Titel:
Asylverfahren von Familienangehörigen mit afghanischer und kasachischer Staatsangehörigkeit
Normenketten:
AsylG § 3, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Über asylrechtlichen Abschiebungsschutz bzw. die Zuerkennung internationalen Schutzes kann grundsätzlich nur einheitlich entschieden werden. Dabei sind sämtliche Staaten, deren Staatsangehörigkeit der Betroffene möglicherweise besitzt oder in denen er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, in die Prüfung einzubeziehen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich des Herkunftsstaats ist, anders als bei der Prüfung des asylrechtlichen Abschiebungsschutzes, nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Asylbewerber Schutz in einem anderen Staat finden kann, dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls besitzt (wie BVerwG BeckRS 2007, 27647). (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für Familien mit minderjährigen Kindern besteht, gerade angesichts der durch die Machtergreifung der Taliban drastisch verschlechterten wirtschaftlichen Lage, regelmäßig ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kasachstan, Afghanistan, doppelte Staatsangehörigkeit, Rechtsschutzbedürfnis, Pflicht zum Durchentscheiden, einheitliche Entscheidung über die Zuerkennung internationalen Schutzes, Möglichkeit, Schutz in einem der Herkunftsstaaten zu finden, nationales Abschiebungsverbot grundsätzlich für jeden Herkunftsstaat zu prüfen, Abschiebungsverbot bzgl. Afghanistan, Asylstreitverfahren einer Familie mit Kindern, Zuerkennung internationalen Schutzes, Schutzmöglichkeit in einem der Herkunftsstaaten, nationales Abschiebungsverbot, wirtschaftliche Lage in Afghanistan
Fundstelle:
BeckRS 2022, 23884
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. April 2022 wird in Ziffer 4 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu 1/5, die Beklagte zu 4/5 zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
1
Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags und begehren die Zuerkennung internationalen Schutzes sowie hilfsweise die Feststellung, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich Kasachstan vorliegen.
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1. Die Kläger sind nach eigenen Angaben afghanische Staatsangehörige vom Volk der P. und islamisch-sunnitischen Glaubens. Sie gaben an, am ... 1988, ... 2011, ... 2015 bzw. ... 2017 in K./Afghanistan geboren zu sein. Ausweislich der VIS-Antragsauskunft wurden die Kläger zu 3) und 4) in Kasachstan geboren. Die Klägerin zu 1) und ihr Ehegatte erklärten, sie hätten ihr Herkunftsland Afghanistan 7 bis 9 Monate vor ihrer Einreise unter anderen über Kasachstan verlassen und seien mit tschechischen Visa Anfang bzw. Mitte April 2019 ins Bundesgebiet eingereist. Sie stellten am 29. April 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Asylanträge. Die Klägerin zu 1) wurde wie ihr Ehegatte am 8. Mai 2019 beim Bundesamt angehört. Dabei trug die Klägerin zu 1) insbesondere vor, der Schleuser habe die k. Reisepässe besorgt, sie seien etwa 5 bis 6 Monate in Kasachstan gewesen, hätten aber nie die Absicht gehabt, zu bleiben. Auf das weitere Vorbringen wird Bezug genommen.
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Das Auswärtige Amt teilte auf Anfrage des Bundesamts vom 8. März 2021 (Bl. 622 f. d.A.) mit Schreiben vom 18. März 2022 (Bl. 689 f. d.A.) mit, dass es sich um originale kasachische Pässe zu handeln scheine. Hinweise, dass eine kasachische Staatsangehörigkeit auf illegalem Weg erworben worden sei, seien nicht bekannt geworden. Mit weiterem Schreiben vom 18. Mai 2022 (Bl. 859 f. d.A.) teilte das Auswärtige Amt Folgendes mit:
„Zu Ihrer Anfrage hat das k. Außenministerium nun doch eine Antwort übersandt mit folgenden Informationen: 1) M. N., geb. ....1980, erwarb am 05.06.2017 die k. Staatsangehörigkeit. Ihm wurden im Juni 2017 ein k. Personalausweis, Nu. … sowie ein k. Reisepass, Nr. …, gültig bis 21.6.2027, ausgestellt.
2) R. S., geb. ....1988, erwarb am 12.06.2018 die k. Staatsangehörigkeit und ihm/ihr wurden am 17.07.2018 ein k. Personalausweis Nr. … und ein k. Reisepass, Nr. … ausgestellt, gültig bis 16.7.2028.
3) K. M., geb. ....2011, erwarb am 05.06.2017 die k. Staatsangehörigkeit, ihm/ihr wurde am 23.6.2017 ein k. Reisepass, Nr. … ausgestellt, gültig bis 22.06.2027.
4) Für I. M. N., geb. am ....2015, wurde am 11.01.2019 ein k. Reisepass ausgestellt, Nr. …, gültig bis 10.01.2029.
5) Für B. M. N., geb. am ....2017, wurde am 11.01.2019 ein k. Reisepass ausgestellt, Nr. … ausgestellt, gültig bis 10.01.2029.
Gemäß Art.4 des StAG der Republik K. sind Nachweise der k. Staatsangehörigkeit Pässe und Personalausweise der k. Bürger.
