Inhalt

VG München, Urteil v. 07.09.2022 – M 18 K 18.1925
Titel:

Kostenerstattung (Stattgabe), Betreuung in Eltern-Kind-Einrichtung, Mutter mit geistiger Behinderung, die älter als 27 Jahre ist, Hilfebedarf wegen eines persönlichkeitsindizierten Erziehungsdefizits, Entwicklungsfähiges Potential

Normenketten:
SGB X § 104
SGB I § 43
SGB VIII § 19
SGB XII § 53
SGB VIII § 10 Abs. 4
Schlagworte:
Kostenerstattung (Stattgabe), Betreuung in Eltern-Kind-Einrichtung, Mutter mit geistiger Behinderung, die älter als 27 Jahre ist, Hilfebedarf wegen eines persönlichkeitsindizierten Erziehungsdefizits, Entwicklungsfähiges Potential
Fundstelle:
BeckRS 2022, 24364

Tenor

I. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger EUR 39.949,96 zu zahlen. Zusätzlich ist der Betrag in Höhe von EUR 12.535,68 ab Rechtshängigkeit sowie der darüber hinausgehende Betrag jeweils entsprechend der durch den Kläger erfolgten monatlichen (Teil-)Leistungen ab dem jeweiligen Leistungszeitpunkt in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein Rehabilitationsträger, begehrt von dem Beklagten, einem Jugendhilfeträger, die Erstattung von Kosten, die er für die Unterbringung der Leistungsempfängerin in einer Eltern-Kind-Einrichtung vom 2. Januar 2017 bis 6. Januar 2019 aufgewendet hat.
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Die am ... 1990 geborene Leistungsempfängerin mit einem Intelligenzniveau im Grenzbereich zwischen leichter und mittelgradiger Intelligenzminderung war seit 1997 teilstationär und von 2006 bis Juli 2008 vollstationär in heilpädagogischer Betreuung untergebracht. Entsprechend der fachärztlichen Stellungnahme vom 4. August 2006 bestand der stationäre Förderbedarf nicht aufgrund der geistigen Behinderung der Leistungsempfängerin, sondern in erster Linie aufgrund ihres in erzieherischer und emotionaler Hinsicht defizitären Elternhauses.
3
Aufgrund eines fachpsychiatrischen Gutachtens im Auftrag des Amtsgerichts Landsberg vom 25. August 2008 wurde für die Leistungsempfängerin aufgrund der leichten Intelligenzminderung eine gerichtliche Betreuung angeordnet.
4
Nachdem die Leistungsempfängerin (wohl) auf eigenen Wunsch am 1. August 2008 wieder zu ihrer Herkunftsfamilie zog, bewilligte der Beklagte ihr vom 15. Dezember 2009 bis 31. Juli 2011 eine Erziehungsbeistandschaft nach §§ 41, 30 SGB VIII. Die von dem Beklagten bei dem Kläger beantragte Kostenerstattung hierfür wurde von diesem mit Schreiben vom 2. Januar 2012 abgelehnt, da weder konkrete Aussagen zu den Einschränkungen der Leistungsempfängerin und des daraus resultierenden Hilfebedarfs, noch eine greifbare Schilderung der Unterstützungsleistungen und Entwicklungsverläufe vorgelegt worden seien, sodass eine Zuordnung der Maßnahme unter die Maßnahmen der Eingliederungshilfe nicht möglich sei. Zudem wurde mitgeteilt, dass der gesetzlichen Betreuerin ein ambulant betreutes Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung empfohlen worden sei; dafür müsse jedoch zunächst eine eigene Wohnung gefunden werden.
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In einem fachärztlichen Bericht vom 24. April 2013 zur Vorlage bei dem Kläger wird festgestellt, dass bei der Leistungsempfängerin eine wesentliche geistige Behinderung vorliege. Sie benötige Unterstützung bei den alltagspraktischen Fähigkeiten (Geldeinteilung, Haushaltsführung, Tagesstrukturierung, Freizeitgestaltung, etc.) und bei der Arbeitssuche. Ihr Allgemeinwissen weise Defizite auf, Durchhaltevermögen und Weitblick seien reduziert, ebenso Frustrations- und Stresstoleranz. Zudem liege eine herabgesetzte Konzentrationsfähigkeit, eingeschränkte Rechenfähigkeit (Unsicherheiten selbst im einstelligen Zahlenbereich) sowie ein reduziertes Abstraktionsvermögen vor. Betreutes Einzelwohnen für sechs Stunden pro Woche sei erforderlich.
6
Mit Bescheid vom 30. Oktober 2013 bewilligte der Kläger der Leistungsempfängerin ab 1. Juni 2013 Eingliederungshilfe in Form des ambulant betreuten Wohnens zunächst in der Herkunftsfamilie zur Vorbereitung ihres Auszugs. Nachdem die Leistungsempfängerin zum 1. März 2014 eine eigene Wohnung bezogen hatte, gewährte der Kläger ab diesem Zeitpunkt erstmals mit Bescheid vom 23. Juni 2014 Eingliederungshilfe in Form des ambulant betreuten Wohnens im Umfang der Hilfebedarfsgruppe 2 sowie erstmals mit Bescheid vom 24. Februar 2014 zudem Grundsicherung. Des Weiteren gewährte der Kläger mit Bescheid vom 18. Februar 2015 Eingliederungshilfe für die Betreuung der Leistungsempfängerin in einer Werkstätte für behinderte Menschen nach der Hilfebedarfsgruppe 1 ab 21. Februar 2015.
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Nachdem die gerichtlich bestellte Betreuerin der Leistungsempfängerin den Kläger am 21. Oktober 2015 über die Schwangerschaft der Leistungsempfängerin und den voraussichtlichen Entbindungstermin am 20. Juni 2016 informiert hatte, teilte dieser mit E-Mail vom 16. Februar 2016 mit, dass durch eine aktuelle Änderung der Regelungen der Kläger Kostenträger für die Leistungsempfängerin sei, da sie eine geistige Behinderung habe und unter 27 Jahre alt sei; Kostenträger für das Kind sei jedoch der Beklagte.
8
In einer internen Stellungnahme der fallverantwortlichen Fachkraft des Beklagten vom 22. April 2016 wird ausgeführt, dass eine ambulante Hilfe aufgrund der schwerwiegenden Problematik der Mutter und des Fürsorgebedürfnisses eines Neugeborenen nicht ausreichend sei. Grundsätzlich wäre eine Pflegefamilie für die Versorgung des Säuglings geeignet, jedoch könne die Mutter nicht aufgenommen werden. Derzeit lägen noch keine Anhaltspunkte vor, das Kind gegen den Willen der Mutter fremd unterzubringen bzw. Maßnahmen zur Umsetzung einer solchen Lösung zu ergreifen. Die Leistungsempfängerin wünsche sich nichts sehnlicher, als ihrem Kind eine gute Mutter zu sein. Eine stationäre Hilfe nach § 19 SGB VIII sei geeignet. Die Leistungsempfängerin könne sich eine Aufnahme in einer Eltern-Kind-Einrichtung gut vorstellen. Sie möchte lernen, ihr Kind gut zu versorgen und zu betreuen. Sie wisse mittlerweile auch, dass sie hierbei auf Unterstützung von Fachpersonal angewiesen sei. Aufgrund der Lernbehinderung sei es wichtig zu berücksichtigen, dass die stationäre Unterbringung von Mutter und Kind längerfristig ausgelegt sein müsse. Derzeit bleibe zu erwarten, dass eine Gefährdung für das Neugeborene entstehen würde, sofern die Leistungsempfängerin mit diesem alleine sei. Daher sei es dringend notwendig, dass die Leistungsempfängerin bereits vor der Entbindung in eine Eltern-Kind-Einrichtung ziehe.
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Die Leistungsempfängerin wurde am 27. Mai 2016 in eine Eltern-Kind-Einrichtung aufgenommen und gebar am 17. Juli 2016 ihre Tochter.
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Die Betreuungseinrichtung teilte den Parteien mit, dass die Kosten der Unterbringung zu 60% für die Mutter und zu 40% für das Kind anfallen würden. Der Beklagte teilte der Einrichtung mit Schreiben vom 30. Juni 2016 mit, dass er die Kosten für die Unterbringung des Kindes in der Einrichtung übernehme.
