Inhalt

OLG München, Beschluss v. 22.06.2022 – 31 AR 73/22
Titel:

Notwendigkeit der Berücksichtigung der tragfähigen Grundlage eines Rückkehrwillens bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblasser

Normenkette:
FamFG § 5 Abs. 1 Nr. 4, § 343 Abs. 1
Leitsatz:
Zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Erblassers, der aufgrund seiner Krankheit pflegebedürftig ist und infolgedessen seinen bisherigen Aufenthaltsort verlagert. (Rn. 4 – 10)
Orientierungsätze:
Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Erblassers ist neben dem objektiven Moment des tatsächlichen Aufenthalts auch ein subjektives Element, nämlich ein Aufenthalts- bzw. Bleibewille, erforderlich (im Anschluss an OLG München FGPrax 2017, 134). (Rn. 5)
Die Willensrichtung des Erblassers stellt zwar einen im Rahmen der Gesamtbeurteilung der Lebensumstände zu berücksichtigenden, nicht aber den für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts allein prägenden Umstand dar (im Anschluss an OLG Hamm <15. Senat> ZEV 2020, 634).  (Rn. 10)
Der Willensrichtung des Erblassers kann daher dann kein maßgebliches Gewicht beigemessen werden, sofern diese bei objektiver Betrachtungsweise nicht auf tragfähigen Grundlagen fußt. (Rn. 10)
Schlagworte:
Zuständigkeitsbestimmung, örtliche Zuständigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt, Erbscheinsverfahren, Erblasser, Aufenthaltswille, Bleibewille, Krankheit, Rückehrwille
Fundstellen:
FGPrax 2022, 231
FamRZ 2023, 163
ErbR 2022, 1124
MDR 2022, 1351
RPfleger 2022, 692
MittBayNot 2024, 79
RNotZ 2022, 567
ZErb 2023, 105
BeckRS 2022, 24418
ZEV 2022, 676
LSK 2022, 24418