Die o.g. Personen sind laut StAG vom 20.12.1991 k. Staatsangehörige geworden.“
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2. Mit Bescheid vom 5. April 2022, zugestellt am 12. April 2022, lehnte das Bundesamt den Antrag der Kläger sowie ihres Ehegatten/Vaters auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung sowie auf subsidiären Schutz ab (Nrn. 1 bis 3). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Kläger wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung - im Fall der Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens - zu verlassen, andernfalls wurde die Abschiebung nach Kasachstan oder in einen anderen aufnahmebereiten oder zur Aufnahme verpflichteten Staat angedroht. Die durch die Bekanntgabe der Entscheidung in Lauf gesetzte Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Weiterhin wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass die Kläger zwei Staatsangehörigkeiten besäßen (Kasachstan und Afghanistan). Hinsichtlich der weiteren Gründe wird auf den Bescheid Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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3. Am 26. April 2022 ließen die Kläger beim Verwaltungsgericht Ansbach Klage erheben. Nach Anhörung der Beteiligten verwies dieses die Klage mit Beschluss vom 9. Mai 2022 an das Verwaltungsgericht Würzburg. Die Kläger beantragten zuletzt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 5. April 2022 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen;
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, den Klägern den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen;
weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Kasachstan vorliegen;
weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.
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Eine Begründung erfolgte nicht.
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4. Die Beklagte beantragt,
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5. Mit Beschluss vom 23. Mai 2022 hat die Kammer den Rechtsstreit der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen. Mit weiterem Beschluss des Gerichts vom gleichen Tag wurde das Verfahren bezüglich des Ehegatten/Vaters der Kläger vom vorliegenden Verfahren abgetrennt und unter dem Az. W 7 K 22.30399 fortgeführt. Auf das Urteil vom heutigen Tag in diesem Verfahren wird verwiesen. Der Asylantrag des jüngsten, am 20. August 2019 in Deutschland geborenen Sohns/Bruders wurde mit Bescheid des Bundesamts vom 8. April 2022 abgelehnt. Hiergegen wurde im Verfahren W 7 K 22.30373 Klage erhoben; auf das Urteil vom heutigen Tag in diesem Verfahren wird verwiesen.
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In der mündlichen Verhandlung am 26. August 2022 wurde das Verfahren der Kläger mit den Verfahren ihres Ehegatten/Vaters (W 7 K 22.30399) sowie des jüngsten Sohns/Bruders (W 7 K 22.30373) zu gemeinsamer Verhandlung verbunden.
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6. Wegen der weiteren Einzelheiten, insbesondere hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung vom 26. August 2022, wird auf den Inhalt der Gerichtssowie der vorgelegten Behördenakten, auch im Hinblick auf die übrigen Familienmitglieder, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte durch die Einzelrichterin entscheiden, nachdem dieser das Verfahren durch Beschluss der Kammer zur Entscheidung übertragen worden ist, § 76 Abs. 1 AsylG. Die zulässige Klage, über die nach § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten/der ordnungsgemäß geladenen Beteiligten verhandelt und entschieden werden durfte, ist im tenorierten Umfang begründet. Die Kläger haben zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistan. Ziffer 4 des streitgegenständlichen Bescheids vom 5. April 2022 ist daher rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, weshalb der Bescheid insoweit aufzuheben war, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Kläger haben jedoch keinen Anspruch auf die weiteren begehrten Entscheidungen des Bundesamts zu ihren Gunsten. Der streitgegenständliche Bescheid ist daher im Übrigen rechtmäßig und verletzt die Kläger insoweit nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Ablehnung der Asylanerkennung (Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids) ist bereits unanfechtbar geworden.
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I. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die zweiwöchige Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG gewahrt. Maßgeblich hierfür ist gemäß § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17b Abs. 1 Satz 2 GVG der Eingang beim Verwaltungsgericht Ansbach (BVerwG, U.v. 31.10.2001 - 2 C 37.00 - NJW 2002, 768; OVG Berlin-Bbg, U.v. 13.4.2016 - OVG 10 A 9.13 - BeckRS 2016, 47251 Rn. 23 f.; jeweils m.w.N.).
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Die Kläger haben auch ein Rechtsschutzinteresse insbesondere für ihre Klage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots hinsichtlich Afghanistan.
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Die Einzelrichterin teilt die Auffassung des Bundesamts, dass die Kläger sowohl die kasachische als auch die afghanische Staatsangehörigkeit haben; auf die entsprechenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Im konkreten Fall der Kläger gilt dies trotz des Umstands, dass die Republik Kasachstan grundsätzlich keine doppelte Staatsangehörigkeit duldet (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Osnabrück vom 20.6.2019). Die Einschätzung, dass die Kläger auch die kasachische Staatsangehörigkeit haben, wird durch die oben dargestellte Auskunft des k. Außenministeriums an das Auswärtige Amt untermauert. Denn hierdurch hat der kasachische Staat klar zum Ausdruck gebracht, dass er die Kläger als seine Staatsangehörige betrachtet und bereit ist, sie aufzunehmen.
