Inhalt

VG München, Urteil v. 14.06.2022 – M 26a K 19.32546
Titel:

erfolgloses Asylbegehren (Tunesien) 

Normenketten:
AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2
QualRL Art. 4 Abs. 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 s. 1
Leitsatz:
Für einen erwerbsfähigen und gesunden jungen Mann besteht grundsätzlich - auch ohne nennenswertes Vermögen oder familiäres Unterstützungsnetzwerk - bei einer Rückkehr nach Tunesien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung.  (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht (Tunesien), Teilweise Klagerücknahme (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft), Erfolglose Klage, subsidiärer Schutz, Qualifikationsrichtlinie, Abschiebungsverbot
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 08.09.2022 – 15 ZB 22.30921
Fundstelle:
BeckRS 2022, 23714

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten der Verfahren zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der am ... geborene Kläger ist seinen Angaben im Asylverfahren zufolge tunesische Staatsangehörige und gehört zum Volke der Araber.
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Am 10. August 2018 beantragte er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) seine Anerkennung als Asylberechtigter.
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Am 31. Oktober 2018 wurde er vom Bundesamt zu seinen Asylgründen angehört. Hierbei gab er u.a. an, im Mai 2018 zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder auf dem Luftweg mit einem Visum nach Italien gereist zu sein. Er und sein (Zwillings-)Bruder hätten eigentlich illegal mit einem Boot nach Italien einreisen wollen, sein (größerer) Bruder, der in Italien lebe, habe ihnen aber geraten, mit einem Visum einzureisen. In Italien habe er eine Nacht verbracht und sei dann zusammen mit seinem Zwillingsbruder nach Deutschland weitergereist. Weder der Vater noch der große Bruder hätten gewusst, dass sie nach Deutschland weiterreisen wollten. Wenn er in Italien geblieben wäre, hätte ihn der Vater wieder zurück nach Tunesien gebracht. Das habe er nicht gewollt, da er viele Probleme mit seinem Vater gehabt habe. Dieser habe ihn und seinen Zwillingsbruder immer geschlagen und ins Zimmer eingesperrt. Er habe sie nicht zur Schule gehen lassen und ihnen gesagt, dass sie mit ihm arbeiten gehen sollten. Wenn sie sich geweigert hätten, habe er sie geschlagen. Einmal habe er zu einer Feier gehen wollen, was ihm der Vater verboten habe. Auf seine Frage, warum er nicht gehen dürfe, habe der Vater ihn geschlagen. Sie seien schon im Alter von acht oder neun Jahren von ihrem Vater geschlagen worden. Das sei ganz normal in Tunesien, das gehöre zur Erziehung. Immer, wenn er etwas gemacht habe, was seinem Vater nicht gepasst habe, habe ihn der Vater geschlagen, unabhängig davon, ob er es absichtlich oder unabsichtlich gemacht habe. Üblicherweise sei er mit einem Stock oder Gürtel geschlagen worden. Einmal sei er mit einem Stock, in dem ein Nagel gewesen sei, geschlagen worden; dabei sei er am Bein verletzt worden. Er habe eine offene Wunde am Bein gehabt, das sei aber wieder verheilt.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 8. Juli 2019 (Az.: ...) lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab, und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4). Zugleich wurde der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Anderenfalls würde er nach Tunesien oder in einen anderen, zu seiner Aufnahme bereiten oder verpflichteten Staat abgeschoben (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Mit Telefax vom … Juli 2019 erhob der Kläger, vertreten durch das Stadtjugendamt München als gesetzlicher Vertreter, Klage mit dem Antrag,
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den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Juli 2019, zugestellt am 11. Juli 2019, Az. …, hinsichtlich der Nrn. 1, 3 bis 6 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Flüchtling gemäß § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG anzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG und somit ein Abschiebeverbot gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG, hilfsweise Abschiebeverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Tunesiens vorliegen.
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Zur Begründung wurde auf die Ausführungen im bisherigen Verfahren Bezug genommen.
