Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 08.08.2022 – W 5 S 22.50310
Titel:

Sofortverfahren, Dublin-Verfahren, algerische Staatsangehörigkeit, 33-jähriger Mann, Abschiebungsanordnung in die Niederlande, Covid-19, Verfristung, Keine Wiedereinsetzung in vorigen Stand

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
AsylG § 34a
AsylG § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Dublin III-VO Art. 18 Abs. 1
Schlagworte:
Sofortverfahren, Dublin-Verfahren, algerische Staatsangehörigkeit, 33-jähriger Mann, Abschiebungsanordnung in die Niederlande, Covid-19, Verfristung, Keine Wiedereinsetzung in vorigen Stand
Fundstelle:
BeckRS 2022, 23880

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller, ein am ... 1988 geborener algerischer Staatsangehöriger dem Volke der Berber zugehörig und islamischen Glaubens, begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung der Abschiebung in die Niederlande im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
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1. Der Antragsteller reiste am 29. Januar 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein, äußerte am gleichen Tag ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) durch behördliche Mitteilung am gleichen Tag Kenntnis erhielt, und stellte am 1. April 2022 einen förmlichen Asylantrag.
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Nach Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen durch Abgleich der Fingerabdrücke des Antragstellers mit der EURODAC-Datenbank Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates - den Niederlanden - gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) vor.
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Auf ein Übernahmeersuchen vom 22. März 2022 erklärten die niederländischen Behörden mit Schreiben vom 30. März 2022 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers gemäß Art. 18 Abs. 1 d) Dublin III-VO.
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2. Mit Bescheid vom 19. Mai 2022, der am 23. Mai 2022 an die Aufnahmeeinrichtung des zu dieser Zeit unbekannten Aufenthalts aufhältigen Antragstellers übermittelt wurde, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung in die Niederlande wurde angeordnet (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf elf Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
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Am 24. Juni 2022 wurde der Antragsteller wieder in die Unterkunft aufgenommen. Mit Schreiben vom 19. Juli 2022 bat er um Zusendung des vorgenannten Bescheids und gab an, für ca. einen Monat nicht in der Aufnahmeeinrichtung gewesen zu sein, da er Angst gehabt habe, weil er mit einem Messer bedroht und verletzt worden sei. Mit Schreiben vom 25. Juli 2022 wurde ihm der Bescheid vom Bundesamt unter Hinweis auf dessen Bestandskraft übermittelt.
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3. Am 3. August 2022 erhob der Antragsteller im Verfahren W 5 K 22.50309 Klage unter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und beantragte im vorliegenden Verfahren:
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Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
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Der Antragsteller verwies zur Begründung auf die Anhörung beim Bundesamt. Zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erklärte er, dass er von seinem ehemaligen Zimmerbewohner in der Unterkunft mit einem Messer angegriffen und am Arm sehr schwer verletzt worden sei. Der besagte Bewohner habe ihn umbringen wollen und mehrmals bedroht. Aus Angst habe er sich in S. bei einem Bekannten aufgehalten. Nachdem die Person weg sei, sei er vor ein paar Tagen wieder zurückgekehrt. Er habe Anzeige gegen die Person erstattet. Er habe einen Termin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht wahrnehmen können. Erst vor ca. zwei bis drei Tagen habe er von der negativen Entscheidung erfahren. Er - der Antragsteller - werde von der besagten Person per Whatsapp bedroht. Er könne nicht zurück in die Niederlande, weil die Person sich ebenfalls in den Niederlanden aufhalte und ihm nach dem Leben trachte.
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4. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Bei verständiger Würdigung des Vorbringens des Antragstellers (§ 122 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 88 VwGO) ist sein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage dahingehend zu verstehen und auszulegen, dass er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung in die Niederlande in Nr. 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19. Mai 2022 begehrt.
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1. Der so verstandene Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist unzulässig.