11
Mit Bescheid vom 8. August 2016 gewährte der Kläger der Leistungsempfängerin vom 27. Mai 2016 bis zunächst 1. Januar 2017 Sozialleistungen nach dem SGB XII in Form der a) Grundsicherung, b) Barbetrag zur persönlichen Verfügung, c) Bekleidungshilfe sowie d) „Eingliederungshilfe in der Mutter-Kind Einrichtung, Leistungstyp Maßnahmenpauschale § 35a SGB VIII gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1, § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit § 55 SGB IX“. In den Gründen wird ausgeführt, dass ab Aufnahme in die Einrichtung (27. Mai 2016) bis zum 16. Juni 2016 die Kosten durch den Kläger zu 100% getragen, ab 17. Juni 2016 (Geburt des Kindes) ein Anteil von 60% für die Leistungsempfängerin übernommen werde, die Restkosten von 40% würden durch den Beklagten als Jugendhilfeleistung getragen. Die Kostenübernahme sei zum 1. Januar 2017 zu begrenzen, da die Leistungsempfängerin am 2. Januar 2017 das 27. Lebensjahr vollende. Ab diesem Zeitpunkt sei nach Auffassung des Klägers das Jugendamt für die gesamte Hilfegewährung gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII zuständig.
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In einem Hilfeplanprotokoll des Beklagten vom 17. August 2016 wird hinsichtlich der Hilfeart gemäß § 19 SGB VIII ausgeführt, dass sich die Leistungsempfängerin in der Eltern-Kind-Einrichtung nicht wohl und eingesperrt fühle. Nach Einschätzung der Fachkraft wäre mindestens für ein Jahr der enge Rahmen der Eltern-Kind-Einrichtung notwendig, um die Mutter ausreichend begleiten zu können, so dass diese auf die stetig voranschreitende Entwicklung des Kindes eingehen könne. Die Leistungsempfängerin lasse sich von ihrer Umgebung massiv beeinträchtigen, das bisherige Umfeld wirke sich weitestgehend negativ auf die psychische Stabilität der jungen Frau aus, sodass es immer wieder zu massiven Konflikten gekommen sei. Die Vorstellung der Leistungsempfängerin, die diese mit einem Rückzug in ihr bisheriges Umfeld verbinde, seien wenig realistisch. Die Risikofaktoren seien erheblich, eine Rückkehr für die Entwicklung des Kindes verheerend. Der Leistungsempfängerin sei erklärt worden, dass keiner sie zwingen werde, in der Einrichtung zu verbleiben. Sollte sie sich dafür entscheiden, mit ihrer Tochter die Einrichtung zu verlassen, würden die Erzieher unmittelbar das Jugendamt des Beklagten informieren, um gemeinsam abzuwägen, inwieweit das Wohl des Kindes gefährdet sei. Gegebenenfalls werde das Kind in Obhut genommen und/oder das Familiengericht hinzugezogen.
13
In einer internen E-Mail des Beklagten vom 5. September 2016 wird ausgeführt, dass der Beklagte ab dem 27. Lebensjahr auch für die Kosten der geistig behinderten Mutter zuständig sei. Im Fachteam sei daher abzuklären, ob die Hilfe in der jetzigen Form bestehen bleiben solle.
14
Mit Bescheid vom 15. September 2016 bewilligte der Beklagte der Leistungsempfängerin „für ihre Tochter gemäß § 19 SGB VIII Maßnahmen der Jugendhilfe“. Die Hilfegewährung erfolge ab 17. Juni 2016 als gemeinsame Wohnform für Mütter/Väter und Kinder gemäß § 19 SGB VIII. Die Hilfe wurde bis auf weiteres, zunächst bis längstens 30. Juni 2017 bewilligt. In den Gründen wird ausgeführt, dass der Personensorgeberechtigte nach § 27 Abs. 1 SGB VIII bei der Erziehung eines Kindes Anspruch auf Hilfe habe. § 19 SGB VIII regle die Ausgestaltung der Förderung der Erziehung in der Familie in der Form, dass Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden sollen, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen.
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In einem Hilfeplanprotokoll des Beklagten vom 29. September 2016 wird ausgeführt, dass die Leistungsempfängerin aufgeräumter und ruhiger wäre. Ihr gelinge es immer besser, auf die Signale des Kindes zu achten und adäquat zu reagieren. Beim direkten Kontakt zwischen der Leistungsempfängerin und der Tochter sei aufgefallen, dass sie ihr Kind deutlich sicherer anfasse und anblicke, auch das Kind suche mehr Blickkontakt zu ihr als beim letzten Mal. Der Leistungsempfängerin sei aufgefallen, dass das Kind vor allem dann besonders viel schreie und unruhig sei, wenn sie selbst Stress habe. Es werde deshalb im Alltag immer wieder thematisiert, wie die Leistungsempfängerin selbst mit Stress umgehe, wie sie diesen wieder reduzieren könne und wie sie grundsätzlich damit umgehen könne. Wichtig sei, dass sie weiterhin das Bewusstsein für diese Situationen entwickle und sich Verhaltensalternativen überlege. Erste Schritte in diese Richtung seien gut erkennbar. Die Leistungsempfängerin sage selbst, dass sie in der Gruppe angekommen sei. Nicht weil es ihr so gut gefalle, sondern weil sie wisse, dass sie es vor allem für ihr Kind tue, damit es diesem gut gehe. Des Weiteren wird ausgeführt, dass es der Leistungsempfängerin nun leichter falle in der Einrichtung zu bleiben, weil ihr Freund regelmäßig komme und sie in ihrer Entscheidung bestärke, in der Einrichtung zu bleiben. Zudem sei sie vertrauensvoller gegenüber den Erzieherinnen, sie frage nach und lasse sich Dinge erklären. Sie suche immer wieder das Gespräch zu den Erzieherinnen. Sie habe weiterhin Heimweh nach ihrem vorherigen Aufenthaltsort und möchte dort in einem Jahr wieder wohnen. Allerdings sei ein Ziel, dass sich die Leistungsempfängerin immer wieder vor Augen führe, wie ihr Leben ohne die Tochter gewesen sei und wie es sich mit ihr verändert habe. So solle sie für sich auch herausfinden, was sie noch lernen möchte, um die Mutter zu werden, die sie sein möchte und die ihre Tochter brauche.
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In einer E-Mail der Einrichtung an die Betreuerin der Leistungsempfängerin vom 15. November 2016 wird angefragt, ob bekannt sei, auf welcher Grundlage der Kläger die Eingliederungshilfe für die Leistungsempfängerin nach Vollendung des 27. Lebensjahres einstellen möchte. Man könne keinen veränderten Bedarf erkennen. Um mit der Leistungsempfängerin und der Tochter nach dem 3. Januar 2017 weiterarbeiten zu können, werde eine Kostenzusage benötigt, andernfalls werde der Beklagte für das Kind eine andere Betreuungsform suchen müssen. Eine solche Entwicklung würde sehr bedauert, da man Mutter und Kind auf einem guten Weg sehe.
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Der Beklagte lehnte mit Bescheid vom 15. November 2016 den Antrag der Leistungsempfängerin vom 29. August 2016 auf Übernahme der Kosten, die ab Vollendung des 27. Lebensjahres durch ihre Unterbringung als betreuende Mutter in einer Eltern-Kind-Einrichtung im Rahmen von § 19 SGB VIII anfielen, ab.