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Mit Schreiben vom 18. Juli 2019 übersandte die Beklagte die elektronische Behördenakte, stellte jedoch keinen Antrag.
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Mit Schreiben vom … September 2019 zeigte der Bevollmächtigte des Klägers dessen Vertretung an; eine weitergehende Begründung der Klage erfolgte nicht.
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Mit Beschluss vom 26. April 2022 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung vom 3. Juni 2022 zu seinen Asylgründen befragt. Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage erklärte die Bevollmächtigte des Klägers im Einvernehmen mit diesem:
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Im Hinblick auf die Verpflichtung des Bundesamtes, dem Kläger unter Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wird die Klage zurückgenommen.
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Es wird beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der Nrn. 3, 4, 5 und 6 des streitgegenständlichen Bescheides zu verpflichten dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Tunesiens vorliegen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakte des Klägers (M 26a K 19.32546) und dessen Zwillingsbruders (M 26a K 19.32548) und die vom Bundesamt vorgelegte Behördenakte des Klägers und dessen Zwillingsbruders Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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1. Das Gericht konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 3. Juni 2022 entscheiden, obwohl seitens der Beklagten niemand zur mündlichen Verhandlung erschienen war. Denn in dem Ladungsschreiben vom 28. April 2022 war darauf hingewiesen worden, dass bei Nichterscheinen eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Zur Entscheidung ist nach den Übertragungsbeschlüssen der Kammer vom 26. April 2022 die Einzelrichterin berufen (§ 76 Abs. 1 AsylG).
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2. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung am 3. Juni 2022 die Klage im Hinblick auf die Verpflichtung des Bundesamtes, ihm unter Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, zurückgenommen. Insoweit war das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
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3. Die Klage ist, soweit sie noch anhängig ist, zulässig, aber unbegründet und war daher abzuweisen. Der Bescheid der Beklagten vom 8. Juli 2019 ist in den Nummern 3, 4, 5 und 6 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).
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3.1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 2 AufenthG und § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG.
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3.1.1. Subsidiärer Schutz setzt voraus, dass stichhaltige Gründe dafür vorliegen, dass dem Ausländer ernsthafter Schaden droht in Form der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Dabei kommen auch im Hinblick auf den subsidiären Schutz nichtstaatliche Akteure in Betracht (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c AsylG). Auch insoweit ist allerdings relevant, inwieweit Schutz durch den Heimatstaat geboten werden kann (§ 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. §§ 3d und 3e AsylG). Auch für die Frage, ob stichhaltige Gründe für die Annahme einer Gefahr der in § 4 Abs. 1 AsylG genannten ernsthaften Schäden vorliegen, ist die RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie - QualRL -), insbesondere Art. 4 Abs. 4 QualRL, ergänzend anzuwenden (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 4 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 und § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG sowie § 2 Abs. 13 Nr. 2 AufenthG).
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3.1.2. Im vorliegenden Fall ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass stichhaltige Gründe dafür vorliegen, dass dem Kläger im Falle der Rückkehr in sein Heimatland ernsthafter Schaden in Form der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
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3.1.3. Auch subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG kommt im Fall des Klägers nicht in Betracht.
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3.1.3.1. Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine Schlechtbehandlung einschließlich Bestrafung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen, um in den mit § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG und Art. 15 lit. b QualRL insoweit identischen Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. Die Bewertung dieses Minimums ist nach der Natur der Sache relativ. Kriterien hierfür sind abzuleiten aus allen Umständen des Einzelfalles, wie etwa der Art der Behandlung oder Bestrafung und dem Zusammenhang, in dem sie erfolgte, der Art und Weise ihrer Vollstreckung, ihrer zeitlichen Dauer, ihrer physischen und geistigen Wirkungen, sowie gegebenenfalls abgestellt auf Geschlecht, Alter bzw. Gesundheitszustand des Opfers. Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (vgl. VGHBW, U.v. 6.3.2012 - A 11 S 3070/11 - juris Rn. 16; Hailbronner, Ausländerrecht Bd. 3, Stand 6/2014 § 4 AsylG Rn. 21-27 m.w.N. zur Rechtsprechung).