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Das Bundesamt hat zwar selbst nicht geprüft, ob die Kläger einen Anspruch auf die begehrten Entscheidungen im Hinblick auf das (weitere) Herkunftsland Afghanistan haben, sondern seine Prüfung auf Kasachstan beschränkt. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesamt im ablehnenden Bescheid insbesondere weder die Abschiebung in diesen Staat angedroht, noch eine Feststellung über das Nichtbestehen von Abschiebungsverboten hinsichtlich dieses Staats getroffen. Das Gericht hat die Sache jedoch in den Grenzen der §§ 86 Abs. 1, 88 VwGO „spruchreif“ zu machen, also in der Sache durchzuentscheiden. Eine bloße Aufhebung des angegriffenen Ablehnungsbescheids und Zurückverweisung an das Bundesamt würde zudem dem Rechtsschutzbegehren der Kläger nicht in vollem Umfang gerecht, das auf eine positive Sachentscheidung und damit auf eine Verpflichtung des Bundesamts gerichtet ist (BVerwG, U.v. 2.8.2007 - 10 C 13.07 - EZAR NF 69 Nr. 2 Rn. 4 f.; U.v. 8.2.2005 - 1 C 29.03 - NVwZ 2005, 1087, 1088 f.; VG Würzburg, U.v. 15.4.2021 - W 10 K 19.31993 - BeckRS 2021, 9360 Rn. 26 ff. u.V.a. BVerwG, U.v. 10.2.1998 - 9 C 28.97 - juris; VGH BW, U.v. 19.6.2012 - A 2 S 1355/11 - juris Rn. 30; VG Bayreuth, U.v. 27.11.2008 - B 5 K 08.30028 - juris Rn. 26).
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Im Hinblick darauf, dass die Kläger jedenfalls auch die afghanische Staatsangehörigkeit besitzen, liegt in Bezug auf die Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG auch kein Fall eines vorbeugenden Rechtsschutzes bzw. eines Rechtsschutzes „auf Vorrat“ vor. Denn der Asylsuchende hat Anspruch auf die Feststellung eines derartigen Abschiebungsverbots jedenfalls hinsichtlich der Staaten, für die das Bundesamt verpflichtet ist, eine solche Feststellung zu treffen, für die es eine ihm nachteilige Feststellung bereits getroffen hat oder in die abgeschoben zu werden er aus berechtigtem Anlass sonst befürchten muss. Hinsichtlich des Herkunftsstaats (bzw. bei mehreren Staatsangehörigkeiten: der Herkunftsstaaten) des Asylbewerbers ist das Bundesamt aber regelmäßig zur Prüfung und Feststellung von Abschiebungsverboten verpflichtet. Korrespondierend mit der gesetzlichen Verpflichtung des Bundesamts hat der Asylbewerber einen materiell-rechtlichen Anspruch (BVerwG, U.v. 2.8.2007 - 10 C 13.07 - EZAR NF 69 Nr. 2 Rn. 4 f.).
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II. Die Klage ist nur im tenorierten Umfang begründet.
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1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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a) Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung ist § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG (BT-Drs. 16/5065, S. 213; vgl. auch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG).
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Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen.
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Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Lands (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
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Dem Ausländer muss eine Verfolgungshandlung drohen, die mit einem anerkannten Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) eine Verknüpfung bildet, § 3a Abs. 3 AsylG. Als Verfolgungshandlungen gelten gemäß § 3a AsylG solche Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - EMRK (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1) oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Die für eine Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsschutzes nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG relevanten Merkmale (Verfolgungsgründe) sind in § 3b Abs. 1 AsylG näher definiert. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung sowohl von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Nach § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft allerdings nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2) (interner Schutz bzw. innerstaatliche Fluchtalternative).
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Maßgeblich für die Beurteilung, ob sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb des Heimatlands befindet, ist der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, der dem Maßstab des „real risk“, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei der Prüfung des Art. 3 EMRK anwendet, entspricht (vgl. EGMR, U.v. 28.2.2008 - 37201/06, NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.; U.v. 23.2.2012 - 27765/09, NVwZ 2012, 809 Rn. 114). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) ist die Furcht des Ausländers begründet, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - juris Rn. 14; VGH BW, U.v. 3.11.2016 - A 9 S 303/15 - juris Rn. 32 ff.; NdsOVG, U.v. 21.9.2015 - 9 LB 20/14 - juris Rn. 30).
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Wurde der betroffene Ausländer bereits verfolgt oder hat er einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten bzw. war er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht und weisen diese Handlungen und Bedrohungen eine Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund auf, greift zu dessen Gunsten die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL, wonach die Vorverfolgung bzw. Vorschädigung einen ernsthaften Hinweis darstellt, dass sich die Handlungen und Bedrohungen im Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - juris Rn. 15). Die Vorschrift privilegiert den betroffenen Ausländer durch eine widerlegliche Vermutung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Eine Widerlegung der Vermutung ist möglich, wenn stichhaltige Gründe gegen eine Wiederholung sprechen. Durch Art. 4 Abs. 4 QRL wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte davon befreit, stichhaltige Gründe dafür vorzubringen, dass sich die Bedrohungen erneut realisieren, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt.
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Dem Ausländer obliegt gleichwohl die Pflicht, seine Gründe für die Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen, was bedeutet, dass ein in sich stimmiger Sachverhalt geschildert werden muss, aus dem sich bei Wahrunterstellung und verständiger Würdigung ergibt, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung droht. Dies beinhaltet auch, dass der Ausländer die in seine Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse, die geeignet sind, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen, wiedergeben muss (vgl. § 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO; OVG NW, U.v. 2.7.2013 - 8 A 2632/06.A - juris Rn. 59 f. m.V.a. BVerwG, B.v. 21.7.1989 - 9 B 239.89 - juris Rn. 3 f.; B.v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 - juris Rn. 8; B.v. 3.8.1990 - 9 B 45.90 - juris Rn. 2).