18
Zur Begründung wird insbesondere ausgeführt, dass der Beklagte weder örtlich noch sachlich zuständig sei. Die örtliche Zuständigkeit werde verneint, da sich das Leistungsangebot nach SGB VIII explizit an Kinder, Jugendliche sowie an junge Volljährige (bis zum 27. Lebensjahr) richte. Mütter und Väter hätten altersunabhängig einen jugendhilferechtlichen Anspruch nur in ambulanter Form wie die Vorschriften der §§ 16 bis 19 SGB VIII zeigten. Eine vollumfängliche stationäre Unterbringung von Elternteilen jedes Alters im Rahmen einer Jugendhilfeleistung könne nicht gewollt sein. Auch die Vorschrift des § 85 SGB VIII hinsichtlich der sachlichen Zuständigkeit sei nicht anwendbar, da keiner der dort aufgeführten Punkte auf den vorliegenden Fall zutreffe. Zu beachten sei lediglich die Vorschrift des § 10 SGB VIII. Mit § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII werde eine Vorrangigkeit der Leistungen der Jugendhilfe gegenüber denen der Sozialhilfe eingeräumt. Dabei könne es sich nur um konkurrierende Leistungen handeln, da sonst keine Notwendigkeit für diese Vorschrift bestünde. Der einzige „überschneidende“ Bereich wäre also die Eingliederungshilfe aufgrund einer seelischen Behinderung, die jugendhilferechtlich tatsächlich auch in § 35a SGB VIII geregelt sei. Für die körperliche und geistige Behinderung junger Menschen sehe das Jugendhilferecht keine Leistungen vor, sodass sich ein gesetzlicher Regelungsbedarf ergebe, dem mit § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII Rechnung getragen werde. Über die Frage der Zuständigkeit über das 27. Lebensjahr hinaus müssten keine expliziten Regelungen getroffen werden, da es ab diesem Zeitpunkt keine Konkurrenz von Leistungen mehr gebe. Die grundsätzliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers aufgrund § 53 SGB XII sei rechtlich nicht aufgehoben, sondern nur bis zum 27. Lebensjahr also „für junge Menschen“ in Form von Vor- und Nachrangigkeit eingeschränkt. Mit dem Wegfall dieser Sonderregelung komme nun wieder die originäre Regelung des § 53 SGB XII zur Anwendung.
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Im Fall der Leistungsempfängerin seien die persönlichen Defizite eindeutig auf ihre geistige Behinderung zurückzuführen. Das jugendhilferechtliche Ziel nach § 19 SGB VIII könne nicht erfüllt werden. Denn diese Defizite könnten auch in absehbarer Zukunft nicht behoben werden oder zumindest so verbessert werden, dass eine Verselbstständigung der Leistungsempfängerin als Persönlichkeit und als Mutter eintreten könnte, die eine derartige Betreuung in Zukunft entbehrlich machen könnte. Die Unterbringung habe bei ihr aufgrund ihrer geistigen Behinderung auch den Zweck der Teilhabe an der Gesellschaft zu erfüllen. Dies könne jedoch nur in Form der Eingliederungshilfe ermöglicht werden, die ausschließlich im Sozialhilferecht vorgesehen sei und kein jugendhilferechtliches Ziel darstelle. „Im Vergleich zu § 19 sehe das SGB VIII eine ähnliche Vorschrift, nämlich die des § 27 Abs. 4 SGB VIII i.V.m. § 41 auch für junge Volljährige“ vor. Die Hilfe werde in der Regel jedoch nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt, in begründeten Ausnahmefällen sei eine Verlängerung bis zum 27. Lebensjahr möglich. Über diesen Zeitpunkt hinaus wäre Jugendhilfe auch hier nicht möglich. Auch unter diesem Blickwinkel wäre es nicht verständlich, warum nach § 19 SGB VIII genau ab diesem Zeitpunkt (27. Lebensjahr) die Zuständigkeit wieder auf den Jugendhilfeträger übergehen solle. Nicht nachvollziehbar gerade deshalb, weil bis zum 27. Lebensjahr schon ohnehin der Kläger als Sozialhilfeträger vorrangig zuständig gewesen sei. Eine Rückübertragung der Zuständigkeit widerspräche dem Gedanken, der hinter der Zuständigkeitsregelung des § 10 Abs. 4 SGB VIII stehe.
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Mit Schreiben des Beklagten vom 7. Dezember 2016 an den Kläger wird ausgeführt, dass durch den Ausfall der Zahlungen durch den Kläger, welcher aus Sicht des Beklagten weiter zuständig sei, der weitere Verbleib der Leistungsempfängerin sowie des Säuglings in der Einrichtung unmöglich sei. Aus fachlicher - und auch menschlicher Sicht - sei dies schlichtweg eine Katastrophe. Die Leistungsempfängerin befinde sich aufgrund einer geistigen Behinderung in der Einrichtung und solle dort lernen, möglichst gut für ihr Kind zu sorgen. Sie habe sich mittlerweile mit viel Bemühen aller Seiten auf die Maßnahme eingelassen und mache erste Fortschritte in die richtige Richtung. Dies reiche aber noch lange nicht aus, dass sie alleine mit dem Kind wohnen könne. Sollte der Kläger nicht bis nächste Woche der Einrichtung eine Kostenzusage machen, sehe man sich gezwungen, das Kind in Obhut zu nehmen, da aus fachlicher Sicht ein unbetreuter Verbleib bei der Mutter eine Kindeswohlgefährdung darstelle. Diese hätte zwangsläufig eine eigentlich vermeidbare Trennung von Mutter und Kind zur Folge. Es werde deshalb dringend um eine möglichst positive Reaktion in dieser Angelegenheit gebeten.
21
Der Kläger bewilligte der Leistungsempfängerin mit Bescheid vom 8. Dezember 2016, korrigiert mit Bescheid vom 12. Dezember 2016, vom 2. Januar 2017 bis zunächst 31. Dezember 2017 im Rahmen der vorläufigen Hilfegewährung gemäß § 43 SGB I notwendige Sozialleistungen nach dem SGB XII in Form der a) Grundsicherung, b) Barbetrag zur persönlichen Verfügung, c) Bekleidungshilfe sowie d) „Eingliederungshilfe in der Eltern-Kind-Einrichtung, Leistungstyp Maßnahmenpauschale § 35a SGB VIII auf der Grundlage der Hilfeplanung des Jugendamtes“.
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In den Gründen wird ausgeführt, dass von einer Zuständigkeit des Jugendamtes im Rahmen der Hilfe zur Erziehung ausgegangen werde. Da die Zuständigkeit jedoch derzeit strittig sei, gewähre der Kläger als bisherige Leistungsträger die Hilfe gemäß § 43 SGB I vorläufig weiter. Grundsätzlich handle es sich um Hilfe zur Erziehung in einer Mutter-Kind E. nach § 19 SGB VIII. Mit Vollendung des 27. Lebensjahres sei das Jugendamt für die gesamte Hilfegewährung zuständig. Die vorrangige Zuständigkeit des Klägers gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII gelte nur, bis der Elternteil des 27. Lebensjahr vollendet habe. Wenn die leistungsberechtigte Person das 27. Lebensjahr vollendet habe, habe sie einen Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe nach § 19 SGB VIII. Denn dann greife § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nicht und es bleibe gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII beim Vorrang der Jugendhilfe.
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Mit Schreiben vom 8. Dezember 2016 meldete der Kläger gegenüber dem Beklagten einen Erstattungsanspruch hinsichtlich der bewilligten Hilfe ab 2. Januar 2017 gemäß § 102 SGB X an und beantragte gleichzeitig die Übernahme der Hilfegewährung in eigener Zuständigkeit. Der Beklagte bestätigte den Eingang der Anmeldung und teilte mit, dass der Anspruch dem Grunde nach vorläufig nicht anerkannt werde.
