Inhalt

VG München, Beschluss v. 05.09.2022 – M 30 S 22.50330
Titel:

Dublin-Verfahren, Zielstaat Belgien, Systemische Mängel (verneint), Freiwillige Ausreise, Freiwilliger Vollzug der Abschiebungsanordnung

Normenketten:
Dublin III-VO
EMRK Art. 3
AsylG § 29
AsylG § 34a
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Zielstaat Belgien, Systemische Mängel (verneint), Freiwillige Ausreise, Freiwilliger Vollzug der Abschiebungsanordnung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 24374

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahren.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Belgien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
2
Der am ... 1996 geborene afghanische Antragsteller stellte am 24. Februar 2022 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan Bundesamt) einen förmlichen Asylfolgeantrag.
3
Mit Bescheid vom 22. November 2016, Gesch.-Z.: …, hat das Bundesamt den Asylerstantrag des Antragstellers vom 6. Juni 2016 abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Klage des Antragstellers (M 31 K 17.32811) hat das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 25. Januar 2019 abgewiesen. Den Antrag auf Zulassung der Berufung hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 26. April 2019 (13a ZB 19.30915) abgelehnt.
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Eine EURODAC-Recherche ergab u.a. einen Treffer der Kategorie 1 für Deutschland für den 6. Juli 2016 sowie zwei weitere Treffer der Kategorie 1 für Belgien für den 20. Mai 2019 und 24. Februar 2021.
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Das Bundesamt stellte ausweislich der Zugangsbestätigung vom 11. März 2022 ein Wiederaufnahmeersuchen an Belgien, welches dieses mit Mitteilung vom 16. März 2022, dem Bundesamt am gleichen Tage zugegangen, annahm.
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Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 10. Mai 2022 erklärte der Antragsteller, dass er an Schlafstörung leide. Er sei freiwillig aus Belgien über Frankreich nach Deutschland gereist, um so der belgischen Ausreiseaufforderung nachzukommen. In Deutschland habe er dann eineinhalb Jahre in einem Camp gelebt. Weil er gehört habe, dass monatlich Afghanen nach Afghanistan abgeschoben würden, habe er Angst bekommen und sei nach Belgien gereist und habe dort einen Asylantrag gestellt, der sofort abgelehnt worden sei. Es sei festgestellt worden, dass er zurück nach Deutschland müsse, weshalb er am selben Tag nach Deutschland gegangen sei.
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Mit Bescheid vom 20. Mai 2022 - Gesch.-Z.: … lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2). Es ordnete die Abschiebung nach Belgien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 18 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Belgien aufgrund des dort gestellten und während der Antragsprüfung zurückgezogenen Asylantrags für die Behandlung von dem in Deutschland gestellten Asylfolgeantrag zuständig sei. Gründe zur Annahme systemischer Mängel im belgischen Asylverfahren und der dortigen Aufnahmebedingungen lägen nicht vor. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung Bezug genommen.
8
Der Antragsteller ließ am 30. Mai 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 30 K 22.50329) erheben und begehrt zugleich vorläufigen Rechtsschutz (M 30 S 22.50330). Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, dass er seiner Ausreiseaufforderung, die durch die belgischen Behörden ausgesprochen worden sei, im Juni 2019 freiwillig nachkam, indem er aus Belgien nach Frankreich und anschließend nach Deutschland gereist sei. In Deutschland sei er eineinhalb Jahre verblieben, bevor er am 24. Februar 2021 in Belgien erneut einen Asylantrag gestellt hätte, welcher am gleichen Tage abgewiesen worden sei. Deshalb sei er noch am selben Tag nach Deutschland (erneut) eingereist. Die Antragsgegnerin sei daher für den Asylantrag vom 24. Februar 2022 zuständig.
9
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 27.05.2022 gegen die Abschiebungsanordnung des BAMF vom 20.05.2022 anzuordnen.
10
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.
11
Sie nimmt zur Antragsbegründung Bezug auf den streitgegenständlichen Bescheid.