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Der Asylsuchende muss dem Gericht glaubhaft machen, weshalb ihm in seinem Herkunftsland die Verfolgung droht. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es regelmäßig, wenn er im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheinen oder er sein Vorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere, wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgebend bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst spät in das Asylverfahren einführt. In der Regel kommt deshalb dem persönlichen Vorbringen des Asylbewerbers, seiner Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit sowie der Art seiner Einlassung besondere Bedeutung zu (BayVGH, U.v. 26.1.2012 - 20 B 11.30468 - m.w.N.).
27
b) Über asylrechtlichen Abschiebungsschutz bzw. die Zuerkennung internationalen Schutzes kann grundsätzlich nur einheitlich entschieden werden. Dabei sind sämtliche Staaten, deren Staatsangehörigkeit der Betroffene möglicherweise besitzt oder in denen er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, in die Prüfung einzubeziehen. Nur wenn diese Staaten keinen Schutz gewähren, kommt nach dem Prinzip der Subsidiarität des internationalen Schutzes eine Flüchtlingsanerkennung in Betracht. Korrespondierend mit der gesetzlichen Verpflichtung des Bundesamts, eine entsprechende Feststellung zu treffen, hat der Betroffene einen Anspruch auf eine derartige Entscheidung, und zwar unabhängig davon, ob eine Abschiebung in den behaupteten Verfolgerstaat oder in einen anderen Staat beabsichtigt ist. Andererseits schließt namentlich die Möglichkeit, Schutz im Staat der (zweiten) Staatsangehörigkeit zu finden, einen Anspruch auf asylrechtlichen Abschiebungsschutz bzw. die Zuerkennung internationalen Schutzes aus (BVerwG, U.v. 2.8.2007 - 10 C 13.07 - EZAR NF 69 Nr. 2 Rn. 3 ff.; U.v. 8.2.2005 - 1 C 29.03 - NVwZ 2005, 1087, 1088 f.; NdsOVG, U.v. 26.1.2012 - 11 LB 97/11 - EZAR NF 69 Nr. 15 Rn. 2; Pietzsch in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 34. Edition, Stand: 1.1.2022, § 34 AsylG Rn. 31c; Kerstin Müller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 34 AsylVfG Rn. 24; jeweils m.w.N.).
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c) Unter Berücksichtigung vorgenannter Voraussetzungen und Maßstäbe sind die Voraussetzungen des § 3 AsylG bereits deshalb nicht erfüllt, weil die Kläger auch nach dem Eindruck in der mündlichen Verhandlung nicht glaubhaft gemacht haben, sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb Kasachstan zu befinden. Die Einzelrichterin nimmt hierzu auf die entsprechenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid vom 5. April 2022 Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG). Da die Kläger mithin die Möglichkeit haben, Schutz in diesem Staat einer ihrer Staatsangehörigkeiten zu finden, haben sie keinen Anspruch auf die Zuerkennung internationalen Schutzes, s.o.
29
Aus dem Vortrag in der mündlichen Verhandlung ergibt sich nichts anderes. Der Ehemann/Vater der Kläger, selbst Kläger im Verfahren W 7 K 22.30399, hat hierzu in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass er befürchte, in Kasachstan wegen der falschen Pässe verhaftet bzw. vor Gericht gebracht zu werden. Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um eine allgemeine Befürchtung, für die es keine konkreten Anhaltspunkte gibt. Dies gilt selbst unter Berücksichtigung, dass die Kläger ihre k. Pässe nicht mehr haben. Denn das Pässe verloren gehen bzw. neue Pässe beantragt werden müssen, stellt keinen ungewöhnlichen Vorgang dar, sodass bereits fraglich erscheint, dass die k. Behörden überhaupt aufmerksam werden oder gar strafrechtliche Maßnahmen ergreifen würden. Unabhängig davon, wären Strafverfolgungsmaßnahmen angesichts der von den Klägern in Auftrag gegebenen und verwendeten gefälschten Pässe das gute Recht des k. Staats. Strafverfolgungsmaßnahmen stellen zudem nicht zwingend eine politische Verfolgung dar. Etwas anderes gilt nur im Fall des sogenannten Politmalus, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals härter als üblich bestraft bzw. behandelt wird (BVerfG, B.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86, 1000/86, 961/86, NVwZ 1990, 151 = BVerfGE 80, 315, 336 ff.). Für einen Politmalus sind jedoch keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich oder vorgetragen. Es ist nicht Sinn des Asylverfahrens, die Kläger vor einer angemessenen Bestrafung für eine begangene Tat zu schützen.
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Auch für die pauschale Behauptung des Ehemanns/Vaters der Kläger, ihr Leben sei in Kasachstan in Gefahr, gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Soweit die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, sie könnten weder nach Kasachstan noch nach Afghanistan, ihre Kinder hätten nur hier eine Zukunft, ergibt sich hieraus ebenfalls kein Ansatzpunkt für die Zuerkennung internationalen Schutzes.
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2. Die Kläger haben dementsprechend auch keinen Anspruch auf die hilfsweise beantragte Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Hierzu wird auf die obigen Ausführungen sowie die entsprechenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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3. Bezüglich Kasachstan steht den Klägern auch kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Bezüglich Afghanistan haben sie dagegen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. Zu unterstellen ist dabei, dass sie nur gemeinsam und im Familienverband mit ihrem Ehemann/Vater sowie Sohn/Bruder in das Herkunftsland zurückkehren werden (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris).
