u.a. die Aussetzung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des EuGH im Verfahren C-100/21 beantragt.
8
Bezüglich der näheren Einzelheiten wird nochmals auf den Inhalt des angegriffenen Urteils, die Ausführungen im Hinweisbeschluss des Senats vom 12.04.2022 sowie auf die Schriftsätze der Parteien im Berufungsverfahren verwiesen.
III.
9
Die Berufung der Klagepartei ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO im Beschlussweg als unbegründet zurückzuweisen, da der Senat einstimmig davon überzeugt ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats nicht erfordern und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
10
Der Senat hält das Urteil des Landgerichts zumindest im Ergebnis für offensichtlich zutreffend. Er nimmt Bezug auf dieses Urteil. Bezug genommen wird ferner auf die Hinweise des Senats vom 12.04.2022, wonach er die Berufung i.S.v. § 522 Abs. 2 ZPO für unbegründet hält. Der weitere Schriftsatz der Klagepartei vom 08.06.2022 ergab keinen Anlass für eine abweichende Beurteilung.
11
1. Wie bereits im Hinweis vom 12.04.2022 ausgeführt, scheidet eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB bzw. § 831 BGB wegen Verwendung einer sog. Prüfstandserkennungssoftware“ im vorliegenden Falle von vorneherein aus:
12
a) Nach der Rspr. des BGH zu einem Audi mit einem Dieselmotor des Typs V6 3.0 TDI EU6 (vgl. BGH, Beschluss vom 12.01.2022, VII ZR 391/21) sind insoweit wesentliche Umstände, die den Vorwurf der Sittenwidrigkeit im Hinblick auf die Entwicklung und Implementierung einer unzulässigen Abschalteinrichtung tragen, bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Fahrzeugerwerbs durch die Klagepartei entfallen; damit war das Verhalten der Beklagten mit einer Täuschung nicht mehr gleichzusetzen (vgl. BGH, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20 Rn. 34).
13
Selbst wenn analog zu den Feststellungen zur Gesinnung und zum Verhalten der V. AG gegenüber Käufern, die vor dem 22.09.2015 ein Fahrzeug mit einem Motor des Typs EA189 erwarben (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 Rn. 16 ff., BGHZ 225, 316), unterstellt wird, dass die Beklagte ebenfalls ursprünglich aufgrund einer für ihr Unternehmen getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des KBA systematisch, langjährig und in großem Umfang Fahrzeuge mit Motoren mit unzulässiger Abschalteinrichtung in den Verkehr gebracht habe, womit eine erhöhte Belastung der Umwelt sowie die Gefahr einhergegangen sei, dass bei einer Aufdeckung des Sachverhalts eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung hinsichtlich der betroffenen Fahrzeuge erfolgen könnte, war der Vorwurf der Sittenwidrigkeit im maßgeblichen Erwerbzeitpunkt – das Fahrzeug wurde im Fall des BGH am 06.04.2018 gekauft – nach Darlegung des BGH aufgrund der dort vom Berufungsgericht festgestellten Verhaltensänderung seitens der Beklagten nicht mehr gerechtfertigt.
14
So hat die Beklagte danach umfangreiche Veranlassungen getroffen, um eine – durch ihre Vertragshändler vermittelte – Täuschung der Käufer zu verhindern. Aufgrund einer verpflichtenden internen Anweisung durfte sie davon ausgehen, dass Fahrzeugkäufer von ihren Vertragshändlern grundsätzlich Kenntnis von der unzulässigen Abschalteinrichtung erhielten. Zudem hat die Beklagte danach in Zusammenarbeit mit dem KBA ein SoftwareUpdate entwickelt, das den gesetzeswidrigen Zustand und die Stilllegungsgefahr nach Freigabe durch das KBA beseitigt hat.