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Der Ausländer hat stichhaltige Gründe für die Annahme darzulegen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Der Maßstab der stichhaltigen Gründe (essential grounds, Art. 2 lit. f QualRL) bei der Prüfung, ob eine konkrete Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung besteht, entspricht dem asylrechtlichen Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit steht die Rechtsgutsverletzung bevor, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise, d.h. bei einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung, die für die Rechtsgutsverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Die in diesem Sinne erforderliche Abwägung bezieht sich nicht allein auf das Element der Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern auch auf das Element der zeitlichen Nähe des befürchteten Ereignisses; auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs ist in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. VGHBW, U.v. 6.3.2012 - A 11 S 3070/11 - juris Rn. 17 unter Bezugnahme auf BVerwG, B.v. 10.04.2008 - 10 B 28.08 - juris Rn. 6; U.v. 14.12.1993 - 9 C 45.92 - juris Rn. 10 f.; U. v. 05.11.1991 - 9 C 118.90 - juris Rn. 17; Hailbronner, Ausländerrecht Bd. 3, Stand 6/2014 § 4 AsylG Rn. 61ff. m.w.N. zur Rechtsprechung).
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3.1.3.2. Vorliegend kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger vor seiner Ausreise durch die Erziehungsmethoden seines Vaters von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung im oben dargelegten Sinne aufgrund einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation bedroht gewesen ist oder einen solchen Schaden bereits erlitten hat. Denn das Gericht hält es im gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt nicht für hinreichend wahrscheinlich, dass der Kläger im Fall der Rückkehr nach Tunesien einen ernsthaften Schaden erleiden wird.
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Wie oben bereits dargelegt, ist auch für die Frage, ob stichhaltige Gründe für die Annahme einer Gefahr der in § 4 Abs. 1 AsylG genannten ernsthaften Schäden vorliegen, Art. 4 Abs. 4 QualRL ergänzend anzuwenden, da der Gesetzgeber im Kontext des subsidiären Schutzes eine Umsetzung der Vorverfolgungs- bzw. Vorgefährdungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 QualRL unterlassen hat.
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In der Sache begründet Art. 4 Abs. 4 QualRL eine tatsächliche Vermutung dafür, dass dem Betroffenen nach seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden im oben genannten Sinne droht. Voraussetzung für das Eingreifen dieser tatsächlichen Vermutung ist dabei zunächst, dass der Betroffene vor seiner Ausreise einen ersthaften Schaden erlitten hat oder er von diesem unmittelbar bedroht war (BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56 (59)). Liegen diese Voraussetzungen vor, so kann diese tatsächliche Vermutung nur durch stichhaltige Gründe widerlegt werden, die gegen eine Wiederholung der jeweiligen Gefährdung sprechen. In diesem Sinne muss das von der Rechtsprechung entwickelte weitere Kriterium eines „sachlichen Zusammenhangs“ der Vorschädigung mit der nunmehr behaupteten Bedrohung (vgl. BVerwG NVwZ 2012, 454 (455 f.); Hailbronner AuslR Rn. 72) verstanden werden: Liegt ein solcher Zusammenhang nicht vor, so greift die Vermutung zwar hinsichtlich der bereits erlittenen Vorgefährdung ohne Weiteres ein; es besteht jedoch kein Anlass für die Vermutung, dass der Betroffene zugleich (erstmals) in anderer Weise gefährdet werden wird. Das Kriterium des „sachlichen Zusammenhangs“ entbindet daher nicht vom Erfordernis der Widerlegung der Vorverfolgungsvermutung im Einzelfall, begrenzt deren Wirkung aber auf die konkret erlittene Vorgefährdung und mit ihr vergleichbare Gefährdungssituationen (BeckOK MigR/Wittmann, 11. Ed. 15.4.2022, AsylG § 4 Rn. 85 - 87).