33
a) Wie bereits ausgeführt haben die Kläger auch bezüglich Afghanistan einen Anspruch auf Prüfung von Abschiebungsverboten. Die Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich des Herkunftsstaats ist anders als bei der Prüfung des asylrechtlichen Abschiebungsschutzes nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Asylbewerber Schutz in einem anderen Staat finden kann, dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls besitzt (BVerwG, U.v. 2.8.2007 - 10 C 13.07 - EZAR NF 69 Nr. 2 Rn. 3 ff.; NdsOVG, U.v. 26.1.2012 - 11 LB 97/11 - EZAR NF 69 Nr. 15 Rn. 2; Pietzsch in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 34. Edition, Stand: 1.1.2022, § 34 AsylG Rn. 31c; Kerstin Müller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 34 AsylVfG Rn. 24; jeweils m.w.N.).
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Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind in Bezug auf Afghanistan erfüllt. Den Klägern droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung.
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b) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
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Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt die tatsächliche Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung - für die Gefahr der Folter des Klägers bestehen keinerlei Anhaltspunkte - voraus. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss demnach eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss aufgrund aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (EGMR, U.v. 28.6.2011 - 8319/07 und 11449/07 [Sufi and Elmi v. The United Kingdom] -, Rn. 212 ff.; U.v. 27.5.2008 - 26565/05 [N. v. The United Kingdom], Rn. 34 ff.). Der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht hierbei dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 6; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 22). Es ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 6; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32). Ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, kann hingegen nicht verlangt werden (EGMR, U.v. 9.1.2018 - 36417/16 [ X. v. Sweden] -, Rn. 50; BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 6; VG Freiburg (Breisgau), U.v. 5.3.2021 - A 8 K 3716/17 - juris Rn. 35).
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Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 25). Soweit - wie in Afghanistan - ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EUGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 - 13a B 20.31087- juris Rn. 21; U.v. 28.11.2019 - 13a B 19.33361 - Rn. 21 ff.; U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31918 - juris Rn. 20 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 51 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 - 13 A 3930/18 - juris Rn. 111 f. m.w.N.). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 - 13a B 20.31087- juris Rn. 22; U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31918 - juris Rn. 21; OVG NW, U.v. 18.6.2019 - 13 A 3930/18 - juris Rn. 43 ff. m.w.N; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 - juris Rn. 43 m.w.N).
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aa) Aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in Afghanistan liegt im Fall der Kläger ein derartiger ganz außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen ihre Abschiebung zwingend sind.
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Das Gericht schließt sich der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs an, wonach für Familien mit minderjährigen Kindern regelmäßig ein nationales Abschiebungsverbot besteht (BayVGH, U.v. 21.10.2020 - 13a B 20.30347 - BeckRS 2020, 32707). Nach der Machtübernahme der Taliban besteht hierfür umso mehr Anlass (vgl. hierzu mit ausführlicher Begründung zu einem jungen erwerbsfähigen Mann VG Würzburg, U.v. 12.4.2022 - W 1 K 22.30254 - BeckRS 2022, 11119 Rn. 16 ff. m.w.N.). Denn hierdurch hat sich die ohnehin bereits äußerst angespannte wirtschaftliche Situation in Afghanistan weiter drastisch verschlechtert. Die Situation in Afghanistan stellt sich aktuell folgendermaßen dar:
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Das Auswärtige Amt hat in seinem jüngsten Lagebericht vom 21. Oktober 2021 erläutert, dass am 30. August 2021 die letzten internationalen Truppen Afghanistan verlassen haben und die Taliban nun weitgehend über die Kontrolle im gesamten Land verfügen. Die bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban angespannte wirtschaftliche Lage hat sich seither weiter verschlechtert. Zahlreiche Haushalte, die von Gehältern im öffentlichen Dienst, im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder von Tätigkeiten bei internationalen Akteuren abhängig sind, haben ihre Einkommensquellen verloren. Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe, falls internationale Hilfsleistungen ausbleiben oder nicht implementiert werden können. Die von Deutschland geförderten humanitären Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen wurden aus Sicherheitsgründen temporär eingestellt, die Umsetzung der substantiellen deutschen humanitären Hilfe erfolgt über internationale Organisationen. Eine Reihe von UN-Organisationen sind vor Ort - mit Abstrichen - weiter arbeitsfähig. Durch die Kampfhandlungen vor der Machtübernahme der Taliban ist die Zahl der Binnenvertriebenen erneut um rund 665.000 Personen auf insgesamt mehr als 3,5 Millionen Menschen angestiegen. Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban eines der ärmsten Länder der Welt. Die durch die Folgen der Covid-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage steht infolge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps. Rückkehrende verfügen aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern.