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Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist nur statthaft, wenn ein belastender Verwaltungsakt vorliegt, der bekannt gegeben worden ist, nicht unanfechtbar und nicht erledigt ist. Ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist unzulässig, wenn der Verwaltungsakt, um dessen Vollziehung es geht, bereits unanfechtbar geworden ist (BVerwG, B.v. 31.7.2006 - 9 VR 11.09 - juris Rn. 3, OVG Magdeburg, B.v. 2.8.2021 - 2 M 58/12 - juris Rn. 6). Dies gilt jedenfalls dann, wenn an der Verfristung des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs keine vernünftigen Zweifel bestehen bzw. diese offensichtlich ist und auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand offensichtlich nicht in Betracht kommt (VGH Mannheim, B.v. 3.6.2004 - 6 S 30/04 - juris; OVG Magdeburg, B.v. 2.8.2021, a.a.O., juris Rn. 6).
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Das ist hier der Fall. Der ablehnende Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrungversehen war, ist an die Aufnahmeeinrichtung des Antragstellers am 23. Mai 2022 übermittelt worden. Am dritten Tag nach der Übergabe galt die Zustellung als bewirkt (§ 10 Abs. 4 Satz 4 AsylG). Damit ist die Wochenfrist des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG verstrichen und der in der Hauptsache am 3. August 2022 eingelegte Rechtsbehelf verfristet, was auch von Antragstellerseite nicht in Abrede gestellt worden ist.
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Auch liegen nach Aktenlage und dem Sachvortrag des Antragstellers keine Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO vor. Nur wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 60 Abs. 1 VwGO). Nach § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO müssen zudem die Tatsachen zur Begründung des Antrags bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag im Sinne von § 294 ZPO glaubhaft gemacht werden. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der Antragsteller hat gegenüber dem Gericht keine hinreichend substanziellen Gründe für eine unverschuldete Nichteinlegung der Klage innerhalb der Klagefrist aufgezeigt. Es erscheint außerordentlich fernliegend, dass der Antragsteller ohne eigenes Verschulden erst ca. zwei bis drei Tage vor Klageerhebung von dem Ablehnungsbescheid hat Kenntnis erhalten können. Der Antragsteller hat lediglich oberflächlich dargestellt, dass er sich wegen einer von seinem ehemaligen Mitbewohner ausgehenden Bedrohungslage aus Angst um sein Leben in S. bei einem Bekannten aufgehalten haben will und erst wieder in die Unterkunft zurückkehrte als die ihn bedrohende Person nicht mehr vor Ort gewesen sei. Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass das Verlassen der Unterkunft im besagten Zeitraum zu seinem Eigenschutz erforderlich gewesen wäre und dass zugleich andere Schutzmaßnahmen hinsichtlich der Bedrohung seiner Person (z.B. polizeiliche Schutzmaßnahmen, Maßnahmen der Unterkunftsverwaltung) oder zumindest Vorkehrungen hinsichtlich seiner behördlichen Erreichbarkeit nicht möglich gewesen sein sollen.
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Da die Klage in der Hauptsache somit verfristet ist und die Voraussetzungen für eine Widereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfüllt sind, erweist sich der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO als unstatthaft und damit als unzulässig.
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2. Der Antrag ist zudem unbegründet.
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Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Entscheidung über die Anordnung bzw. die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auf Grund der sich ihm im Zeitpunkt seiner Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) darbietenden Sach- und Rechtslage. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bzw. des Widerspruchs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 - 1 BvR 165/09 - NVwZ 2009, 581; BayVGH, B.v. 17.9.1987 - 26 CS 87.01144 - BayVBl. 1988, 369; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 68 und 73 ff.). Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
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2. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. Mai 2022 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) in Nr. 3 rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt das private Interesse des Antragstellers, vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet bleiben zu dürfen.
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Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheids verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Lediglich ergänzend ist auszuführen:
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2.1. Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (sog. Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
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Zur Begründung seines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO wie auch seiner Klage hat der Antragsteller auf die Anhörung beim Bundesamt verwiesen. Zudem hat er vorgebracht, dass er nicht in die Niederlande überstellt werden könne, da sich dort sein ehemaliger Mitbewohner aufhalte, der ihm nach dem Leben trachte.