15
Weiter hat der BGH ausgeführt, dass die Tatsache, dass die Beklagte nach den dortigen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht analog zur V. AG und dem von dieser entwickelten Motortyp EA189 eine Pressemitteilung über den Rückruf veröffentlicht und keine Suchmaschine freigeschaltet hat, mit der anhand der Fahrzeug-Identifizierungsnummer kontrolliert werden konnte, ob das eigene Fahrzeug betroffen war, keine andere Beurteilung gebietet. Denn dass die Beklagte eine bewusste Manipulation geleugnet hat und dass sie möglicherweise weitere Schritte zur umfassenden Aufklärung hätte unternehmen können, reicht für die Begründung des gravierenden Vorwurfs der sittenwidrigen Schädigung gegenüber späteren Käufern nicht aus. Insbesondere war ein aus moralischer Sicht tadelloses Verhalten der Beklagten oder eine Aufklärung, die tatsächlich jeden potenziellen Käufer erreicht und einen Fahrzeugerwerb in Unkenntnis der Abschalteinrichtung sicher verhindert, zum Ausschluss objektiver Sittenwidrigkeit nicht erforderlich (BGH, Beschluss v. 12.01.2022, Gz. VII ZR 391/21).
16
b) Ebenso liegt es hier. Ausweislich des angegriffenen Urteils wurde auch hier unangegriffen festgestellt, dass sich die Beklagte unstreitig bereits im Januar 2018 an das KBA gewandt und im Dialog mit ihm an der Abstimmung einer Softwarelösung gearbeitet hat. Weiter hat die Beklagte danach den Händlern aufgegeben, Fahrzeuge nur nach entsprechendem Hinweis zu verkaufen. Zudem hat das Landgericht Bezug genommen auf die unstreitige Informationsmeldung vom 25.01.2018 über das weitere Vorgehen und die nicht bestrittene Möglichkeit, die Betroffenheit eines Fahrzeugs zu ermitteln.
17
Damit wäre zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Fahrzeugerwerbs am 03.01.2019 eine etwaige Sittenwidrigkeit jedenfalls bereits wieder entfallen.
18
2. Die nunmehrigen Ausführungen zu einem Thermofenster, bei dem es sich ebenfalls um eine unzulässige Abschalteinrichtung handele, rechtfertigen keine andere Entscheidung:
19
a) Das nunmehrige Vorbringen in der Gegenerklärung zu einem Thermofenster, das in der Berufungsbegründung noch keine Erwähnung gefunden hat, ist als verspätet zurückzuweisen.
20
Die der Klagepartei eingeräumte Frist zur Stellungnahme gemäß § 522 Abs. 2 S.2 ZPO ermöglicht nicht etwa eine Art „zweite Berufungsbegründung“. Soweit daher in einem weiteren Schriftsatz im Berufungsverfahren neue Darlegungen erfolgen und neue Angriffs- und Verteidigungsmittel enthalten sind, sind diese nach §§ 530, 296 Abs. 1 ZPO zwingend zurückzuweisen (vgl. z.B. Thomas/Putzo, ZPO, 36. Aufl. 2015, § 530 Rnr. 4; Rimmelspacher in: Münchener Kommentar zur ZPO, 4. Auflage 2012, § 522 Rnr. 28). Darauf hatte der Senat als nobile officium auch bereits in seinen Allgemeinen Verfahrenshinweisen ausdrücklich aufmerksam gemacht.
21
b) Der Vortrag zum Thermofenster ist zudem ebenfalls ungeeignet, eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 826, 31 BGB bzw. § 831 BGB zu begründen.
22
Abgesehen davon, dass ihm schon nicht zu entnehmen ist, wann das Thermofenster nach Vorstellung der Berufung implementiert worden sein soll, hat der BGH erst kürzlich bezüglich eines unterstellt unzulässigen Thermofensters bekräftigt, dass der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit jedenfalls auch voraussetze, dass die seitens der Beklagten handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems im Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen.
23
Weiter hat er auf den Bericht der vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur eingesetzten Untersuchungskommission Volkswagen verwiesen, nach dem Thermofenster von allen Autoherstellern eingesetzt und mit dem Erfordernis des Motorschutzes begründet würden; insoweit sei ein Verstoß betreffend die Auslegung der Ausnahmevorschrift des Art. 5 II S.2 a VO (EG) Nr. 715/2007 nicht eindeutig (vgl. BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016). Eine u.U. nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage genüge aber für die Feststellung der besonderen Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten nicht (BGH, Urt. v. 16.09.2021 – VII ZR 190/20).
24
Zudem hat der Senat bereits im Hinweisbeschluss dargelegt, dass und weshalb wesentliche Umstände, die den Vorwurf der Sittenwidrigkeit im Hinblick auf die Entwicklung und Implementierung unzulässiger Abschalteinrichtungen tragen könnten, jedenfalls bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Fahrzeugerwerbs durch die Klagepartei entfallen waren und damit das Verhalten der Beklagten mit einer Täuschung nicht mehr gleichgesetzt werden kann.