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Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich hat am 10. August 2022 dargelegt, dass Afghanistan mit mehreren Krisen konfrontiert ist: Einer wachsenden humanitären Notlage, massivem wirtschaftlichen Rückgang, der Lähmung des Banken- und Finanzsystems und der Tatsache, dass eine inklusive Regierung noch gebildet werden muss. Die afghanische Wirtschaft war bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban schwach, wenig diversifiziert und in hohem Maße von ausländischen Einkünften abhängig. Das Land belegt lediglich Platz 169 von 189 des Human Development Index. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft. Nach der Machtübernahme der Taliban blieben die Banken zunächst geschlossen und die USA haben der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank verwehrt, ebenso der IWF. Im Zuge einer im Auftrag des Bundesamts durchgeführten Studie in afghanischen Großstädten im November 2021 gaben nur 4% der Befragten an, dass sie in der Lage sind, ihre Familie mit den grundlegenden Gütern zu versorgen. Afghanistan kämpft weiterhin mit den Auswirkungen einer Dürre, der Aussicht auf eine weitere schlechte Ernte in diesem Jahr, einer Banken- und Finanzkrise, die so schwerwiegend ist, dass mehr als 80% der Bevölkerung verschuldet sind, und einem Anstieg der Lebensmittel- und Kraftstoffpreise. 18,9 Millionen Menschen - fast die Hälfte der Bevölkerung - werden Schätzungen zufolge zwischen Juni und November 2022 von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sein. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mit März 2022 die Krankenhäuser voll mit Kindern, die an Unterernährung leiden. Der Hunger geht weiterhin über die Kluft zwischen Stadt und Land hinaus, wobei beide Gruppen gleichermaßen betroffen sind: 92% der Menschen in Afghanistan sind mit unzureichender Nahrungsaufnahme konfrontiert. Beide Gruppen verzeichneten im Mai einen Anstieg der ernsten Ernährungsunsicherheit. Jeder vierte Afghane ist offiziell arbeitslos, viele sind unterbeschäftigt. Rückkehrer - etwa 1,5 Millionen in den letzten zwei Jahren - und eine ähnliche Zahl von Binnenvertriebenen erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt zusätzlich. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Jedes Jahr treten sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten bislang aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenige Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke ist die Arbeitssuche schwierig. Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte, was durch die Corona-Pandemie negativ beeinflusst wurde. Es hat ein drastischer Rückgang der Zahl der Arbeitstage für Gelegenheitsarbeiter in städtischen Gebieten stattgefunden. Nach der Machtübernahme der Taliban hat das Personal der Streitkräfte, das etwa auf eine halbe Million Personen geschätzt wird, keine Arbeit mehr. Auch viele Mitarbeiter des Gesundheitssystems haben mit Stand November 2021 seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten. Das UNDP erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln wird, während die Löhne Jahr für Jahr um 8-10% sinken werden. Die Beschränkungen für die Beschäftigung von Frauen werden sich sowohl auf die Wirtschaft als auch auf die Gesellschaft auswirken. 95% der Bevölkerung meldeten Einkommenseinbußen im Vergleich zum Vorjahr, davon 76% in erheblichen Umfang. Im Rahmen einer Studie gaben 58,3% der Befragten an, keine Arbeit zu haben oder bereits längere Zeit arbeitslos zu sein. Nach der Machtübernahme der Taliban wurden Bank- und Geldüberweisungsdienste weithin ausgesetzt. Mit Stand November 2021 sind die Banken wieder geöffnet. Es sind Einzahlungen, begrenzte Abhebungen sowie begrenzte inländische und sehr begrenzt internationale Überweisungen möglich. Anfang November 2021 hat die Taliban-Regierung die Nutzung fremder Währungen verboten. Vor der Machtübernahme der Taliban wurden 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs. Insbesondere die Corona-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems in Afghanistan. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch einen Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Assistenzkräften, Medikamenten und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Nach der Machtübernahme der Taliban ist das Gesundheitssystem vom Zusammenbruch bedroht. War der Zugang zur Gesundheitsversorgung schon vor der Machtübernahme der Taliban ein großes Problem, vor allem außerhalb der großen Städte, so hat sich diese Situation seither noch weiter verschlechtert, da der Großteil der internationalen Hilfe eingestellt wurde. Anfang November 2021 meldete UNDP, dass man das Sehatmandi-Projekt aufrechterhalte, Medizin für Kranke sowie Gehälter der Ärzteschaft und des Personals für den Vormonat bezahlt habe, da viele Mitarbeiter seit Monaten keine Gehälter mehr erhalten hätten. Die meisten Patienten sind darauf angewiesen, ihre eigenen Medikamente in nahegelegenen Apotheken zu kaufen. Aber auch den meisten größeren Krankenhäusern fehlt es an grundlegenden Leistungen. Im 4. Quartal 2021 wurde in ganz Afghanistan ein starker Anstieg der Fälle von Unterernährung, vor allem betreffend Mütter und Kleinkinder, verzeichnet.