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2.2. Die Niederlande sind gemäß den Vorschriften der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig (§§ 34a, 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Verordnung Nr. 604/2013/EU - Dublin III-VO). Die Zuständigkeit der Niederlande ergibt sich vorliegend aus Art. 18 Abs. 1 Buchstabe d) i.V.m. Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO. Die niederländischen Behörden haben ihre Zuständigkeit mit Schreiben vom 30. März 2022 ausdrücklich erklärt.
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Außergewöhnliche Umstände, die möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO bzw. für eine entsprechende Pflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere ist nach derzeitigem Erkenntnisstand auch unter Berücksichtigung der hierzu einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a. - NVwZ 2012, 417) nicht davon auszugehen, dass das niederländische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer die dorthin rücküberstellten Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtecharta (GRCh) ausgesetzt wären.
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Das gemeinsame Europäische Asylsystem beruht auf dem „Prinzip gegenseitigen Vertrauens“ bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“, dass alle daran beteiligten Mitgliedstaaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), dem Protokoll von 1967 und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) finden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 - NVwZ 2012, 417 Rn. 79). Dies begründet die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 - NVwZ 2012, 417 Rn. 80). Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller defizitärer Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6/14 - juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12. 2011 - C-411/10 - NVwZ 2012, 417 Rn. 80; VGH BW, U.v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 - juris Rn. 41). Erforderlich ist insoweit die real bestehende Gefahr, dass in dem Mitgliedstaat, in den überstellt werden soll, die grundlegende Ausstattung mit den notwendigen, zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse elementaren Mitteln so defizitär ist, dass der materielle Mindeststandard nicht erreicht wird und der betreffende Mitgliedstaat dieser Situation nicht mit geeigneten Maßnahmen, sondern mit Gleichgültigkeit begegnet (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 29.1.2018 - 10 LB 82/17 - juris Rn. 34 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) kann allerdings die bloße schlechtere wirtschaftliche oder soziale Stellung der Person in dem zu überstellenden Mitgliedstaat nicht für die Annahme einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausreichen (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 - 27725/10 - ZAR 2013, 336, 70 f.). Der EGMR führt in seiner Entscheidung aus, dass Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung der Vertragsparteien enthalte, jede Person innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs mit Obdach zu versorgen oder finanzielle Leistungen zu gewähren, um ihnen dadurch einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Einer Überstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens stehen deshalb nur außergewöhnliche zwingende humanitäre Gründe entgegen.
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Die Anforderungen an die Feststellung systemischer Mängel und eine daraus resultierende Widerlegung der Sicherheitsvermutung sind hoch. Konkretisierend hat der EuGH in seinem Urteil vom 19. März 2019 (C-163/17 - juris Rn. 91) ausgeführt, dass systemische Schwachstellen nur dann als Verstoß gegen Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK zu werten seien, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht werde, die von sämtlichen Umständen des Falles abhänge. Diese Schwelle sei aber selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden seien, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befinde, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden könne. Die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats müsse zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinde, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 92 f.).
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Ausgehend von vorstehenden Grundsätzen bestehen aufgrund der aktuellen Erkenntnislage des Gerichts keine Anhaltspunkte für das Vorliegen derartiger systemischer Mängel im niederländischen Asylsystem, zumal der Antragsteller nichts Gegenteiliges substantiiert vorgebracht hat.