12
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Verfahren sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
13
1. Der Antrag hat keinen Erfolg.
14
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist zwar zulässig, da wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG der Klage keine aufschiebende Wirkung zukommt und er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt wurde, jedoch unbegründet.
15
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hierbei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
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Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids vom 20. Mai 2022 begegnet bei summarischer Prüfung keinen durchgreifenden Bedenken.
17
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass diese Voraussetzungen vorliegen und Belgien der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist. Der Asylantrag war daher als unzulässig abzulehnen. Da auch die Abschiebung weder tatsächlich unmöglich noch rechtlich unzulässig ist, war auch die Abschiebung nach Belgien anzuordnen.
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1.1 Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass Belgien der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist.
19
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) - im Folgenden: Dublin III-VO - für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
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1.1.1 Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist Belgien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
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1.1.1.1 Nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO ist bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedsstaat gestellt hat. Entsprechend dem Asylerstantrag war zunächst die Bundesrepublik Deutschland für die Bearbeitung dieses antragstellerischen Asylbegehrens zuständig. Damit wäre die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich auch für das - nach rechtskräftigem Abschluss des in Deutschland betriebenen Asylerstverfahrens - ursprünglich am 20. Mai 2019 in Belgien gestellte Asylfolgebegehren (vgl. EURODAC-Treffer „BE1“ für den 20. Mai 2019) der zuständige Mitgliedstaat. Doch ist diese Zuständigkeit Deutschlands auf Belgien übergegangen, weil der Antragsteller nicht ordnungsgemäß von Belgien nach Deutschland überstellt worden ist (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO).
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Der Antragsteller hat sich zwar nach eigenen Angaben zunächst „freiwillig“ für 20 Tage nach Frankreich begeben und ist sodann nach Deutschland eingereist, wo er sich bis zum 24. Februar 2021 aufgrund noch gültiger deutscher Papiere in einem Camp aufgehalten hat. Eine freiwillige Ausreise bzw. „freiwillige Überstellung“ durch die eigenmächtige Entscheidung des Antragstellers ist aber nicht als Überstellung i.S.d. Art. 29 Dublin III-VO anzusehen (vgl. VG München, B.v. 9.8.2022 - M 30 S 22.50430 - Rn. 19 n.v.). Schon der Wortlaut des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass die Überstellung aus dem ersuchenden in den zuständigen Mitgliedstaat nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten erfolgt. Zwar ermöglich Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2 September 2003 (Dublin-DVO) auch eine Überstellung auf Initiative des Asylbewerbers innerhalb einer vorgegebenen Frist. Ferner sieht Art. 7 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 (Rückführungsrichtlinie) die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise vor. Doch stellt die bloße freiwillige Ausreise aus dem ersuchenden Mitgliedstaat und die Einreise in den an sich zuständigen Mitgliedstaat noch keine Überstellung i.S.d. Art. 29 Dublin III-VO dar. Denn die Überstellung ist erst mit dem Eintreffen des Asylbewerbers bei der zuständigen Behörde vollzogen; bis zu diesem Zeitpunkt läuft die maßgebliche Überstellungsfrist mit der Folge eines Zuständigkeitsübergangs im Falle einer nicht fristgerechten Überstellung (vgl. zur Dublin II-VO: BVerwG, U.v. 17.9.2015 - 1 C 26.14 - BVerwGE, 153, 24 Rn. 18). Art. 7 der Rückführungsrichtlinie kann daher den erstrebten Übergang der Verantwortlichkeit auf den zuständigen Mitgliedstaat nicht begründen; das Institut der freiwilligen Ausreise ist den Dublin-Regelungen fremd (vgl. BVerwG, ebd.). Vielmehr ist jede Dublin-Überstellung eine staatlich überwachte Ausreise des betroffenen in einen anderen Mitgliedstaat, selbst wenn sie auf Initiative des Asylbewerbers und ohne Anwendung von Verwaltungszwang nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) Dublin-DVO erfolgt, weshalb sie hinsichtlich der Orts- und Terminabstimmung immer behördlich organisiert sein muss (vgl. BVerwG, ebd.). Eine behördliche Abstimmung zwischen Belgien und Deutschland zur Überstellung des Antragstellers fand bei seiner Einreise im Juni bzw. Juli 2019 nicht statt. Der Antragsteller hat den deutschen Behörden auch kein von belgischen Behörden ausgestelltes Laissezpasser nach dem Muster im Anhang IV zur Dublin-DVO vorgelegt.