25
3. Ein auf Rückabwicklung des streitgegenständlichen Kaufvertrags gerichteter Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 4 II und Art. 5 I VO 715/2007/EG oder §§ 6 I, 27 EG-FGV kommt ebenfalls weiterhin nicht in Betracht:
26
a) Der Bundesgerichtshof geht in inzwischen st. Rspr. (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 Rn. 72 ff., BGHZ 225, 316; Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 Rn. 10 ff., ZIP 2020, 1715; vgl. auch Beschluss vom 10. Februar 2022 – III ZR 87/21 Rn. 8 ff, juris) davon aus, dass die Rechtslage im Hinblick auf § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV von vornherein eindeutig („acte clair“, vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 – Rs 283/81, NJW 1983, 1257, 1258; BVerfG, NVwZ 2015, 52 Rn. 35) sei. Zuletzt hat er dies im Beschluss vom 4. Mai 2022 – VII ZR 656/21 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das den Gegenstand der Schlussanträge des Generalanwalts R. vom 02.06.2022 bildende Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Ravensburg ausgesprochen. Selbst wenn die Verordnung (EG) 715/2007 dem Schutz der Käufer eines Fahrzeugs vor Verstößen des Herstellers gegen seine Verpflichtung, neue Fahrzeug in Übereinstimmung mit ihrem genehmigten Typ bzw. den für ihren Typ geltenden Rechtsvorschriften in den Verkehr zu bringen, diente, besage dies nichts für die Frage, ob damit auch der Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages erfasst sein solle. Es seien keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften (auch) einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckt habe und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags hätte knüpfen wollen (BGH, Beschluss vom 4. Mai 2022 – VII ZR 656/21 –, Rn. 3, juris).
27
b) Auch die Schlussanträge des Generalanwalts R. vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 (Celex-Nr. 62021CC0100) geben keine Veranlassung, von dieser gefestigten Rechtsprechung abzuweichen oder nunmehr eine Vorlage an den EuGH gem. § 267 AEUV bzw. eine Aussetzung entsprechend § 148 ZPO bis zu einer Entscheidung des EuGH in dieser Sache in Erwägung zu ziehen:
28
(1) Die in dem Verfahren C-100/21 aufgeworfenen Fragen sind im vorliegenden Falle schon nicht entscheidungserheblich, nachdem der verspätete Vortrag der hiesigen Klagepartei zum Thermofenster im Berufungsverfahren nicht mehr zuzulassen war, s.o.
29
(2) Da der Senat im vorliegenden Falle angesichts des Streitwerts von über 20.000.- € nicht letztinstanzlich entscheidet, träfe ihn auch keine Vorlagepflicht gem. § 267 III AEUV; allenfalls wäre ihm eine Vorlagemöglichkeit gem. § 267 II AEUV eröffnet, zu der er aus den nachfolgenden Gründen keinen Anlass sähe.
30
(3) Dazu ist zunächst ist festzuhalten, dass die Schlussanträge den Europäischen Gerichtshof nicht binden. Auch wenn der Europäische Gerichtshof ihnen in der Regel folgt, haben die Schlussanträge ebensowenig Außenwirkung wie die entsprechende Einschätzung der EU-Kommission.
31
(4) Darüber hinaus schlägt der Generalanwalt inhaltlich zwar vor, die erste und zweite Vorlagefrage so zu beantworten, dass Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46 dahin auszulegen sind, dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist (IV B. 50 der Schlussanträge vom 02.06.2022). Hinsichtlich der Vorlagefragen 3 – 6 beschränkt sich der Antrag jedoch auf die Feststellung, dass ein Erwerber eines Fahrzeugs einen Ersatzanspruch gegen einen Hersteller hat, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist. Es sei jedoch Sache der Mitgliedstaaten die Regeln für die Art und Weise der Berechnung des Ersatzes des Schadens, der dem Erwerber entstanden ist, festzulegen, sofern dieser Ersatz in Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes dem erlittenen Schaden angemessen ist (IV C 65 der Schlussanträge vom 02.06.2022).
32
Damit stünde es den Mitgliedstaaten, selbst wenn der Europäische Gerichtshof den Anträgen des Generalanwalts folgen sollte, weiterhin frei, einen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages wegen einer Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts zu verneinen. Ein solcher ist aber Gegenstand der vorliegenden Berufung.