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In den Niederlanden existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit. Dublin-Rückkehrer haben Zugang zum Asylverfahren. Die speziellen Bedürfnisse des Schutzsuchenden werden berücksichtigt. Gemäß Gesetz haben alle mittellosen Asylbewerber ein Recht auf Unterbringung und auf materielle Versorgung ab Antragstellung. Sie erhalten in der Regel eine monatliche Unterstützung/Gutscheine. Sie dürfen 24 Wochen im Jahr auch arbeiten. Asylbewerber sind versichert und haben einen Anspruch auf medizinische Versorgung. Die allgemeine medizinische Behandlung ist, soweit möglich, dieselbe wie für niederländische Bürger, erweitert um besonderes Augenmerk auf sprachliche und kulturelle Unterschiede, die Lebenssituation für Asylbewerber, das Asylverfahren und deren besondere Bedürfnisse. Asylbewerber haben Zugang zur medizinischen Basisversorgung, darunter Zugang zur Allgemeinmedizin, Krankenhäusern, Psychologen, Zahnmedizin und auf Tagesbasis Zugang zu psychiatrischen Kliniken. Es gibt eine Reihe spezialisierter Institutionen zur Behandlung von Asylbewerbern mit psychischen Problemen. Es ist davon auszugehen, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten in den Niederlanden, wie generell in der EU, im ausreichenden Maße verfügbar sind (vgl. zu alledem BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Niederlande, vom 16.2.2018, m.w.N.). Im Ergebnis bestehen keine rechtlichen Bedenken gegen eine Überstellung in die Niederlande (so etwa auch VG Würzburg, B.v. 25.1.2021 - W 5 S 21.50016; B.v. 23.9.2020 - W 8 S 20.50230; B.v. 5.3.2020 - W 8 S 19.50089 - AuAS 2020, 103; B.v. 21.6.2018 - W 4 S 18.50299; B.v. 13.3.2018 - W 4 S 18.50093; VG Lüneburg, B.v. 22.2.2019 - 8 B 37/19 - juris; VG München, G.v. 24.10.2018 - M 1 K 17.51216 - juris).
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Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-GRCharta droht dem Antragsteller auch nicht nach der unterstellten Zuerkennung internationalen Schutzes (vgl. BVerfG, B.v. 7.10.2019 - 2 BvR 721/19 - juris; EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 89). Zu beachten ist dabei, dass zur Abschätzung der Gefahrenprognose eine Zuerkennung internationalen Schutzes ohne weiteres zu unterstellen ist, insbesondere also keine inzidente Prüfung des Anspruchs auf Asyl vorzunehmen ist (vgl. VGH BW, U.v. 29.7.2019 - A 4 S 749/19 - juris Rn. 40).
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Dafür, dass die Lebensbedingungen anerkannt Schutzberechtigter in den Niederlanden generell derartig defizitär wären, gibt es keine Anhaltspunkte (so auch VG Düsseldorf, B.v. 16.12.2019 - 29 L 2681/19.A - juris m.w.N. und BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Niederlande, vom 16.2.2018, S. 10). Anerkannte Flüchtlinge und Begünstigte bezüglich eines internationalen Schutzes haben vollen Zugang zum niederländischen Wohlfahrtssystem (medizinische, soziale und finanzielle Zuwendungen). Personen mit einem Schutzstatus sind hinsichtlich des Anspruchs auf Gesundheitsversorgung niederländischen Bürgern gleichgestellt und haben vollen Zugang zu Beschäftigung (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Niederlande, vom 16.2.2018, S. 10).
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Eine andere Beurteilung der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheides in Bezug auf die Unzulässigkeitsentscheidung in Nr. 1 ist insbesondere auch nicht vor dem Hintergrund der zwischenzeitlichen Entwicklung im Zuge der COVID-19-Pandemie (Corona-Krise) angezeigt. Das Gericht geht nicht davon aus, dass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG die Verhältnisse in den Niederlanden mit Blick auf das „Coronavirus“ entgegenstehen. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der Antragsteller in den Niederlanden aufgrund der voraussichtlichen Lebensverhältnisse in eine Lage extremer Not geraten würde. Dies gilt aber wegen des oben näher erläuterten Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens nur in Extremfällen (vgl. Heusch/Günther in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 29. Edition Stand: 1.4.2021, § 29 AsylG Rn. 22 - 24). Das Gericht hat - auf der Basis des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens und auch angesichts der in den Niederlanden getroffenen Maßnahmen - keine substantiierten Erkenntnisse, die die Annahme eines solchen Extremfalles in der Person des Antragstellers oder allgemein das Vorliegen systemischer Mängel in den Niederlanden begründen könnten. Im System des gegenseitigen Vertrauens ist für die Niederlande vielmehr weiter von einem die Grundrechte sowie die Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden, wahrenden Asylsystem auszugehen.
