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VG Augsburg, Urteil v. 16.05.2022 – Au 9 K 22.30431
Titel:

Abschiebungsverbot für in Deutschland geborenes Kleinkind - Nigeria   

Normenketten:
AufenthG § 11, § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 43 Abs. 3
Leitsatz:
Da ein minderjähriges Kind nicht ohne seine Eltern abgeschoben wird, kann es bei einer Rückkehr nach Nigeria die übliche familiäre Unterstützung erwarten. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nigeria, in der Bundesrepublik, Deutschland geborenes Kleinkind, Abschiebungsverbote (verneint), Kleinkind, Abschiebungsverbote
Fundstelle:
BeckRS 2022, 23683

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat.
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Die am ... in ... (Bundesrepublik Deutschland) geborene Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige mit Volkszugehörigkeit der Edo (Bini) und christlichem Glauben.
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Die gesetzlichen Vertreter der Klägerin stellten am 22. November 2021 für die Klägerin einen Asylantrag. Dieser wurde gem. § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiären Schutz) beschränkt.
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Zur Begründung des Asylantrags wurde für die Klägerin auf die Gefahr einer drohenden Zwangsbeschneidung (FGM) verwiesen.
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Der Asylantrag der Mutter der Klägerin (Gz. des Bundesamts: ...) ist seit dem 26. Oktober 2019 rechtskräftig abgelehnt. Der Asylantrag des Vaters der Klägerin (Gz. des Bundesamts: ...) ist ebenfalls seit dem 22. November 2021 rechtskräftig abgelehnt. Den gesetzlichen Vertretern der Klägerin wurde die Abschiebung nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Der Asylantrag des Bruders der Klägerin (Gz. des Bundesamts: ...) ist seit dem 23. November 2021 rechtskräftig abgelehnt. Auch dem Bruder der Klägerin wurde die Abschiebung nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht.
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Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 1. April 2022 (Gz.: ...) wurden die Anträge der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. auf Gewährung subsidiären Schutzes abgelehnt (Nr. 1 und 2 des Bescheids). Nr. 3 des Bescheids bestimmt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) bei der Klägerin nicht vorliegen. Die Klägerin wird in Nr. 4 aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde der Klägerin die Abschiebung nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 5 des Bescheids ordnet das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristet es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
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Zur Begründung führt das Bundesamt u.a. aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung subsidiären Schutzes bei der Klägerin nicht vorlägen. Die Klägerin sei kein Flüchtling i.S.d. § 3 AsylG. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Eine Abschiebung sei gem. § 60 Abs. 5 AufenthG unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergebe. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzung des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Nigeria führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich. Individuelle gefahrenerhöhende Umstände seien nicht ersichtlich. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundverhalten der EMRK komme nicht in Betracht. Für die Klägerin seien auch keine krankheitsbedingten Abschiebungshindernisse geltend gemacht worden. Die Abschiebungsandrohung sei gem. § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergebe sich aus § 38 Abs. 1 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Diese Befristung sei vorliegend angemessen. Die Klägerin verfüge im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen seien. Sowohl die Eltern als auch der Bruder der Klägerin seien als Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland abgelehnt und vollziehbar ausreisepflichtig.
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Auf den weiteren Inhalt des Bescheids des Bundesamts vom 1. April 2022 wird ergänzend verwiesen.
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Die Klägerin hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 13. April 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt,
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1. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. April 2022, Az.:, wird in Ziff. 3 bis 5 aufgehoben.
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2. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass bei der Klägerin nationale Abschiebungshindernisse gem. § 60 Abs. 5 bis 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen.
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Eine Begründung der Klage ist nicht erfolgt.
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Das Bundesamt ist der Klage für die Beklagte mit Schriftsatz vom19. April 2022 entgegengetreten und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
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Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg vom 13. April 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Am 16. Mai 2022 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der die gesetzlichen Vertreter der Klägerin informatorisch angehört wurden, wird auf das hierüber gefertigte Protokoll verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten im Verfahren vorgelegten Verfahrensakten der Klägerin und der beigezogenen Asylakten der gesetzlichen Vertreter der Klägerin Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Klägerin aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16. Mai 2022 verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 16. Mai 2022 form- und fristgerecht geladen worden.
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Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.
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Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der diesen Anspruch versagende Bescheid des Bundesamts vom 1. April 2022 (Gz.: ...) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, § 113 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
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Zur Begründung wird zunächst unter Absehen von den weiteren Darstellungen der Entscheidungsgründe auf die zutreffenden Ausführungen des Bundesamts im angefochtenen Bescheid Bezug genommen, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG). Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
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Das Gericht vermag zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bzw. gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zugunsten der Klägerin nicht zu erkennen.
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Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23 ff. m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - a.a.O. - juris Rn. 22, 36).
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Auch eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) für einen Betroffenen aufgrund allgemein für die Bevölkerung bestehender Gefahren, die über diese allgemein bestehenden Gefahren hinausgeht ist, nur im Ausnahmefall im Sinne eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (BVerwG, U. v. 31.1.2013 - a.a.O., juris Rn. 38). Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U. v. 31.1.2013 a.a.O., juris Rn. 38).
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Für derartige besondere Gefahren aufgrund schlechter humanitärer oder wirtschaftlicher Verhältnisse ist hier nichts ersichtlich. Insbesondere kann im Falle der Klägerin nicht davon ausgegangen werden, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria zu einem Abschiebungsverbot aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse führt, die im Ausnahmefall als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifiziert werden könnten.
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Über dies wird Bezug genommen auf die - den Beteiligten bekannten - Entscheidungen bezüglich der Familienangehörigen der Klägerin, insbesondere der Asylverfahren der gesetzlichen Vertreter (Gz.: ... und ...) bzw. des Bruders der Klägerin (Gz.: ...). Den Familienangehörigen der Klägerin wurde sämtlich die Abschiebung nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Die in den Streitsachen ergangenen Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg sind sämtlich rechtskräftig geworden.
28
Die Klägerin als minderjähriges Kind wird nicht ohne ihre Eltern abgeschoben (vgl. § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Die Eltern der Klägerin werden in der Lage sein, auch bei einer Rückkehr in ihr Heimatland Nigeria für die Klägerin zu sorgen. Jedenfalls kann bei einer Rückkehr nach Nigeria die übliche familiäre Unterstützung erwartet werden. Die Mutter der Klägerin hat auch im Verfahren angegeben, noch zumindest über eine Familienangehörige in Nigeria zu verfügen, mit der sie auch noch in Kontakt steht. Ihre beiden in Nigeria verbliebenen Kinder (Alter 11 und 9 Jahre) werden aktuell ebenfalls von der Mutter der gesetzlichen Vertreterin der Klägerin versorgt. Auch liegt die aktuelle Familiengröße selbst bei Berücksichtigung der beiden in Nigeria verbliebenen Kinder noch unterhalb des nigerianischen Durchschnitts. Die Situation der Klägerin im streitgegenständlichen Verfahren ist hinsichtlich der im Klageverfahren allein begehrten zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nicht anders zu beurteilen, als die der übrigen bereits ausreisepflichtigen Familie.
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Auch ein Abschiebeverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist zugunsten der Klägerin nicht zu erkennen. Gesundheitsbedingte Einschränkungen der Klägerin sind im Verfahren nicht bekannt geworden. Ärztliche Atteste wurden nicht beigebracht.
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Hinweise auf eine Fehlerhaftigkeit der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG bestehen nicht. Insbesondere wurde die Frist von 30 Monaten auf diejenige die in den übrigen Familienangehörigen betreffenden Bescheide des Bundesamts abgestimmt.
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Nach allem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.