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Diese sich aus Art. 4 Abs. 4 QualRL ergebende tatsächliche Vermutung wird vorliegend dadurch widerlegt, dass der Kläger mittlerweile volljährig ist und im Falle seiner Rückkehr nicht zu seinem Vater zurückkehren und sich der Gefahr einer (erneuten) unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung aussetzen muss.
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Soweit der Kläger hierzu in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, dass er nicht wisse, wo er hingehen solle, was von seinem Bevollmächtigten dahingehend ergänzt wurde, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bundesamtsbescheides erst 16 Jahre alt gewesen sei, dieser jetzt zwar 19 Jahre alt sei, aber immer noch nicht so ausgebildet, dass er zurückgehen könnte, und man in Tunesien ohne familiären Background keine Arbeitsstelle bekomme, verfangen diese Argumente nicht. Zum einen ist maßgeblicher Zeitpunkt der der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG), so dass auf den Kläger als 19jährigen abzustellen ist. Zum anderen stellt sich die Situation in Tunesien für das Gericht nach der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Auskunftslage nicht dergestalt dar, dass der 19jährige Kläger, der sowohl in Tunesien als auch in Deutschland die Schule besucht hat und - wie die mündliche Verhandlung am 3. Juni 2022 gezeigt hat - hervorragend die deutsche Sprache beherrscht, aufgrund seiner persönlichen Situation und der Lage in Tunesien im Falle seiner Rückkehr nicht unabhängig von seinem Vater Fuß fassen könnte: Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 29. April 2022 bieten die tunesischen sozialen Sicherungssysteme eine Grundversorgung, die allerdings nicht mit europäischen Maßstäben gemessen werden kann. Auch wenn es keine allgemeine Grundversorgung oder Sozialhilfe und keine speziellen staatlichen Hilfsangebote für Rückkehrende gibt, wird im Rahmen des EU-Nothilfefonds zur Unterstützung der Stabilität und zur Bekämpfung der Ursachen für irreguläre Migration und Vertreibung in Afrika derzeit ein Projekt für Tunesien umgesetzt, das u.a. die Wiedereingliederung von Rückkehrenden unterstützt (Sozialhilfe, Berufsvermittlung, Existenzgründung), das der Kläger in Anspruch nehmen kann. Im März 2017 hat die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Tunis ein Beratungszentrum - das Deutsch-Tunesische Zentrum für Jobs, Migration und Reintegration - eröffnet. Besucher*innen erhalten kostenlos Informationen und Beratung zu beruflichen Perspektiven im Land. Das Zentrum arbeitet eng mit der tunesischen Arbeitsagentur ANETI zusammen. Neben Informationen zu Angeboten auf dem tunesischen Arbeitsmarkt erhalten die Menschen hier auch Beratung rund um Qualifizierungsangebote der GIZ, über die Voraussetzungen für eine reguläre Migration oder über die Risiken der irregulären Migration. Es findet eine persönliche Beratung im Beratungszentrum statt sowie Jobmessen und Infoveranstaltungen. Vor diesem Hintergrund besteht für das Gericht kein Anlass für die Vermutung, dass der Kläger gezwungen wäre, nach seiner Rückkehr nach Tunesien zu seinem Vater zurückzukehren, ungeachtet der Frage, ob dieser den mittlerweile volljährigen Sohn tatsächlich in gleicher Weise wie vor dessen Ausreise als 16jährigen behandeln würde.
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3.1.4. Es liegen auch keine stichhaltigen Gründe dafür vor, dass dem Kläger als Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG), weil ein solcher in Tunesien derzeit nicht besteht.
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3.2. Der Kläger hat gegen die Beklagte auch keinen Anspruch auf Feststellung, dass bei ihm nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Tunesiens vorliegen.
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3.2.1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685; Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
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Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = NVwZ 2013, 1167 - juris Rn. 25).