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In dem Hilfeplanprotokoll des Beklagten vom 14. März 2017 wird festgestellt, dass die Hilfe nach § 19 SGB VIII notwendig und geeignet sei. Die Leistungsempfängerin habe weiterhin in Bezug auf ihre Rolle als Mutter gute Fortschritte gemacht. Sie könne auch selbst äußern, dass sie stolz sei auf sich als Mutter. Mit Unterstützung der Betreuerinnen würden die täglichen und notwendigen Aufgaben in Bezug auf das Kind immer besser klappen. Die Leistungsempfängerin wohne nach Absprache bereits im Nebenhaus etwas selbstständiger als noch zu Beginn der Maßnahme. Der Wechsel habe gut geklappt; die Leistungsempfängerin kümmere sich weiterhin gut um ihre Tochter. Sie hole sich aber auch rechtzeitig und im richtigen Umfang Hilfe. Ihr Wunsch sei es, zum Sommer in ein nahegelegenes eigenes kleines Apartment mit der Tochter ziehen zu können. Dort lebe sie eigenständig, habe aber noch die sichere Anbindung an die Betreuung im Haupthaus. Dies stelle einen nächsten Zwischenschritt auf dem Weg in ein eigenständiges Wohnen dar. Die Vaterschaft sei mittlerweile geklärt. Die Leistungsempfängerin kämpfe immer wieder damit, dass der Kindsvater offensichtlich noch nicht in der Lage sei, auf die Tochter zu zugehen und einen Umgang zuzulassen. Momentan erscheine es am besten, wenn der Umgang nicht stattfinde, da die Zuverlässigkeit des Kindsvaters infrage zu stellen sei. Zudem scheine es so, dass die Tochter im Moment durch die Leistungsempfängerin gut versorgt sei und es ihr auch durch die Kontakte in der Einrichtung und zu dem Vater der Leistungsempfängerin an „nichts“ im sozialen Bereich fehle.
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Auf die Aufforderung des Klägers um Stellungnahme zu dem Erstattungsanspruch teilte der Beklagte mit Schreiben vom 22. Mai 2017 mit, dass die Angelegenheit nochmals juristisch überprüft werde und im Folgenden eine endgültige Antwort erfolge. In einem Aktenvermerk des Beklagten vom 22. Mai 2017 wird festgehalten, dass es offensichtlich keine einheitliche Rechtsprechung zu dem Thema gebe und auch die Kommentare nicht weiterhelfen würden. Er stelle sich die Frage, ob herausgearbeitet werden müsse, welchen Zweck die Leistung konkret für die behinderte Mutter haben soll. Handschriftlich wurde hierauf mit Datum vom 31. Juli 2017 von dem Jugendamtsleiter vermerkt, dass die Kostenübernahme weiter abgelehnt werde.
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Die fallverantwortliche Fachkraft des Beklagten empfahl in einer Fachteam-Vorlage vom 25. Juli 2017, die Hilfe weiterzuführen. Die Leistungsempfängerin sei mittlerweile sehr bemüht, mitzuwirken. Sie sehe dabei ihre Anstrengung immer so, dass sie es für ihre Tochter tue und gleichzeitig weiterkommen könne. Ihr Ziel sei grundsätzlich wieder selbstständiger leben zu können, zum Beispiel in einer eigenen kleinen Wohnung und mit einer Berufstätigkeit wie auch vor der Geburt. Allerdings benötige die Leistungsempfängerin neben der Anleitung im Alltag vor allem in Situationen, die für sie Stress bedeuteten, eine schnelle Hilfestellung durch Betreuerinnen. Ansonsten könne sich dies sehr schnell negativ auf das Wohl der Tochter auswirken. Diese Art der Betreuung sei bei einem mehr selbstständigen Wohnen so nicht gegeben. Eine ambulante Begleitung alleine sei aktuell noch ein Schritt zu früh. Es mache deshalb mit Blick auf die Tochter S., dass die Leistungsempfängerin den nächsten Schritt in ein innenbetreutes Wohnen der Einrichtung gehe. Dort könne sie dann ihren eigenen Haushalt führen und planen, arbeiten gehen und erhalte aber gleichzeitig noch Unterstützung in schwierigen Situationen. Das gesamte Tempo werde dabei auch von der geistigen Fähigkeit der Leistungsempfängerin ein Stück weit mitbestimmt. Sie benötige für bestimmte Dinge einfach länger, bis diese sitzen würden. Die Leistungsempfängerin profitiere also in ihrer Persönlichkeitsentwicklung von der Maßnahme. Gleichzeitig würden durch die begleitende Betreuung der Tochter mögliche Entwicklungsdefizite, die durch Einschränkungen der Mutter mitverursacht werden könnten, aufgefangen und ausgeglichen.
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Der Beklagte bewilligte der Leistungsempfängerin mit Bescheid vom 27. Juli 2017 für ihre Tochter weiter Maßnahmen der Jugendhilfe gemäß § 19 SGB VIII, längstens bis 31. Juli 2018.
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Der Kläger bewilligte der Leistungsempfängerin ab dem 11. September 2017 zusätzlich Eingliederungshilfe für ihre Betreuung in einer Werkstätte für behinderte Menschen nach der Hilfebedarfsgruppe 1 mit einer stundenreduzierten Beschäftigung.
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In dem Hilfeplanprotokoll des Beklagten vom 14. November 2017 wird ausgeführt, dass die Leistungsempfängerin im August zusammen mit der Tochter in ein eigenes kleines Apartment in ein Nebenhaus der Einrichtung gezogen sei. Dieser Schritt sei richtig gewesen und sie schaffe es gut, für sich, ihren eigenen Haushalt und die Tochter zu sorgen. Die Leistungsempfängerin arbeite von 9:00 bis 14:00 Uhr, in dieser Zeit gehe die Tochter in die Kinderkrippe, nach der Arbeit hole sie die Tochter ab. Aus Sicht der Betreuerinnen könne die Leistungsempfängerin mit ihrer Tochter den nächsten Schritt in ein Doppelapartment in das betreute Wohnen schaffen. Sie sei sehr zuverlässig und kümmere sich gut und liebevoll um ihre Tochter, kenne deren Bedürfnisse und könne darauf achten. Die Betreuung im betreuten Wohnen sei nur noch untertags und zeitweise am Wochenende gewährleistet; für die Nacht gebe es eine Notfallnummer.
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In dem Hilfeplanprotokoll des Beklagten vom 7. Februar 2018 wird festgestellt, dass die Leistungsempfängerin im November 2017 zusammen mit ihrer Tochter gemeinsam mit einer weiteren Mutter und deren Sohn eine kleine komplett ausgestattete Wohnung bewohne. Die Betreuungszeiten seien deutlich weniger, der Umgang mit der Tochter und deren Versorgung klappe dennoch weiterhin gut. Die Leistungsempfängerin nutze die Zeit im Doppelapartment, um ihr geplantes Ziel, alleine mit der Tochter zu wohnen, zu erreichen. Es müsse dann geklärt werden, welche Unterstützung letztlich als Minimum erforderlich sei, um die Sicherheit und gute Entwicklung der Tochter weiter zu gewährleisten.
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Mit Bescheid vom 4. April 2018 bewilligte der Beklagte der Leistungsempfängerin weiter vorläufig Eingliederungshilfe durch die Unterbringung in der Eltern-Kind-Einrichtung gemäß § 43 SGB I bis zunächst 31. Dezember 2018.
32
Der Beklagte erhob mit Schreiben vom 19. April 2018, eingegangen am 23. April 2018, Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte zunächst:
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1. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die für die Leistungsberechtigte in der Zeit vom 2. Januar 2017 bis zum 30. April 2018 aufgewendeten Eingliederungshilfeleistungen in Höhe von 12.535,68 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten.
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2. Es wird festgestellt, dass der Beklagte auch der für die ab dem 1. Mai 2018 für die Unterbringung und Betreuung der Leistungsberechtigten in der Eltern-Kind-Einrichtung zu erbringenden Leistungen zuständige Träger ist.
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Zur Begründung führte er insbesondere aus, dass die Leistungsberechtigte zwei gleichartige Ansprüche gegen den Kläger und den Beklagten habe. Denn zum einen habe die Leistungsberechtigte Anspruch auf Hilfe nach § 19 SGB VIII, zum anderen einen Eingliederungshilfeanspruch nach § 53 SGB XII. Dieser sei gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII nachrangig gegenüber dem Jugendhilfeanspruch, sodass der Kläger Kostenerstattung nach § 104 SGB X beanspruchen könne. Die Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 SGB VIII seien für die Hilfe in der Einrichtung gegeben. Die Leistungsberechtigte habe aufgrund ihrer eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten und ihrer Verhaltensstörungen erhebliche Alltagsschwierigkeiten und Schwierigkeiten, Alltagsanforderungen zu bewältigen und insbesondere ihre und ihrer Tochter P. und Bedürfnisse zu erkennen und zu lösen. Sie sei jedoch nach einer Eingewöhnung bereit und in der Lage gewesen, die Unterstützung der Einrichtung anzunehmen und sich verantwortungsvoll um sich selbst und ihre Tochter zu kümmern. Mittlerweile ziele die Betreuung auf eine weitere Verselbstständigung der Leistungsberechtigten und ein Leben in einer eigenen Wohnung mit ihrer Tochter ab. Der Kläger sei bis einschließlich 1. Januar 2017 gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vorrangig zur Leistung von Eingliederungshilfe verpflichtet gewesen. Nach Vollendung des 27. Lebensjahres der Leistungsberechtigten greife diese Regelung nicht mehr, der Anspruch nach § 19 SGB VIII besteht aber weiterhin. Demzufolge bestehe der Vorrang des Jugendhilfeanspruchs nach § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII. Der Klage war eine Kostenaufstellung über den Zeitraum vom 2. Januar 2017 bis 30. April 2018 beigefügt.