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Schließlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Rückkehr des Antragstellers in die Niederlande aufgrund des Vorbringens ausgeschlossen wäre, dass sich dort sein Mitbewohner aufhalte, der ihm nach dem Leben trachte. Abgesehen davon, dass das Vorbringen insoweit oberflächlich und nicht hinreichend substantiell ist, obliegt es dem Antragsteller jedenfalls, sich schutzsuchend an die niederländischen Behörden zu wenden.
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Nach alledem ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin ermessensfehlerhaft keinen Gebrauch von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO gemacht hat.
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2.3. Bei dem Antragsteller liegen zum jetzigen maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) auch weder Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 Satz 1 AufenthG bezogen auf die Niederlande noch inlandsbezogene Vollzugshindernisse vor.
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Auch insoweit nimmt das Gericht auf die Ausführungen in der Begründung des Bescheids Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG) und macht sich diese zu Eigen.
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Insbesondere sind keine gewichtigen Erkrankungen ersichtlich, die in den Niederlanden nicht behandelt oder weiterbehandelt werden könnten.
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Insbesondere führt auch die COVID-19-(sog. Corona-)Pandemie in den Niederlanden nach dem für das Gericht maßgeblichen gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt nicht zur Feststellung eines zielstaatbezogenen Abschiebungsverbots. Nach der Regelung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG sind Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1
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AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für längsten drei Monate ausgesetzt wird.
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Nur wenn eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 2 AufenthG fehlt, kann der Antragsteller in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise Abschiebungsschutz beanspruchen, wenn er bei Überstellung aufgrund der herrschenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren.
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Diese Voraussetzungen liegen beim Antragsteller nicht vor. Denn nur, wenn im Einzelfall die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden, etwa wenn das Fehlen eines Abschiebungsstopps dazu führen würde, dass ein Ausländer im Zielstaat der Abschiebung sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet würde, wird die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG durchbrochen und es ist ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen (vgl. Koch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 29. Edition Stand: 1.4.2021, § 60 Rn. 45 m.w.N.).
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Eine derartige Extremgefahr kann für den Antragsteller im Falle seiner Rückkehr in die Niederlande indes nicht angenommen werden. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller als junger Mann in den Niederlanden gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Gesundheitsschäden ausgeliefert wäre. Der Antragsteller hat eine relevante Vorerkrankung nicht substantiiert geltend gemacht bzw. nachgewiesen. Des Weiteren ist die Versorgungslage für die Bevölkerung in den Niederlanden - einschließlich international Schutzsuchender bzw. Schutzberechtigter - auch unter Berücksichtigung gewisser Einschränkungen nicht derart desolat, dass auch nur annähernd von einer allgemeinen Gefahrenlage im Sinne des § 60a Abs. 1 AufenthG gesprochen werden könnte.
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Das Gericht geht weiter nicht davon aus, dass eine Dublin-Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat sonst aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich wäre. Insbesondere stehen der Abschiebungsanordnung aufgrund der aktuellen COVID-19-Pandemie und damit zusammenhängenden Reisebeschränkungen keine tatsächlichen Vollzugshindernisse entgegen.
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Nach alledem ist die Abschiebung des Antragstellers in die Niederlande weiterhin rechtlich zulässig und möglich.
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3. Nachdem die Klage in der Hauptsache voraussichtlich erfolglos bleiben wird, überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des Bescheides, so dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage abzulehnen war.
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4. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.