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Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BayVGH, U. v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 39; BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“; U.v. 13.6.2013 - 10 C 13.12 - BVerwGE 147, 8 = NVwZ 2013, 1489 = juris Rn. 25; U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = NVwZ 2013, 1167 = juris Rn. 25 unter Bezugnahme auf EGMR, U.v. 28.6.2011 - Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681 - Rn. 278 ff.; BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - Asylmagazin 2015, 197 = juris Rn. 17; VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn. 176 f.; OVG NW, B.v. 14.3.2018 - 13 A 341/18.A - juris Rn. 19 f.).
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Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 13). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen vielmehr ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen; diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BayVGH, U. v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 40; BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 11). Die Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (U.v. 28.6.2011, a.a.O., Rn. 278, 282 f.) als auch des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = NVwZ 2013, 1167) macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - Asylmagazin 2015, 197 = juris Rn. 19; VGH BW, U.v. 11.4.2018 - A 11 S 1729/17 - juris Rn. 128-131).
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Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich aber auch ausreichend ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BayVGH, U. v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 41; BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 = NVwZ 2011, 51 - juris Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 = NVwZ 2013, 1167 - juris Rn. 26).
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3.2.2. Unter Berücksichtigung obiger Grundsätze und der aktuellen Erkenntnismittel geht das Gericht davon aus, dass für den erwerbsfähigen und gesunden Kläger auch ohne nennenswertes Vermögen oder familiäres Unterstützungsnetzwerk bei einer Rückkehr nach Tunesien die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK grundsätzlich nicht gegeben sind. Denn eine beachtlich wahrscheinliche, im Widerspruch zu Art. 3 EMRK stehende Behandlung ist insoweit nicht zu erwarten. Insoweit wird auf die oben gemachten Ausführungen zur Rückkehrsituation des Klägers verwiesen.
38
3.2.3. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Da für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse in Tunesien im Vergleich zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sogar eine geringere Gefahrenschwelle gilt (BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 13), die vorliegend nicht überschritten ist, sind diese Vorrausetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf den gesunden Kläger vorliegend nicht gegeben.
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3.3. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des streitgegenständlichen Bescheides entspricht ebenso wie die Ausreisefrist den gesetzlichen Vorschriften (§ 34 AsylG i.v.m. § 59 AufenthG). Im Rahmen des Vollzugs dieser Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung wird die zuständige Ausländerbehörde allerdings zu berücksichtigen haben, ob und inwiefern die bereits in Deutschland vollbrachten Integrationsleistungen des Klägers (seine hervorragenden Kenntnisse der deutschen Sprache und seine begonnene Ausbildung zum Hotelfachmann) zu einem der Abschiebung entgegenstehenden Aufenthaltsrecht führen.
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3.4. Auch die im Bescheid gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG a.F. ausgesprochene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ist nach Maßgabe des § 114 VwGO nicht zu beanstanden. Über die Länge der Frist wird gem. § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG i.d.F. des Gesetzes vom 15. August 2019 (n.F.) nach Ermessen entschieden, wobei die Befristung im Regelfall fünf Jahre nicht überschreiten darf. Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Ermessensausübung sind nicht erkennbar. Die von der Beklagten festgesetzte Frist hält sich im mittleren Bereich der zulässigen Befristungsdauer. Gründe für einen kürzeren Befristungszeitraum sind nicht ersichtlich. Dass nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG n.F. ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gesondert angeordnet werden muss, macht den Bescheid nicht fehlerhaft, da nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur früheren Rechtslage in einer behördlichen Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 a.F. regelmäßig auch die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots von bestimmter Dauer zu sehen war (vgl. BayVGH, B.v. 11.9.2019 - 10 C 18.1821 - juris Rn. 13 unter Verweis auf BVerwG, B.v. 13.7.2017 - 1 VR 3.17 - juris Rn. 72 und BVerwG, U.v. 25.7.2017 - 1 C 13.17 - juris Rn. 23).
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4. Die Kostenentscheidung beruht im Hinblick auf den zurückgenommenen Streitgegenstand auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff der Zivilprozessordnung (ZPO).