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Die fallverantwortliche Fachkraft des Beklagten führte in einer internen Stellungnahme vom 11. Juni 2018 aus, dass die Leistungsempfängerin nach momentanem Stand nicht in der Lage sei, zusammen mit ihrer Tochter selbstständig zu leben, da ihr ihre eigene Bedürftigkeit und Bedürfnisse sowie ihre kognitiven Fähigkeiten im Wege stehen würden. Sie könne aber sehr wohl einen Schritt hinaus in eine besonders betreute Wohnform einer begleiteten Elternschaft schaffen. Grundsätzlich lasse sich bei der Leistungsberechtigten erkennen, dass sie eine gute Mutter sein könne und möchte. Aber die Persönlichkeit selbst und ihr daraus resultierendes Verhalten würden eine Gefahr für das Kindeswohl bergen, wenn die Mutter alleine wohnen würde. Es sei grundsätzlich schwierig für begleitete Elternschaft eine gemeinsame Unterbringung zu finden. Grundsätzlich bestehe durch diese Möglichkeit ein aussichtsreicher Versuch, möglichst lange ein gemeinsames Leben zu schaffen. Andernfalls würde in absehbarer Zeit bereits die Entscheidung anstehen, zur Not durch eine familiengerichtliche Entscheidung, eine Trennung von Mutter und Kind zu erzwingen. Dies erscheine momentan noch als unverhältnismäßig, vor allem solange nicht das Konzept der begleiteten Elternschaft zumindest versucht werde. Aus Gründen des Kindeswohls sei ein schneller Wechsel in eine Wohnform für die begleitete Elternschaft nicht sinnvoll. Die Hilfe solle daher in der aktuellen Form mindestens bis März 2019 weitergeführt werden.
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Mit Schriftsatz vom 28. Juni 2018 beantragte der Beklagte,
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die Klage abzuweisen.
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Er führt zur Begründung unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Ablehnungsbescheid vom 15. November 2016 aus, dass das jugendhilferechtliche Angebot der Persönlichkeitsentwicklung in § 19 SGB VIII alleine für die Bedürfnisse eines geistig behinderten Elternteils nicht ausreiche, zumal diese nicht geeignet sei, eine stationäre Unterbringung von Mutter und Kind in absehbarer Zeit entbehrlich zu machen, sondern nur auf die Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes abziele. Tatsächlich seien bei der Leistungsempfängerin auch kleine Fortschritte innerhalb ihrer Möglichkeiten nicht zu erwarten. Folglich sei nicht zu erwarten, dass sie eines Tages alleine und ohne fremde Unterstützung leben könne. Ergänzend werde im Zusammenhang mit der Persönlichkeitsentwicklung der Mutter erwähnt, dass diese bereits vor der Geburt ihres Kindes offensichtlich nicht in der Lage gewesen sei, ein selbstständiges Leben zu führen. In Anbetracht dessen, dass das Versorgen eines Kindes auch für geistig gesunde Mütter hohe Ansprüche an die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten stelle, scheine das in § 1 SGB VIII geforderte Ziel, die Leistungsempfängerin zu einem eigenverantwortlichen Leben mit ihrem Kind zu führen, zum jetzigen Zeitpunkt nicht realistisch. Die Vorschrift des § 19 SGB VIII könne nicht gegen die für geistig behinderte Menschen notwendige Eingliederungshilfe mit dem Ziel der Teilhabe an der Gesellschaft ausgespielt werden. Dieser Anspruch auf Eingliederungshilfe bestehe erst recht für diejenigen Elternteile, die über 27 Jahre und damit keine jungen Menschen im Sinne des SGB VIII mehr seien. Das Jugendhilferecht sehe keine Eingliederungshilfe für geistig behinderte Menschen vor. Offensichtlich habe der Gesetzgeber deshalb auch für junge Menschen eine Nachrangigkeit der Jugendhilfe gegenüber der Sozialhilfe bestimmt. Für Personen, die das 27. Lebensjahr erreicht hätten, müsse dies erst recht gelten, sonst erscheine die in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII geregelte vorrangige Übertragung der Zuständigkeit auf den Sozialhilfeträger bis zum 27. Lebensjahr des Elternteils absurd. Zudem bestehe von Seiten des Gesetzgebers auch keinerlei Veranlassung, die Zuständigkeit für über 27-jährige Menschen explizit zu klären. Abgesehen davon wäre eine Unterbrechung der Zuständigkeitskette zwischen dem Bezirk und dem Jugendamt ab dem 27. Lebensjahr der Mutter und maximal bis zum 6. Lebensjahr des Kindes ebenfalls nicht nur schwer nachvollziehbar, sondern im Sinne eines einheitlich-durchgängigen Hilfeangebots schädlich. Abschließend werde noch ein Vergleich mit der Handhabung der seelischen Behinderung nach der Kooperationsvereinbarung im Rahmen der Eingliederungshilfe zur Klärung der sachlichen Zuständigkeit zwischen dem Kläger und den Jugendämtern vom 30. Juni 2010 angeführt. Auch hier sei eine Zuständigkeit des Jugendamtes nach dem 27. Lebensjahr ganz offensichtlich nicht gewollt. Die Gesamtschau der Gründe für eine sozialhilferechtliche Zuordnung der Hilfe über das 27. Lebensjahr hinaus spreche daher eindeutig für einen Verbleib der sachlichen Zuständigkeit beim Kläger.
40
Auf Nachfrage des Gerichts verzichtete der Beklagte mit Schreiben vom 24. November 2021 auf mündliche Verhandlung und teilte ergänzend mit Schreiben vom 29. November 2021 mit, dass die örtliche Zuständigkeit für die Jugendhilfemaßnahme mit Fallbearbeitung und Kostenträgerschaft zum 1. März 2019 auf das Stadtjugendamt Kempten übergegangen sei.
41
Der Kläger verzichtete mit Schreiben vom 1. Dezember 2021 auf mündliche Verhandlung. Zudem teilte er mit, dass die Leistungsberechtigte ihre Teilzeitbeschäftigung in den Werkstätten zum 31. August 2018 gekündigt habe. Sie habe am 7. Januar 2019 die Eltern-Kind-Einrichtung verlassen und sei in eine eigene Wohnung nach Kempten gezogen. Seit dem 7. Januar 2019 nehme die Leistungsberechtigte Unterstützungsleistungen des ambulant betreuten Wohnens in Anspruch; hierfür gewähre der Kläger Eingliederungshilfe, zunächst nach § 53 SGB XII, seit 1. Januar 2020 nach § 99 SGB IX.
42
Mit weiterem Schreiben vom 15. Dezember 2021 änderte der Kläger aufgrund der Beendigung des Aufenthalts der Leistungsberechtigten in der Eltern-Kind-Einrichtung am 7. Januar 2019 seinen Klageantrag und beantragte nunmehr unter Rücknahme des Antrags zu 2) der Klage vom 19. April 2021:
43
In Ergänzung zum Antrag zu 1) den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger die für die Leistungsberechtigte in der Zeit vom 1. Mai 2018 bis zum 6. Januar 2019 aufgewendeten Leistungen in Höhe von 27.440,28 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten.
44
Dem Schreiben war eine Kostenaufstellung für den Zeitraum von 1. Mai 2018 bis 7. Januar 2019 beigefügt.