33
(5) Die Schlussanträge des Generalanwalts vom 02.06.2022 bieten nach Auffassung des Senats auch in der Sache keine ausreichenden Anhaltspunkte, um nunmehr von einer durch den EuGH klärungsbedürftigen Frage auszugehen:
34
(a) Zur EuGH-Vorlage des BGH zur Klärung der Frage, ob es sich bei den nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Medizinprodukte-RL um Schutzgesetze gem. § 823 Abs. 2 BGB handeln könne (NJW 2015, 2737), hatte der EuGH seinerzeit entschieden, dass die Voraussetzungen, unter denen eine von einer benannten Stelle begangene schuldhafte Verletzung der ihr im Rahmen dieses Verfahrens gemäß dieser Richtlinie obliegenden Pflichten ihre Haftung gegenüber den Endempfängern begründen kann, vorbehaltlich der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität dem nationalen Recht unterliegen (EuGH, ECLI:ECLI:EU:C:2017:128 = NJW 2017,1161 [Schmitt/TÜV Rheinland] zur Haftung für Schäden durch fehlerhafte Brustimplantate).
35
Das sieht im Grundsatz auch Generalanwalt R. so, wenn er in Rz. 55 seiner Schlussanträge vom 02.06.2022 ausführt, dass, abgesehen von einem Entschädigungsanspruch, der unmittelbar im Unionsrecht begründet ist, im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu bestimmen ist, wie der entstandene Schaden zu ersetzen ist, wobei die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen zu verhängen ermöglichen müssen.
36
(b) Bei der Beurteilung dieser Frage übersieht der Generalanwalt dann jedoch völlig, dass nach – im Wesentlichen auf der Verbrauchsgüterkauf-RL beruhendem – nationalem deutschem Recht bei der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in erster Linie – sogar z.T. verschuldensunabhängige – äußert „wirksame und abschreckende“ kaufvertragliche Ansprüche gegen den Fahrzeugverkäufer bestehen (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 21. Juli 2021 – VIII ZR 254/20, zum Motor EA189, BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19, zum Motor OM651) und Ansprüche aus unerlaubter Handlung gegen den Fahrzeughersteller deshalb erst nach Ablauf der – gem. der Verbrauchsgüterkauf-RL europarechtlich einheitlichen – Gewährleistungsfrist von 2 Jahren in den Fokus treten.
37
Deshalb trifft es entgegen der Auffassung des Generalanwalts in Rz. 58 auch nicht zu, dass „der Fahrzeughersteller nach derzeitigem Rechtsstand in Deutschland keine Inanspruchnahme zu befürchten“ hätte. Denn der Fahrzeughersteller unterliegt wegen etwaiger Aufwendungen des Fahrzeugverkäufers im Rahmen der Gewährleistung gem. § 445a BGB dem Rückgriff des Händlers, hat also wirtschaftlich die Folgen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen ggf. voll und alleine zu tragen, was nach Auffassung des Senats fraglos auch ausreichenden Anreiz böte, die Unionsvorschriften penibel einzuhalten (ähnlich OLG Stuttgart, Urteil vom 28.06.2022, Gz. 24 U 115/22, bisher n.v.)
38
(c) Dass es aus Gründen der „Äquivalenz und der Effektivität“ gleichwohl europarechtlich noch zusätzlich der Begründung einer auf Rückabwicklung des Kaufvertrags gerichteten unmittelbaren Fahrlässigkeitshaftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 5 Abs. 2, 3 Nr.10 der VO Nr. 715/2007 gegen den Fahrzeughersteller bedürfte, erscheint dem Senat daher weiterhin fernliegend (vgl. bereits Senat, Beschluss vom 29.8.2019 – 8 U 1449/19, WM 2019, 1937, NJW-RR 2019, 1497, Rn. 78 ff., beck-online, rechtskräftig, NZB vom BGH mit Beschluss vom 15.09.2020, Gz. VI ZR 389/19, ohne Begründung zurückgewiesen).
39
4. Da danach bereits dem Grunde nach keine Haftung besteht, besitzen die Ausführungen in der Gegenerklärung zur Nutzungsentschädigung keine Entscheidungsrelevanz.
IV.
40
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit erfolgte gemäß §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde entsprechend dem erteilten Hinweis gemäß § 47 GKG in ausgesprochener Höhe festgesetzt.