Inhalt

VGH München, Beschluss v. 06.09.2022 – 8 ZB 22.1093
Titel:

Erfolglose Klage gegen eine sicherheitsrechtliche Anordnung zum Rückschnitt von in eine Straße hineinragendem Pflanzenbewuchs

Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5, § 124a Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2
LStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 2
BayStrWG Art. 29 Abs. 2, Art. 66 Nr. 4
BNatSchG § 39 Abs. 5 S. 1 Nr. 2
Leitsätze:
1. Angesichts des Wortlauts des Art. 29 Abs. 2 S. 1 BayStrWG und seiner Entstehungsgeschichte spricht Einiges dafür, dass für in den Straßenraum hineinragenden Pflanzenbewuchs die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs ausreicht, soweit sich der Pflanzenwuchs nicht auf dem eigenen Grundstück befindet, sondern gleichsam als Überhang (vgl. § 910 BGB) in den Lichtraum einer angrenzenden Verkehrsfläche hineinragt (Einschränkung der Rechtsprechung des Senats in VGH München BeckRS 2005, 25548 274 Rn. 24 für den Rückschnitt von Überwuchs). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt erst dann vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände erkennen lassen, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen hat. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Berufungszulassung (abgelehnt), Sicherheitsrechtliche Anordnung zum Rückschnitt von Pflanzenbewuchs, Naturschutzrechtliches Schneideverbot, Zulassungsantrag, sicherheitsrechtliche Anordnung, Rückschnitt von Pflanzenbewuchs, Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, Schneideverbot, Form- und Pflegeschnitt, rechtliches Gehör
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 15.03.2022 – Au 8 K 22.130
Fundstelle:
BeckRS 2022, 23731