45
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die von Kläger und Beklagten vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

46
Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
47
Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Kostenerstattung hinsichtlich der Unterbringung der Leistungsempfängerin in einer Eltern-Kind-Einrichtung im Zeitraum vom 2. Januar 2017 bis 6. Januar 2019 in Höhe von insgesamt 39.949,96 EUR.
48
Der Verwaltungsrechtsweg ist für die Entscheidung über den geltend gemachten Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X in Verbindung mit § 114 Satz 2 Alt. 2 SGB X eröffnet. Ein Anspruch der Leistungsempfängerin gegen den Beklagten kann sich ausschließlich nach den Regelungen des SGB VIII ergeben.
49
Die mit Schriftsatz vom 15. Dezember 2021 erfolgte teilweise Änderung des Klageantrags stellt lediglich eine - aufgrund des Zeitablaufs erforderliche - Konkretisierung des ursprünglichen Klageantrags dar, vgl. § 91 VwGO (Wöckel in Eyermann, 16. Auflage 2022, VwGO § 91 Rn. 11).
50
Hinsichtlich des materiellen Rechts ist maßgeblich auf die Rechtslage für den Zeitraum vom 2. Januar 2017 bis 6. Januar 2019 abzustellen (vgl. VG München, U.v. 20.7.22 - M 18 K 18.4606 - juris Rn. 32; BVerwG, U.v. 19.10.2011 - 5 C 6/11 - juris Rn. 6).
51
Die Leistungsempfängerin hatte gegen den Beklagten im maßgeblichen Zeitraum (auch) einen Anspruch nach § 19 Abs. 1 SGB VIII in der Fassung vom 11. September 2012 (im Folgenden a.F.). Dieser Anspruch ist gegenüber dem Anspruch der Leistungsempfängerin gegen den Kläger auf Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII in der Fassung vom 27. Dezember 2003 (im Folgenden a.F.) gemäß § 10 Abs. 4 SGB VIII in der Fassung vom 11. September 2012 bzw. 23. Dezember 2016 (im Folgenden a.F.) vorrangig.
52
Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII a.F. sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen.
53
Entsprechend der obergerichtlichen Rechtsprechung kann die Betreuung in einer Eltern-Kind-Einrichtung verschiedene, aber z.T. kongruente Ziele im Blick haben. Zum einen steht das Kind selbst im Mittelpunkt. Es soll keinen Nachteil aufgrund der Gegebenheit, dass die Erziehungskompetenz des Elternteils zu gering entwickelt ist, davontragen und deshalb entsprechend gefördert werden. Außerdem kann sich die Betreuung in einer Eltern-Kind-Einrichtung in zweifacher Hinsicht an den betreffenden Elternteil richten. Zum einen kann es sich um eine sozialhilferechtliche Eingliederungsmaßnahme zur Ermöglichung der angemessenen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gemeinsam mit dem Kind handeln. Zum anderen kann auch im Hinblick auf den Elternteil gleichzeitig eine jugendhilferechtliche Zielsetzung verfolgt werden, indem der das Kind erziehende Elternteil, der durch das Defizit in der Entwicklung der Erziehungskompetenz entsprechende Hilfe bei der Pflege und Erziehung des Kindes benötigt, in seiner Persönlichkeit insbesondere auch im Hinblick auf die Erziehungsfähigkeit gestärkt werden soll. Die Hilfe soll das Defizit ausgleichen, dass die Persönlichkeit des Elternteils noch nicht so weit entwickelt ist, dass er den zusätzlichen Anforderungen durch die Elternverantwortung gerecht werden kann und verfolgt demzufolge auch eine jugendhilferechtliche Zielsetzung. So entsteht eine „komplexe, multifunktionale Leistungspalette“, die in einer bestimmten Einrichtung einheitlich angewandt wird. Diese Verknüpfung von Leistungen zu einem einheitlichen Leistungskomplex schließt aber eine getrennte Betrachtung und Anwendung der Rechtsgrundlagen und der Abrechnung sowohl der Leistungen für den behinderten Elternteil einerseits und das Kind andererseits weder logisch noch tatsächlich aus. Die Konkurrenz der möglichen Ansprüche des Elternteils auf Eingliederungshilfe gemäß §§ 53 ff. SGB XII a.F. (bzw. nunmehr SGB IX) und auf Jugendhilfe nach dem SGB VIII wird von § 10 Abs. 4 SGB VIII geregelt (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 - 5 C 19.08 - juris Rn. 29, Anschluss BSG, 22.3.2012 - zitiert in DIJuF-Rechtsgutachten vom 10.4.2012 - JAmt 12, 208; BeckOGK/Schermaier-Stöckl, 1.7.2022, SGB VIII § 19 Rn. 53-53.1; Wiesner/Wapler/Struck, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 19 Rn. 18 f.; DIJuF-Rechtsgutachten vom 10.4.2012 - J 9.140 LS - Jugendamt 2012, 208 ff.).
54
§ 19 SGB VIII setzt einen Unterstützungsbedarf voraus, der in der Persönlichkeitsentwicklung des alleinsorgenden Elternteils begründet ist. Erforderlich ist also ein Defizit in der Persönlichkeitsentwicklung, das sich gerade auf die Fähigkeit auswirkt, das Kind adäquat zu pflegen und zu erziehen. Das Persönlichkeitsdefizit muss nicht auf fehlender Reife zur Erziehung, sondern kann auch auf seelischer, geistiger oder körperlicher Behinderung des Elternteils beruhen. Denn das mit § 19 SGB VIII verfolgte spezifisch jugendhilferechtliche Ziel der Behebung oder Milderung eines Persönlichkeitsdefizits der Mutter (oder des Vaters) besteht gerade darin, eine der Entstehung eines Erziehungsdefizits beim Kind vorbeugende Art des Zusammenlebens zu unterstützen und sicherzustellen und kann deshalb nicht von der Art der Ursache dieses (nicht unbehebbaren) Defizits abhängen (Struck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 19 Rn. 9; Telscher, in Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB VIII, 2. Aufl. Stand: 2.8.2021, Rn. 13 m.w.N.; BeckOGK/Schermaier-Stöckl, 1.7.2022, SGB VIII § 19 Rn. 19, 20).
55
Maßstab ist daher immer das Entwicklungspotenzial im Hinblick auf die Elternkompetenz und nicht auf die Erreichbarkeit einer Verselbstständigung (BeckOGK/Schermaier-Stöckl, 1.7.2022, SGB VIII § 19 Rn. 19, 20; OVG NW, B.v. 2.2.2017 - 12 B 119/17 - juris Rn. 8 ff.; NdsOVG, B.v. 18.7.2016 - 4 ME 163/16 - juris Rn. 4; BayLSG, U.v. 10.5.2016 - L 8 SO 46715 - UA S. 14; VG Gelsenkirchen, U.v. 10.6.2005 - 19 K 1193/03 - juris Rn. 21; VG Hamburg, U.v. 26.5.2005 - 13 K 195/05 - juris Rn. 25: ausreichend ist das Ziel eines Lebens in einer ambulant betreuten Wohnform, in der die betreffende Hilfeempfängerin auch vor der Geburt gelebt hat; VG München, U.v. 7.11.2012 - M 18 K 11.326 - juris Rn. 54). Dafür spricht schon die Zielrichtung des § 19 SGB VIII, welche die Stärkung der Elternautonomie und Bearbeitung der Persönlichkeitsdefizite primär im Hinblick auf die Verbesserung der Lebenssituation des Kindes verfolgt. Aus Sicht des Kindeswohls genügt es, dass trotz Behinderung eine Bindung zum Kind aufgebaut und eine Beziehung zum Kind entwickelt werden kann, die eine unterstützungsfähige, einem Erziehungsdefizit beim Kind vorbeugende Entwicklung zulässt (Schermaier-Stöckl in Wellenhofer/Jox, beck-online Großkommentar, Stand: 1.4.2022, § 19 SGB VIII Rn. 20).