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Selbst wenn man annehmen wollen würde, dass der Antragsteller durch seine Asylfolgeantragstellung am 24. Februar 2022 die Überstellung aus dem Jahr 2019 „freiwillig vollzogen“ hätte, wäre in diesem Zeitpunkt die Überstellungsfrist abgelaufen. Gegenüber der Antragsgegnerin hat sich der Antragsteller erst am 24. Februar 2022 mit seiner Asylfolgeantragstellung zu erkennen gegeben. Zu diesem Zeitpunkt wäre aber selbst eine 18-monatige Überstellungsfrist (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO), gerechnet ab dem Juli 2019, abgelaufen. Auch ein Abstellen auf das Leben „im Camp“ kommt nicht in Betracht, da - entsprechend dem antragstellerischen Vortrag - Grundlage hierfür die von deutschen Behörden aufgrund des zuvor betriebenen Asylerstverfahrens ausgestellten und noch gültigen Aufenthaltspapiere gewesen sind und gerade nicht der Umstand der Überstellung des Antragstellers aus Belgien.
24
Damit steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die grundsätzlich bestehende Zuständigkeit Deutschlands, aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist im Zusammenhang mit dem vom Antragsteller am 20. Mai 2019 in Belgien gestellten Asyl(folge-)antrag und dem damit einhergehenden Dublin-Verfahren, auf Belgien übergegangen ist.
25
Hieran ändert auch der am 24. Februar 2021 in Belgien gestellte Asylantrag nichts. Auch hier fand keine behördlich organisierte Überstellung aus Belgien an Deutschland statt. Selbst wenn man, die Ausführungen des Antragstellers im Rahmen seiner Anhörung vom 10. Mai 2022 dahingehend für glaubhaft halten und auslegen würde, dass dieser von den belgischen Behörden einen Laissezpasser erhalten hätte (vgl. S. 3 des Protokolls der Anhörung am 10. Mai 2022: „[…] ich ging noch am selben Tag zurück nach Deutschland, weil ich einen Zettel bekam, wo das draufstand […]“), hat sich dieser frühestens im Rahmen seiner Asylantragstellung am 24. Februar 2022 bei der Antragsgegnerin gemeldet und somit weit nach Ablauf der Überstellungsfrist von sechs Monaten.
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1.1.1.2 Gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. c) Dublin III-VO ist ein Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen. Insoweit ist Belgien nach Art. 23 Abs. 1 Dublin III-VO zuständig. Denn ausweislich der EURODAC-Treffer für den 20. Mai 2019 sowie 24. Februar 2021 jeweils mit der Kennzeichnung „BE1“ hat der Antragsteller in Belgien jeweils einen Asyl(folge-)antrag gestellt. Die Ziffer „1“ in der Kennzeichnung „BE1“ steht für einen Antrag auf internationalen Schutz (Art. 24 Abs. 4 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 vom 26.6.2013 - EURODAC-VO). Ferner hat Belgien mit Schreiben vom 16. März 2022 der Wiederaufnahme des Antragstellers nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. c) Dublin III-VO ausdrücklich zugestimmt.
27
1.1.2 Die Zuständigkeit ist nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil eine Überstellung an Belgien als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-VO nicht scheitern würde.
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Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Belgien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall.
29
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - „Jawo“ - juris Rn. 80 f.; U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - „Ibrahim u.a.“ - juris Rn. 84; U.v. 21.12.2011 - C-411/10, C-493/10 - juris Rn. 79 ff.) ist davon auszugehen, dass Belgien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. Diese nicht unwiderlegliche Vermutung ist auch nicht erschüttert. Von systemischen Mängeln ist nur auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10, C-493/10 - juris Rn. 86 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Ls. und Rn. 6). Systemische Schwachstellen sind dabei nur dann als Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu werten, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht wird, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle ist nach der Rechtsprechung des EuGH aber selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats muss nach Ansicht des EuGH zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinden wird, die es ihr nicht erlauben wird, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 92 f.). Der in diesem Rahmen maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 - NVwZ 2012, 417, Rn. 80; VGH BaWü, U.v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 - juris Rn. 41).