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Gemäß dem EUAA-Bericht (ehemals EASO) Afghanistan: Country Focus vom Januar 2022 haben sich ausländische Hilfsmittel für Afghanistan vor der Machtübernahme der Taliban auf 8,5 Milliarden USD pro Jahr summiert und haben dabei 43% des Bruttoinlandsprodukts abgedeckt sowie 75% der öffentlichen Ausgaben. Diese Geldmittel wurden aufgrund von Sanktionen nach dem Machtwechsel ebenso eingefroren wie die afghanischen Währungsreserven. Die Preise für Nahrungsmittel sind von Juni auf September 2021 signifikant angestiegen, für Weizenmehl etwa um 28% und für Speiseöl um 55%. 95% der afghanischen Bevölkerung haben gegenüber 2020 einen Rückgang ihres Haushaltseinkommens hinnehmen müssen, hiervon 83% der städtischen Bevölkerung und 72% der Landbevölkerung einen signifikanten Rückgang. Gemäß der IPC-Analyse vom September 2021 war fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung von einem hohen Grad an Ernährungsunsicherheit betroffen (ein Anstieg von 30% gegenüber der gleichen Periode im Jahr 2020), der höchsten von IPC in Afghanistan jemals gemessenen Quote, sodass damit in Afghanistan die zweitgrößte Ernährungskrise weltweit herrscht. Gemäß einer WFP-Studie sind erstmals städtische Bewohner im gleichen Maße von Ernährungsunsicherheit betroffen wie die Landbevölkerung. Für November 2021 bis März 2022 wurde ein weiterer Anstieg von Betroffenen mit einem hohen Level an Ernährungsunsicherheit (Phase 3 oder höher) vorhergesagt, nämlich für insgesamt 22,8 Millionen Afghanen, was einem Anstieg gegenüber 2020 um fast 35% entspricht. Die Gründe für die Verschlechterung sind die klimatischen Bedingungen, insbesondere die anhaltende schwere Dürre, gestiegene Nahrungsmittelpreise, internationale Sanktionen, steigende Arbeitslosigkeit sowie gestiegene Vertreibung.
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Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet (Factsheet Afghanistan vom Mai 2022; Afghanistan: Die aktuelle Sicherheitslage vom 31.10.2021), dass sich die bereits vor der Machtübernahme der Taliban schlechte humanitäre Lage mit der Machtübernahme durch die Taliban aufgrund der abrupt weggefallenen internationalen Unterstützung dramatisch verschärft hat. Die Städte werden von dieser massiven Wirtschaftskrise besonders hart getroffen (ca. 25% der Bevölkerung), da sich hier zahlreiche Menschen in vom Ausland finanzierten Sektoren den Lebensunterhalt verdient hatten. Dazu gehören etwa Regierungsbeamte, Armee- und Polizeiangehörige, Mitarbeitende von nationalen und internationalen NGOs, aber auch Angestellte von Restaurants, Hotels, Geschäften, Privatuniversitäten, Hochzeitshäusern, Supermärkten und anderen Dienstleistungen, die nur dank einem vom Ausland finanzierten Einkommen konsumiert werden konnten. Doch auch die ländlichen Gebiete werden aufgrund der Dürre, der internen Vertreibung sowie der desolaten Wirtschaftslage getroffen. Äußerst prekär ist die Lage im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen, die bisher ebenfalls von der internationalen Staatengemeinschaft finanziert wurden: Speziell gefährdet ist das Gesundheits- und Bildungssystem sowie die ländliche und städtische Infrastruktur. Der mit dem Machtwechsel einhergehende Stopp der internationalen Hilfe für Afghanistan hat zu zahlreichen Entlassungen und damit zu einem massiven Rückgang des Zugangs zu Dienstleistungen sowie der Einkommen der Bevölkerung geführt. Gemäß AAN waren bei der Regierung G. rund 420.000 Beamte angestellt, die die Taliban nicht ohne internationale Unterstützung bezahlen können. Dasselbe gilt für über 300.000 ehemalige Angehörige der ANDSF. Gemäß Angaben der Weltbank waren weitere 2,5 Millionen Afghanen im Dienstleistungs- und Baugewerbe beschäftigt. Zudem hat die Machtübernahme durch die Taliban zu einem massiven Braindrain geführt, da ein wesentlicher Teil der gebildeten Elite, die spezialisierte Bereiche der Regierungspolitik und -verwaltung leitete, geflüchtet ist. Generell herrscht in der Arbeitswelt große Verunsicherung, so hatten vor allem unmittelbar nach dem Machtwechsel viele Angst, zur Arbeit zu gehen oder den Handel wiederaufzunehmen. Die Taliban-Regierung hat hauptsächlich Männer zur Arbeit zurückgerufen; Frauen wurden mit der Begründung, die Sicherheitslage sei zu prekär, weitgehend wieder aus dem Arbeitsmarkt zurückgedrängt, wodurch die Zahl der qualifizierten Arbeitskräfte noch weiter zurückgeht. Dieser Verlust wird sich in Afghanistan langfristig negativ auswirken. Die Taliban haben allerdings weibliches Gesundheitspersonal wieder an die Arbeitsplätze zurückgerufen.
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Auf einer Linie mit den Inhalten der vorstehend skizzierten Berichte sind u.a. überdies: UK Home Office, Country Policy and Information Note Afghanistan: Humantarian situation vom Februar 2022; UNDP, Afghanistan: Socio-Economic Outlook 2021-2022 - Averting a Basic Needs Crisis vom 1. Dezember 2021; ILO, Employment prospects in Afghanistan: a rapid impact assessment (January 2022) vom 19. Januar 2022.
45
Schließlich können die Kläger auch nicht auf Rückkehrhilfen zurückgreifen. Denn diese sind in Afghanistan seit dem 17. August 2021 bis auf weiteres ausgesetzt (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan).
46
Gemessen daran ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt davon auszugehen, dass die Kläger bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr der Verelendung und einer unmenschlichen Behandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre.
47
bb) Ob im Hinblick auf Afghanistan auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - juris Rn. 16 f.).
48
c) Im Hinblick auf Kasachstan steht den Klägern dagegen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Die Einzelrichterin nimmt hierzu auf die entsprechenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG).