56
Hierbei ist die Elternschaft von Menschen mit Behinderung grundsätzlich anders zu bewerten als von Menschen ohne Behinderung (Telscher, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, Stand 2.8.2021, § 19 Rn. 41). Ausreichend ist daher die Möglichkeit einer Milderung durch eine pädagogische und ggf. therapeutische Einflussnahme. Die Behebung des Defizits ist nicht erforderlich (Struck, in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 19 Rn. 9 m.w.N.) bzw. es wird nur darauf abgestellt, ob der Elternteil gerade dieser Form der Unterstützung bedarf (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 - 5 C 19/08 - juris Rn. 11). Nicht geeignet ist die Leistung nach § 19 SGB VIII, wenn auf die Persönlichkeit der Mutter oder des Vaters nicht eingewirkt werden kann (VG Würzburg, U.v. 12.12.2013 - W 3 K 13.217 - juris). Der Erfolg der Maßnahme muss allerdings nicht überwiegend wahrscheinlich sein; ausreichend ist, dass nicht von vornherein feststeht, dass die Maßnahme scheitern wird (BeckOK SozR/Winkler, 65. Ed. 1.6.2022, SGB VIII § 19 Rn. 9a).
57
Der Wortlaut der Vorschrift („solange“) steht dieser weiten Auffassung nicht entgegen. Er bringt zum Ausdruck, dass die Hilfe zu beenden ist, wenn die Unterstützung nicht mehr benötigt wird, aber nicht, dass die Behebung des Persönlichkeitsdefizits möglich sein muss (OVG NW, B.v. 30.11.2000 - 22 B 762/00 - juris Rn. 13; vgl. Telscher, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGBVIII, Stand: 2.8.2021, § 19 Rn. 2 ff., 14).
58
Die wohl von dem Beklagten unter Berufung auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 12. Dezember 2013 (Az.: W 3 K 13.217 - juris [bestätigt durch BayVGH, B.v. 12.2.2014 - 12 ZB 14.249 - unveröffentlicht]) vertretene Position, dass Ziel des entwicklungsfähigen Potenzials die vollständig selbstständige Lebensführung zusammen mit dem Kind sein müsse, verkennt dies. Leistungsansprüche aus § 19 SGB VIII kommen nur dann nicht in Betracht, wenn nicht abgesehen werden kann, dass die gemeinsame Unterbringung des Elternteils mit dem Kind dazu führen wird, dass - wenn auch nach einem längeren Zeitraum - die Mutter oder der Vater zu einem eigenverantwortlichen selbständigen Leben mit dem Kind befähigt sein wird (BayVGH, B.v. 12.2.2014, a.a.O.). Bei dem dieser Entscheidung zugrundeliegendem Sachverhalt waren bei der Leistungsempfängerin nach der Beurteilung auch durch die Gerichte keinerlei Entwicklungspotenzial und Schritte zur Verselbstständigung zu erkennen. Ein solcher Sachverhalt ist vorliegend jedoch nach Würdigung durch das Gericht nicht gegeben.
59
Vielmehr war die Leistung gerade auch auf die jugendhilferechtliche Zielsetzung bezüglich der Mutter gerichtet und sollte nicht nur ein Zusammenleben mit dem Kind aus dem Blickwinkel der Eingliederungshilfe gemäß SGB XII a.F. ermöglichen. Die fachlichen Stellungnahmen rechtfertigen die rechtliche Bewertung, dass die Leistungsempfängerin insbesondere über ein entwicklungsfähiges Potential im Hinblick auf das persönlichkeitsindizierte Defizit im Bereich der Erziehungskompetenz verfügte.
60
Die Leistungsempfängerin war vor der Unterbringung in der Eltern-Kind-Einrichtung zu keinem Zeitpunkt durch ihre Behinderung soweit eingeschränkt, dass aufgrund dieser eine stationäre Unterbringung erforderlich war. Auch die Unterbringung der Leistungsempfängerin durch den Beklagten von 2006 bis 2008 erfolgte ausschließlich wegen des erzieherisch und emotional defizitären Elternhauses (vgl. Facharztgutachten vom 4. August 2006). Außerhalb dieses Zeitraums erhielt die Leistungsempfängerin ausschließlich unterstützende ambulante Hilfen, lebte im Zeitpunkt der Schwangerschaft in einer eigenen Wohnung und arbeitete in einer Werkstätte für behinderte Menschen. Daneben erhielt sie Eingliederungshilfe in Form des ambulant betreuten Wohnens mit maximal 228 Fachleistungsstunden pro Jahr, folglich ca. vier Stunden pro Woche, primär zur Unterstützung bei alltagspraktischen Fähigkeiten (vgl. Facharztbericht vom 24. April 2013, Bescheid des Klägers vom 23. Juni 2014).
61
Aus den Hilfeplanprotokollen des Beklagten vom 17. August und 29. September 2016 ergibt sich, dass es der Leistungsempfängerin bereits kurze Zeit nach Aufnahme in die Eltern-Kind-Einrichtung besser gelang, auf die Signale des Kindes zu achten und adäquat zu reagieren. Sie sei vertrauensvoller gegenüber den Erzieherinnen, frage nach, lasse sich Dinge erklären und suche immer wieder das Gespräch mit ihnen. Zudem seien Fortschritte hinsichtlich des Bewusstseins für Stresssituationen und Verhaltensalternativen gut erkennbar. Auch in der Mitteilung der Betreuungseinrichtung vom 15. November 2016 wird erwähnt, dass man die Leistungsempfängerin auf einem guten Weg sehe.
62
Damit war bereits zu diesem Zeitpunkt hinreichend deutlich erkennbar, dass bei der Leistungsempfängerin ein Entwicklungspotenzial vorhanden ist, das es ihr langfristig ermöglicht, eine Bindung zum Kind aufzubauen und eine stabile Mutter-Kind-Beziehung einzugehen. Die Leistungsempfängerin hat auch von Anfang an deutlich zum Ausdruck gebracht, dass dies ihr größter Wunsch sei und dementsprechend nach einer kurzen Eingewöhnungszeit das Angebot der Einrichtung aktiv in Bezug auf ihre Erziehungsfähigkeit in Anspruch genommen. Die Beurteilung durch den Beklagten im Ablehnungsbescheid vom 15. November 2016 im Hinblick zu Leistungen nach § 19 SGB VIII kann daher nicht nachvollzogen werden. Bereits der Ansatz, dass vollumfängliche stationäre Unterbringungen von Elternteilen durch die Jugendhilfe nicht gewollt seien, widerspricht eindeutig der Regelung in § 19 SGB VIII, der gerade eine stationäre Unterbringung - und soweit erforderlich auch nicht nur kurzfristig wie vom Beklagten offenbar angenommen - vorsieht. Zudem stellt der Beklagte fehlerhaft ausschließlich auf die (unbehebbaren) Defizite der Leistungsempfängerin aufgrund ihrer Behinderung, nicht jedoch auf die vorliegend primär relevanten Erziehungsdefizite ab. Dass bei der Leistungsempfängerin hinsichtlich dieser ein erkennbares Entwicklungspotential vorhanden war, das voraussichtlich langfristig zu einem deutlich geringeren Hilfebedarf führt, zeigte sich jedoch bereits zum damaligen Zeitpunkt hinreichend in ihrer Entwicklung. Die Beurteilung des Beklagten, dass dieses Defizit in absehbarer Zeit nicht behoben oder verbessert werden könne, steht hierzu in Widerspruch.
63
Die Leistungsempfängerin hatte daher (mindestens) zum Zeitpunkt ihres 27. Geburtstages auch einen Anspruch gegen den Beklagten auf Hilfeleistung in Form auch ihrer eigenen Unterbringung in einer Eltern-Kind-Einrichtung. Die Aussage des Beklagten hierzu im Bescheid vom 15. November 2016 (auf die auch im Weiteren verwiesen wurde), dass Jugendhilfe regelmäßig nur bis zum 21., in Ausnahmefällen bis zum 27. Lebensjahr geleistet werde, kann durch das Gericht nicht nachvollzogen werden. Vielmehr richten sich Leistungen der Jugendhilfe in großem Umfang als Hilfe zur Erziehung an die Personenberechtigten, § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, unabhängig von deren Alter. Ebenso wird die Leistung nach § 19 SGB VIII auf stationäre Unterbringung von Eltern und ihren Kindern - lediglich in Abhängigkeit zu dem Alter des Kindes - gegenüber den Eltern unabhängig von deren Alter erbracht.