Tenor

Örtlich zuständig ist das Amtsgericht Heilbronn

Gründe

I.
1
Das Oberlandesgericht München ist gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, Abs. 2 FamFG zur Entscheidung des zwischen den Amtsgerichten Heilbronn und München bestehenden Streits über die örtliche Zuständigkeit berufen, weil das gemeinschaftliche obere Gericht der Bundesgerichtshof ist und das zuerst mit der Sache befasste Amtsgericht München zum Bezirk des Oberlandesgerichts München gehört.
II.
2
Nach Auskunft der Beteiligten zu 1, 3, 4 und 5 (= Angehörige des Erblassers) lebte und arbeitete der Erblasser von 1984 bis zum 16.10.2020 in M.. Am 16.10.2020 begab sich der Erblasser zu seinem Bruder und seiner Schwägerin (= Beteiligte zu 1 und 4) nach …, da er aufgrund seiner Krebserkrankung schwach war und sich nicht mehr selbst versorgen konnte. Die Beteiligten zu 1 und 4 pflegten den Erblasser zunächst bei sich zu Hause. Am … verstarb der Erblasser im Krankenhaus in …. Der Erblasser behielt zwar bis zu seinem Tode seine Wohnung in M. und beabsichtigte für den Fall seiner Genesung auch dorthin zurückzukehren. Entgegen der Hoffnung des Erblassers erfolgte jedoch keine Genesung und auch keine Rückkehr nach M..
III.
3
1. Die zum 17. August 2015 in Kraft getretene Europäische Erbrechtsverordnung (EuErbVO) sieht als grundlegendes Merkmal für die Anknüpfung gerichtlicher Zuständigkeiten in Erbsachen den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes vor (Art. 4 EuErbVO). Dementsprechend bestimmt § 343 Abs. 1 FamFG in der ab dem 17.08.2015 geltenden Fassung, dass das Gericht, in dessen Bezirk der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zuständig ist.
4
Durch die Neufassung des § 343 Abs. 1 FamFG im Rahmen des IntErbRVG soll das Ziel, eine möglichst einheitliche örtliche Zuständigkeit der Gerichte für die Erteilung eines Erbscheins und für die Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses nach Kapitel VI der EuErbVO zu gewährleisten, - und damit auch ein Gleichlauf mit Art. 4 EuErbVO - erreicht werden (vgl. BT-Drs. 18/4201 S. 59). Demgemäß ist der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ auch im Lichte des Art. 4 EuErbVO unter Heranziehung der Erwägungsgründe (23) und (24) zu bestimmen. Insoweit ist eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände vorzunehmen, auch unter Berücksichtigung von Dauer und Regelmäßigkeit von Besuchen, der besonders engen Bindung an einen Staat, der Sprachkenntnisse, der Lage des Vermögens. Daraus ergibt sich, dass in Bezug auf den „gewöhnlichen Aufenthalt“ der tatsächliche Lebensmittelpunkt einer natürlichen Person zu verstehen ist, der mittels einer Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und zum Zeitpunkt des Todes festzustellen ist (OLG München FGPrax 2017, 134).
5
Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltes des Erblassers ist neben dem objektiven Moment des tatsächlichen Aufenthalts auch grundsätzlich ein subjektives Element, nämlich ein Aufenthalts- bzw. Bleibewille, erforderlich (Keidel/Zimmermann FamFG, 20. Auflage <2020> § 343 Rn. 6, 7; OLG Hamm (10. Senat) ZEV 2020, 636 <637>). Andernfalls können Fragen eines erzwungenen oder willenlosen Aufenthalts nicht zufriedenstellend geklärt werden. Außerdem könnte sonst das materielle Erbrecht von Angehörigen manipuliert werden (OLG München a.a.O.).
6
2. Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze lag der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers zum Zeitpunkt seines Todes in …, das in den örtlichen Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Heilbronn fällt.
7
a) Der Erblasser entschied sich bewusst dafür, sein eigenständiges Leben in M. aufzugeben und sich in die Pflege seines Bruders und seiner Schwägerin nach … zu begeben. Dass dies nicht seinem Wunsch entsprach, sondern vielmehr den äußeren Zwängen seiner Krankheit geschuldet war, ändert nichts daran, dass das erforderliche subjektive Element zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes gegeben war. Maßgeblich für dieses subjektive Element ist die Willensbildung, zu der der Erblasser zum Zeitpunkt seines Aufenthaltswechsels von M. nach … in der Lage war. Unerheblich ist demgegenüber, dass dieser Aufenthalt nicht seinen Idealvorstellungen oder Wünschen entsprach.
8
b) Auch die Tatsache, dass der Erblasser für den Fall seiner Genesung die Absicht hatte, wieder nach M. zurückzukehren, ändert nichts daran, dass sein gewöhnlicher Aufenthalt im Moment des Eintrittes des Erbfalles in … lag.
9
aa) Bei dem Aufenthalt in … hat es sich nicht nur um einen von vornherein absehbar zeitlich begrenzten, vorübergehenden Aufenthalt gehandelt. Bereits zum Zeitpunkt seines Umzuges war der Erblasser nach Auskunft seiner Angehörigen aufgrund der Krebserkrankung so schwach, dass er in M. nicht mehr allein leben konnte und auf Pflege angewiesen war. Die aufgrund seiner Krankheit erforderliche Pflege war somit nach der Vorstellung des Erblassers nicht an seinem bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsort gewährleistet, sondern allein bei seiner Verwandtschaft. Indem er sich bewusst in deren Obhut begab, ging damit auch ein Wechsel seines gewöhnlichen Aufenthalts einher. Der Aufenthaltswechsel von M. nach … erfolgte dabei gerade nicht nur zur Inanspruchnahme rein pflegerischer, oder medizinischer Leistungen. Die objektiv erforderlichen Versorgungsleistungen hätte der Erblasser auch in einem Heim oder Hospiz erhalten können. Hintergrund des Ortswechsels des Erblassers waren daher gerade auch die sozialen Beziehungen des Erblassers zu seinem Bruder, seiner Schwägerin und weiteren Verwandten in ….
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bb) Dem steht sein Rückkehrwille nach M. nach Genesung nicht entgegen. Die Willensrichtung des Erblassers muss zwar im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung Berücksichtigung finden; sie ist jedoch nicht geeignet, den gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Hintergrund der tatsächlichen Lebensverhältnisse entgegen deren objektiven Ausgestaltung zu begründen. Andernfalls würde unzulässigerweise der Umstand umgangen, dass die EuErbVO eine Gerichtsstandbestimmung durch den Erblasser nicht zulässt (OLG Hamm <15. Senat> ZEV 2020, 634 <635>). Demgemäß stellt die Willensrichtung des Erblassers zwar einen im Rahmen der Gesamtbeurteilung der Lebensumstände zu berücksichtigenden, nicht aber den für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts allein prägenden Umstand dar. Der Willensrichtung des Erblassers kann daher dann kein maßgebliches Gewicht beigemessen werden, sofern diese bei objektiver Betrachtungsweise nicht auf tragfähigen Grundlagen fußt. So verhält es sich hier: angesichts der Schwere seiner Krankheit war eine Rückkehr des Erblassers nach M. objektiv unrealistisch; er erlag bereits nach weniger als 3 Monaten seiner Krankheit in ….