49
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der derzeitigen wirtschaftlichen und humanitären Lage in Kasachstan. Ergänzend zu der Begründung des Bescheids ist Folgendes auszuführen: Die Volkswirtschaften im Kaukasus und in Zentralasien wachsen trotz der globalen Krisen. Die Coronakrise und das niedrige Preisniveau für Rohöl bescherten der k. Wirtschaft 2020 ihren ersten Abschwung seit 2009. Der Konjunkturknick fiel jedoch ausgesprochen moderat aus. Vorläufigen Schätzungen zufolge ging die Wirtschaftsleistung 2020 um real 2,6% im Vergleich zum Vorjahr zurück. Umfangreiche Unterstützungsmaßnahmen der Regierung halfen, einen befürchteten stärkeren Einbruch zu verhindern. Schätzungen zufolge liegt das Wirtschaftswachstum 2021 bereits wieder bei 4,0% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Aktuell stellt der Krieg in der Ukraine eine Zäsur dar. Es wird angenommen, dass der für die Region wichtige Warenaustausch mit Russland und der Ukraine durch den Krieg erheblich einbrechen wird. Gleichzeitig bieten sich neue Geschäftsmöglichkeiten. Alle Länder der Region dürften nach Schätzungen schon 2022 ein Wachstum erzielen, das allerdings noch durch hohe Energiepreise, Inflation und das Wegbrechen des russischen Markts gehemmt wird (Prognose für Kasachstan: 2,3%). Ab 2023 dürfte die Konjunktur an Fahrt aufnehmen mit Zuwachsraten beim BIP zwischen 4 und 5% (Prognose für Kasachstan: 4,4%; vgl. zum Ganzen Germany Trade & Invest (GTAI), Wirtschaftsdaten kompakt - Kasachstan vom Mai 2022, https://www.gtai.de/de/trade/kasachstan/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsdaten-kompakt-kasachstan-156680; Kaukasus und Zentralasien als neue Wachstumsinseln vom 10.6.2022, https://www.gtai.de/de/trade/gus/wirtschaftsumfeld/kaukasus-und-zentralasien-als-neue-wachstumsinseln-851146; Konjunkturknick in der COVID-19-Pandemie bleibt überschaubar vom 13.1.2022, https://www.gtai.de/de/trade/kasachstan/specials/konjunkturknick-in-der-covid-19-pandemie-bleibt-ueberschaubar-234678; jeweils abgerufen am 31.8.2022; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Kasachstan, Stand: 3.3.2021 (Länderinformationsblatt), S. 32 f.)
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Überdies steht es den Klägern und ihren Familienangehörigen frei, ihre finanzielle Situation in Kasachstan aus eigener Kraft zu verbessern und Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, um Unterstützung und Starthilfe zu erhalten und erste Anfangsschwierigkeiten gut überbrücken zu können. So können k. ausreisewillige Personen etwa Leistungen aus dem REAG-Programm, dem GARP-Programm sowie dem „Bayerischen Rückkehrprogramm“ erhalten (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/kazakhstan; Bayerische Richtlinie zur Förderung der freiwilligen Rückkehr ins Herkunftsland - „Bayerisches Rückkehrprogramm“ vom 30.8.2019). Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich die Kläger nicht darauf berufen können, dass die genannten Start- und Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für freiwillige Rückkehrer gewährt werden, also teilweise nicht bei einer zwangsweisen Rückführung. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten - wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr - im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (BVerwG, U.v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 - juris; VGH BW, U.v. 26.2.2014 - A 11 S 2519/12 - juris). Dementsprechend ist es den Klägern möglich und zumutbar, gerade zur Überbrückung der ersten Zeit nach einer Rückkehr nach Kasachstan freiwillig Zurückkehrenden gewährte Reisehilfen sowie Reintegrationsleistungen in Anspruch zu nehmen.
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Angesichts des Bildungsniveaus der Klägerin zu 1) und ihres Ehemanns ist die Einzelrichterin davon überzeugt, dass die Familie in der Lage sein wird, ihre Existenz trotz der Sprachbarriere zu sichern. Denn nach der allgemeinen Lebenserfahrung gibt es auch einfache Tätigkeiten, für die keine besonderen Sprachkenntnisse erforderlich sind und auf die die Kläger verwiesen werden können. Im Hinblick auf das Bildungsniveau und die bisherigen Tätigkeiten der Klägerin zu 1) und ihres Ehemanns ist zudem davon auszugehen, dass sie in der Lage sein werden, die Landessprache jedenfalls in einem für den Alltag erforderlichen Maß zu erlernen, was ihre Situation verbessern würde. Im Übrigen können sie staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen und sich in der ersten Zeit mithilfe der Rückkehrhilfen über Wasser halten. Gegebenenfalls können sie sich insbesondere zur Überbrückung von Anfangsschwierigkeiten an die afghanische Familie in Kasachstan wenden, die sie in ihrer Zeit dort kennengelernt haben und zu der sie noch in Kontakt stehen.
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4. Letztlich bestehen auch an der Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und der auf § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG beruhenden Abschiebungsandrohung nach Kasachstan keine Bedenken. Dies gilt auch im Hinblick auf die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Ermessensfehler (§ 114 Satz 1 VwGO) sind weder ersichtlich, noch vorgetragen. Da die Kläger das Bundesgebiet nur gemeinsam mit ihren Familienangehörigen verlassen müssten (vgl. § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG), ist nicht ersichtlich, weshalb die von der Beklagten gesetzte Frist unangemessen sein könnte.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.