64
Schließlich belegen auch die weiteren Hilfeplanprotokolle vom 14. März 2017, 14. November 2017 sowie 7. Februar 2018 sowie die Stellungnahme der fallverantwortlichen Fachkraft des Beklagten vom 11. Juni 2018 hinreichend deutlich, dass bei der Leistungsempfängerin eine deutliche Entwicklung hinsichtlich ihrer Erziehungsfähigkeit sowie Persönlichkeit feststellbar war, die zu einer immer größer werdenden Selbstständigkeit in der Betreuung ihres Kindes und schließlich zu einem eigenständigen Wohnen mit diesem führte. Die Aussage des Beklagten in der Klageerwiderung vom 28. Juni 2018, dass bei der Leistungsempfängerin auch kleine Fortschritte innerhalb ihrer Möglichkeiten nicht zu erwarten seien, verwundert vor diesem Hintergrund.
65
Schließlich mag es zwar sein, dass der Beklagte erhebliche Zweifel daran hatte, ob ein eigenständiges Leben der Leistungsberechtigten mit dem Kind langfristig dem Kindswohl gerecht werde und er dementsprechend mehrfach eine mögliche Trennung von Mutter und Kind zumindest intern thematisierte (vgl. Vermerke vom 22.4.2016, 17.8.2016, 7.12.2016, 11.6.2018). Dies hat jedoch - unabhängig von der Richtigkeit der fachlichen Beurteilung - nicht zur Folge, dass der Leistungsempfängerin jegliche Entwicklung ihrer Erziehungsfähigkeit und Persönlichkeit hin zu einer stabilen Mutter-Kind-Beziehung abgesprochen werden kann.
66
Dementsprechend waren die Voraussetzungen des § 19 SGB VIII a.F. im maßgeblichen Zeitraum gegeben.
67
Der Anspruch der Leistungsempfängerin nach § 19 SGB VIII a.F. ist gegenüber dem Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII a.F. für über 27-Jährige Personensorgeberechtigte gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII a.F. vorrangig.
68
Nach dieser Vorschrift gehen Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII Leistungen nach dem SGB IX und XII vor, so dass Leistungen nach § 19 SGB VIII a.F. vorrangig vor kongruenten Leistungen nach den Vorschriften des SGB IX und XII zu erbringen sind. Der für die Unterbringung der Leistungsempfängerin in der Eltern-Kind-Einrichtung vorgesehene grundsätzliche Leistungsvorrang des Beklagten als Träger der Jugendhilfe ist vorliegend auch nicht durch die Ausnahmevorschrift des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII a.F. ausgeschlossen. Denn die Leistungsempfängerin war im streitgegenständlichen Zeitraum über 27 Jahre alt und damit kein junger Mensch mehr im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII.
69
Eine - wie vom Beklagten vertretene - teleologische Extension des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII a.F. (vgl. Kunkel/Kepert/Dlugosch, in Kunkel/Keper/Pattar, SGB VIII, 8. Auflage 2022, § 19 Rn. 23) kommt nicht in Betracht. Dieser vereinzelt gebliebene Vorschlag kann mit seinem Argument, dass es widersinnig wäre, bei behinderten Elternteilen, die älter als 27 Jahre sind, den Jugendhilfeträger für zuständig zu halten, während bei jüngeren behinderten Elternteilen der Träger der Eingliederungshilfe nach SGB IX zuständig sei, dem eindeutigen Wortlaut, der systematischen Stellung und dem Zweck der Vorschrift nichts Ausreichendes entgegensetzen (vgl. VG München, U.v. 8.6.2022 - M 18 K 17.4961 - juris Rn. 47; U.v. 7.11.2012 - M 18 K 11.326 - juris Rn. 66 ff.; offen gelassen BayVGH, B.v. 12.2.2014 - 12 ZB 14.249 - unveröffentlicht Rn. 16). Vielmehr ist ein Wechsel der vorrangig Leistungsverpflichteten im Bereich des Sozialrechts nicht ungewöhnlich.
70
Schließlich kann auch der obergerichtlichen Rechtsprechung zur Anwendung von § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII a.F. zur Lösung der Leistungskonkurrenz (BVerwG, U.v. 22.10.2009 - 5 C 19.08 - juris; BSG, 22.3.2012 - zitiert in DIJuF-Rechtsgutachten vom 10.4.2012 - JAmt 12, 208) kein Hinweis darauf entnommen werden, dass die Regelung hinsichtlich der dort genannten Altersgrenze keine Anwendung finden solle. Vielmehr findet sich auch im § 19 SGB VIII a.F. die Bezugnahme auf eine Altersgrenze hinsichtlich des zu betreuenden Kindes, sodass auch aufgrund dessen ein Zuständigkeitswechsel erfolgen kann (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 - 5 C 19.08 - juris Rn. 19).
71
Soweit der Beklagte hierzu im Übrigen zur Untermauerung seiner Argumentation einen Vergleich zu den Regelungen in der Kooperationsvereinbarung vom 1. August 2010 zwischen dem Kläger als überörtlichem Sozialhilfeträger und den Landkreisen zieht, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht bereits mehrfach festgestellt hat, dass durch diese Kooperationsvereinbarung ein Abweichen von den gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen nicht zulässig ist und diese daher insoweit unwirksam sind (vgl. zuletzt: VG München, B.v. 6.7.2022 - M 18 E 22.2359 - juris Rn. 73 ff. m.w.N.).
72
Der Beklagte ist somit dem Kläger zur Erstattung der angefallenen Kosten verpflichtet.
73
Der Erstattungsanspruch des Klägers ist auch im begehrten Umfang in Höhe von insgesamt Euro 39.949,96 (Vergleich Klageantrag 1) für den Zeitraum vom 2. Januar 2017 bis 30. April 2018 in Höhe von 12.535,68 EUR sowie Konkretisierung des Klageantrags 2) in Form einer Ergänzung des Klageantrags 1) für den Zeitraum vom 1. Mai 2018 bis 6. Januar 2019 in Höhe von zusätzlichen 27.414,28 EU gegeben; in diesem Umfang hat der Kläger Eingliederungshilfe für die Leistungsempfängerin in der Form der Unterbringung in der Eltern-Kind-Einrichtung gewährt. Dies wird vom Beklagten auch nicht in Zweifel gezogen. Die Kosten wären in gleicher Höhe auch bei dem Beklagten für die Leistung angefallen, vgl. § 104 Abs. 3 SGB X.
74
Der geltend gemachte Erstattungsanspruch wurde auch entsprechend § 111 SGB X mit dem Schreiben des Klägers vom 8. Dezember 2016 ausreichend geltend gemacht und ist nicht verjährt, § 113 SGB X.
75
Der Anspruch auf Prozesszinsen ergibt sich in entsprechender Anwendung von § 291 Satz 1 und Satz 2, § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB. Nachdem mit dem ursprünglichen Klageantrag auch die Feststellung beantragt wurde, dass der Beklagte ab 1. Mai 2018 für die Leistung zuständig ist und dieser Klageantrag lediglich sachgerecht im Laufe des Verfahrens hinsichtlich der weiteren monatlich entstandenen Kosten über den Zeitraum 1. Mai 2018 bis 6. Januar 2019 konkretisiert wurde, ist auch insoweit bereits von einer Rechtshängigkeit mit Klageerhebung auszugehen (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2001 - 5 C 34/00). Da eine Erstattungspflicht jedoch erst mit Fälligkeit und damit vorliegend jeweils erst mit den ab dem 1. Mai 2018 erfolgten monatlichen (Teil-)Leistungen durch den Kläger an die Betreuungseinrichtung eintritt, sind die monatlich entstandenen (Teil-)Erstattungsansprüche auch erst ab dem jeweiligen Leistungszeitpunkt durch den Kläger zu verzinsen, vgl. § 291 Satz 1 Halbs. 2 BGB; OVG NW, U.v. 30.11.2021 - 9 A 118/16 - juris Rn. 266 ff.).
76
Der Klage war somit vollumfänglich stattzugeben.
77
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
78
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils und die Abwendungsbefugnis haben ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung - ZPO.