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Tatbestand

I.
1
Die Klägerin wendet sich gegen eine sicherheitsrechtliche Verpflichtung zum Rückschnitt von Pflanzenbewuchs.
2
Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks FlNr. … der Gemarkung K., das mit einem Einfamilienhaus und einer Garage bebaut ist. An der Nordseite ist das Grundstück über die als Gemeindestraße gewidmete O. straße „A.“ erschlossen. Das klägerische Grundstück grenzt direkt an den Straßenkörper; einen Bordstein oder Gehweg gibt es nicht. Zur Straße hin ist das Grundstück eingefriedet mit einem Gartenzaun und einer Thujenhecke.
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Bereits mit Bescheid vom 29. April 2019 verpflichtete der Beklagte die Klägerin zum Rückschnitt des Bewuchses an der Nordseite des Grundstücks. Ein hiergegen gerichtetes Klageverfahren war nicht erfolgreich (Au 8 K 19.673; 8 ZB 19.1855). Nachdem die Klägerin ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen war, führte der Beklagte am 11. Dezember 2019 den Rückschnitt der Hecke im Wege der Ersatzvornahme durch.
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Nach weiteren schriftlichen Aufforderungen verpflichtete der Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom 19. März 2021 erneut, den Bewuchs, der entlang der Nordgrenze ihres Grundstücks in den Straßenraum der Straße „A.“ hineinragt, bis spätestens drei Wochen nach Bekanntgabe des Bescheids so weit zurückzuschneiden, dass über der Fahrbahn eine lichte Höhe von mindestens 4,50 m frei von Bewuchs ist (Ziffer I). Der Sofortvollzug wurde angeordnet (Ziffer II) und ein Zwangsgeld in Höhe von 100,00 Euro angedroht für den Fall der nicht ordnungsgemäßen Durchführung des geforderten Rückschnitts innerhalb der gesetzten Frist (Ziffer III). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Pflanzenbewuchs stellenweise über 1 m in den Straßenraum hineinrage und durch die Verengung des Straßenraums die Sicherheit und Leichtigkeit vor allem des Begegnungsverkehrs beeinträchtigt sei.
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Das Verwaltungsgericht hat den hiergegen gerichteten Eilantrag abgelehnt (B.v. 28.4.2021 - Au 8 S 21.944; bestätigt BayVGH, B.v. 12.1.2022 - 8 CS 21.1595). Die zugleich erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 15. März 2022 abgewiesen. Die sicherheitsrechtliche Anordnung zum Rückschnitt des Pflanzenbewuchses sei rechtmäßig. Der Verbotstatbestand des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 BayStrWG sei erfüllt. Von der Klägerin werde weder etwas rechtlich noch tatsächlich Unmögliches verlangt.
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Mit dem Zulassungsantrag verfolgt die Klägerin ihr Rechtsschutzbegehren weiter.
II.
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Der Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.
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1. Der von der Klägerin allein geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils ist nicht hinreichend dargelegt bzw. liegt nicht vor (§ 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO).
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen nur, wenn einzelne tragende Rechtssätze oder erhebliche Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts durch schlüssige Gegenargumente infrage gestellt werden. Schlüssige Gegenargumente liegen vor, wenn der Antragsteller substanziiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufzeigt, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 - NVwZ 2011, 546 = juris Rn. 19). Solche sind nicht erst dann gegeben, wenn der Erfolg des Antrags auf Zulassung der Berufung wahrscheinlicher ist als der Misserfolg (vgl. BVerfG, B.v. 16.4.2020 - 1 BvR 2705/16 - juris Rn. 22). Bei der Beurteilung ist nicht auf einzelne Elemente der Urteilsbegründung abzustellen, sondern auf das Ergebnis der Entscheidung, also auf die Richtigkeit des Urteils nach dem Sachausspruch in der Urteilsformel (vgl. BVerfG, B.v. 7.10.2020 - 2 BvR 2426/17 - NVwZ 2021, 325 = juris Rn. 34; BVerwG, B.v. 10.3.2004 - 7 AV 4.03 - DVBl 2004, 838 = juris Rn. 9).
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Ausgehend von diesen Maßstäben begründet das Vorbringen der Klägerin keine ernstlichen Zweifel an der Ergebnisrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht mit der Begründung abgewiesen, dass die auf Art. 7 Abs. 2 Nr. 2 LStVG i.V.m. Art. 66 Nr. 4, Art. 29 Abs. 2 Satz 1 BayStrWG gestützte Anordnung zum Rückschnitt des Pflanzenbewuchses rechtmäßig ist (vgl. zum Regime des Art. 29 BayStrWG als alleinige Rechtsgrundlage B.v. 12.1.2022 - 8 CS 21.1595 - juris Rn. 9 m.w.N.).
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a) Die Klägerin kann mit ihrem Einwand nicht durchdringen, dass der Rückschnitt im vorliegenden Fall nicht erforderlich gewesen sei.
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Das Verwaltungsgericht kommt in der angefochtenen Entscheidung zu dem Ergebnis, dass die überhängenden Äste augenscheinlich nicht nur eine Sichtbehinderung darstellen, sondern konkret die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs in der Gemeindestraße gefährden. Dies gilt insbesondere angesichts des Umstands, dass die Verkehrsfläche nicht in Fahrbahn und Gehweg unterteilt ist, und es somit - zusätzlich zu den Gefahren im Begegnungsverkehr zwischen PKW - auch zu einer Gefahr für die körperliche Integrität von Fußgängern kommt (vgl. UA Rn. 32).
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Dem hat die Klägerin keine substanziierten Einwendungen entgegengesetzt, die diese Feststellungen ernstlich in Zweifel ziehen könnten. Dies gilt insbesondere für den pauschalen Hinweis, dass von einer wesentlich geringeren Gefahrenlage für Fußgänger auszugehen sei als bei einer normalen Durchgangsstraße, weil flüssiger Gegenverkehr fehle aufgrund der Lage des Grundstücks in einer Sackgasse sowie der überdurchschnittlichen Straßenbreite von 5,30 m auf Höhe des klägerischen Grundstücks. Das schlichte Bestreiten und Anführen der gegenteiligen Auffassung - unter Ausblendung der diesbezüglichen Urteilserwägungen - erfüllt nicht die Darlegungsanforderungen aus § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO. Ein Rechtsmittelführer muss bei der Berufung auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO konkret darlegen, warum die angegriffene Entscheidung aus seiner Sicht im Ergebnis mit überwiegender Wahrscheinlichkeit falsch ist. Dazu muss er sich mit den entscheidungstragenden Annahmen des Ersturteils auseinandersetzen und im Einzelnen dartun, in welcher Hinsicht und aus welchen Gründen diese Annahmen ernstlichen Zweifeln begegnen (vgl. OVG NW, B.v. 15.4.2020 - 1 A 2501/18 - juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 6.8.2019 - 20 ZB 18.2418 - juris Rn. 2; Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 206).