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Hierzu wird zunächst gemäß § 77 Abs. 2 AsylG vollumfänglich auf die Bescheidsbegründung Bezug genommen.
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Darüber hinaus kann nach Auffassung des Gerichts auch in Übereinstimmung mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung von systemischen Mängeln für Belgien nicht ausgegangen werden (vgl. VG Würzburg, U.v. 23.4.2021 - W 1 K 21.50271; VG Stuttgart, U.v. 4.8.2020 - A 2 K 5706/19; VG Lüneburg, B.v. 1.3.2019 - 8 B 8/19; VG Düsseldorf, B.v. 22.1.2019 - 29 L 3642/18.A; VG Lüneburg, B.v. 1.3.2019 - 8 B 8/9; VG Düsseldorf, B.v. 22.1.2019 - 29 L 3642/18.A alle juris).
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1.1.3 Die demnach bestehende Zuständigkeit Belgiens ändert sich schließlich auch nicht deshalb, weil individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen würden. Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich.
33
1.1.4 Auch trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO ein, weil das Wiederaufnahmegesuch vom 11. März 2022 fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der EURODAC-Treffermeldung erfolgte.
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1.1.5 Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin wurde bislang auch nicht durch Fristablauf begründet, da die sechsmonatige Überstellungsfrist (fristauslösendes Ereignis ist das Wiederaufnahmegesuch) im Zeitpunkt des vorliegenden Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes noch nicht abgelaufen war. Der Antrag unterbricht daher nun den Lauf der Frist (Art. 29 Abs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin III-VO i.V.m. § 34 a Abs. 2 Satz 2 AsylG).
35
1.1.6 Eine Überstellung des Antragstellers nach Belgien ist auch nicht mit einer tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 Grundrechtecharta verbunden (vgl. zu diesem Prüfungspunkt EuGH, U.v. 16.2.2017 - C-578/16 PPU - NVwZ 2017, 691 Rn. 90 ff.), so dass eine Aussetzung der Durchführung der Überstellung nicht geboten ist.
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1.2 Die Überstellung an Belgien ist auch tatsächlich möglich und rechtlich zulässig, die Abschiebung kann daher im Sinne des § 34a AsylG durchgeführt werden.
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1.2.1 Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG angesichts des Wortlauts der Norm („feststeht“) von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Antragsgegnerin zu prüfen sind (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 - 2 BvR 732/14 - juris Rn. 11; NdsOVG, B.v. 30.1.2019 - 10 LA 21/19 - juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.7.2016 - 13 A 1859/14.A - juris Rn. 125), sind nicht ersichtlich, insbesondere eine Reiseunfähigkeit aufgrund der Schlafstörungen hat der Antragsteller nicht mittels einer (qualifizierten) ärztlichen Bescheinigung glaubhaft gemacht.
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1.2.2 Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote sind ebenfalls nicht ersichtlich. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich nicht aufgrund der vorgetragenen Schlafstörungen. Eine der Abschiebung entgegenstehende Erkrankung wurde nicht mittels einer (qualifizierten) ärztlichen Bescheinigung glaubhaft gemacht. Unabhängig von der Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wonach es bei allgemeinen Gefahren einer - vorliegend nicht bestehenden - Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG bedürfte, wäre der Antragsteller nicht über das allgemeine Risiko hinaus in besonderer Weise gefährdet, insbesondere nicht derart, dass er „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2015 - 9 ZB 14.30457 - juris Rn. 11; OVG NRW, B.v. 17.12.2014 - 11 A 2468/14.A - juris Rn. 14).
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1.3. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen.
40
1.4. Da die Klage in der Hauptsache hinsichtlich der streitgegenständlichen Nummer 3 des Bescheids vom 20. Mai 2022 voraussichtlich erfolglos bleiben wird, überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes.
41
2. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).