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Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang lediglich einwendet, das Verwaltungsgericht habe sich mit der wesentlich geringeren Gefahrenlage für Fußgänger überhaupt nicht auseinandergesetzt, vermag dies die Richtigkeit der vom Erstgericht getroffenen Feststellungen ebenfalls nicht in Zweifel zu ziehen. Der Sache nach beruft sich die Klägerin mit diesem Vorbringen auf den Zulassungsgrund des Verfahrensmangels in Gestalt einer Verletzung des Gebots des rechtlichen Gehörs (vgl. dazu Rn. 18 ff.).
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Unabhängig davon spricht - angesichts des Wortlauts des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 BayStrWG („beeinträchtigen können“, vgl. BayVGH, B.v. 11.11.2019 - 8 ZB 19.1855 - juris Rn. 10; Wiget in Zeitler, BayStrWG, Stand März 2019, Art. 29 Rn. 24) und seiner Entstehungsgeschichte (vgl. LT-Drs. III/2832 S. 33 zu Art. 31) - aus Sicht des Senats Einiges dafür, dass für in den Straßenraum hineinragenden Pflanzenbewuchs die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs ausreicht, soweit sich der Pflanzenwuchs nicht auf dem eigenen Grundstück befindet, sondern gleichsam als Überhang (vgl. § 910 BGB) in den Lichtraum einer angrenzenden Verkehrsfläche hineinragt (Einschränkung der Rechtsprechung des Senats im Urteil vom 15.12.2004 - 8 B 04.1524 - BayVBl 2005, 274 = juris Rn. 24 für den Rückschnitt von Überwuchs, vgl. BayVGH, B.v. 17.8.2022 - 8 CS 22.1539 - juris Rn. 21).
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b) Zutreffend hat das Verwaltungsgericht ferner festgestellt, dass von der Klägerin mit Blick auf das Schneideverbot des § 39 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 HS 1 BNatSchG nichts rechtlich bzw. tatsächlich Unmögliches verlangt wird. Denn Ziffer I des streitgegenständlichen Bescheides verfügt einen gemäß § 39 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 HS 2 BNatSchG (stets) zulässigen Form- und Pflegeschnitt (vgl. UA Rn. 33 f.).
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Dagegen richtet sich das Zulassungsvorbringen jedoch nicht. Es zielt mit seinem Hinweis auf das Erfordernis einer konkreten Gefahr im Fall einer Ausnahme nach § 39 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BNatSchG allein gegen den weiteren Ablehnungsgrund des Verwaltungsgerichts, wonach das Schneideverbot nicht gilt, wenn - wie hier - die Maßnahme nach § 39 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 BNatSchG behördlich angeordnet ist (vgl. UA Rn. 35). Darauf kommt es im Rahmen der Prüfung des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO jedoch nicht mehr an. Stützt das Verwaltungsgericht seine Entscheidung - wie hier - auf mehrere selbständig tragende Gründe, kommt eine Zulassung der Berufung nur dann in Betracht, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund dargelegt wird und vorliegt (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2021 - 15 ZB 21.2277 - juris Rn. 6 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 61). Dies ist hier nicht der Fall.
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2. Eine Zulassung der Berufung hat schließlich auch nicht wegen eines Verfahrensmangels gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zu erfolgen. Der Senat unterstellt zu Gunsten der Klägerin, dass sie diesen nicht ausdrücklich benannten Zulassungsgrund mit ihrem unter dem Aspekt der Richtigkeitszweifel erfolgten Vorbringen hinsichtlich einer Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) geltend machen will.
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Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs hat eine zweifache Ausprägung. Zum einen untersagt er dem Gericht, seiner Entscheidung Tatsachen oder Beweisergebnisse zugrunde zu legen, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Zum anderen gibt er den Beteiligten einen Anspruch darauf, dass ihr rechtzeitiges und möglicherweise erhebliches Vorbringen vom Gericht zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung in Erwägung gezogen wird, soweit es aus verfahrens- oder materiell-rechtlichen Gründen nicht ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben muss oder kann (vgl. BVerfG, B.v. 29.10.2015 - 2 BvR 1493/11 - NVwZ 2016, 238 = juris Rn. 45; BayVerfGH, E.v. 20.4.2021 - Vf. 44-VI-20 - BayVBl 2021, 516 = juris Rn. 32; BVerwG, U.v. 14.11.2016 - 5 C 10.15 D - BVerwGE 156, 229 = juris Rn. 65, jeweils m.w.N.).
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Die Klägerin kann nicht damit durchdringen, das Verwaltungsgericht habe sich nicht damit auseinandergesetzt, dass es sich bei der streitgegenständlichen Straße um eine Sackgasse mit einer für eine W. straße überdurchschnittlichen Breite handele, die im Regelfall nur in einer Richtung mit sehr geringer Geschwindigkeit befahren werde. Das Gericht ist nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen eines Beteiligten in den Gründen seiner Entscheidung ausdrücklich zu befassen. Es ist daher verfehlt, aus der Nichterwähnung einzelner Begründungsteile des Vorbringens in den Entscheidungsgründen zu schließen, das Gericht habe sich nicht mit den darin enthaltenen Argumenten befasst. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt erst dann vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände erkennen lassen, dass das Gericht tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen hat (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2022 - 8 ZB 21.2339 - juris Rn. 54).
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Besondere Umstände in diesem Sinn sind vorliegend weder ersichtlich noch von der Klägerin dargelegt. Im Gegenteil hatte sie im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens noch damit argumentiert, dass die Straße „A.“ überhaupt nicht nutzbar sei und bei Gegenverkehr immer ein Auto rückwärts aus der Straße fahren bzw. in eine Einfahrt ausweichen müsse.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 3 und Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2 GKG; sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwände erhoben wurden.
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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).