Inhalt

OLG Bamberg, Beschluss v. 25.07.2022 – 10 U 32/22
Titel:

Keine Aussetzung von Diesel-Fällen

Normenketten:
BGB § 826
ZPO § 148
AEUV Art. 267
VwVfG § 24 Abs. 1 S. 1, S. 2
Leitsätze:
1. Auch der Generalanwalt Rantos macht die Rechtsfolge, dass das Unionsrecht auch die Interessen eines Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, schütze, von der weiteren Voraussetzung abhängig, dass die EG-Typgenehmigung erwirkt worden ist, ohne dass die Genehmigungsbehörde vom Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung etwas wusste. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wenn das KBA als zuständige Typgenehmigungsbehörde nach eigener Prüfung von der Zulässigkeit des „Thermofensters“ für ein Fahrzeug ausgeht, kann der Beklagten keine andere Einschätzung abverlangt werden. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, unzulässige Abschalteinrichtung, sittenwidrig, Thermofenster, KBA, Generalanwalt, Schlussanträge, Aussetzung
Vorinstanz:
LG Bayreuth vom -- – 24 O 582/20
Fundstelle:
BeckRS 2022, 23361

Tenor

1. Der Antrag der Klagepartei vom 22.07.2022 auf Aussetzung des Verfahrens wird abgelehnt.
2. Auf die laufende Frist zur Gegenerklärung zum Hinweisbeschluss vom 19.07.2022 wird vorsorglich hingewiesen.

Gründe

1
Der Senat sieht keinen Anlass, das vorliegende Verfahren gemäß § 148 ZPO analog bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) in dem dort anhängigen Verfahren C-100/21 auszusetzen.
2
1. Der Gerichtshof selbst weist in ständiger Gerichtspraxis daraufhin, dass den Schlussanträgen des Generalanwalts keine präjudizielle oder sonstige Bedeutung zukommt (vgl. EuGH, PM 95/2022 v. 02.06.2022, Hinweis: „Die Schlussanträge sind für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe der Generalanwältin oder des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richterinnen und Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.“).
3
Der Senat gibt weiterhin zu bedenken, dass es in der Vergangenheit wiederholt Vorabentscheidungsverfahren im Zusammenhang mit Klagen vor deutschen Gerichten gegen die hiesige Beklagte gegeben hat, die ohne eine für das erkennende Gericht gegebenenfalls maßgebliche Entscheidung des Gerichtshofs beendet worden sind (vgl. EuGH, Bes. v. 15.07.2020 - C-808/19, C-809/19; EuGH, Bes. v. 18.05.2020 - C-759/19).
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Es entspricht zudem der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Beurteilung der Frage, unter welchen Voraussetzungen die schuldhafte Verletzung der sich aus einem Sekundärrechtsakt ergebenden Pflichten eine Haftung hierfür begründen kann, grundsätzlich dem jeweiligen nationalen Recht unterliegt, allein vorbehaltlich Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität (vgl. EuGH, Urt. v. 16.02.2017 - C-219/15, Schmitt ./. TÜV Rheinland LGA P. GmbH -, Rn. 59 f.).
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2. Überdies bliebe die Klage auch dann ohne Erfolg, wenn der Senat der Auffassung des Generalanwalts folgen würde.
6
a) Zwar hat der Generalanwalt Rantos im Ergebnis angenommen, dass das Unionsrecht auch die Interessen eines Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, schütze. Er hat diese Rechtsfolge jedoch von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht, insbesondere, dass die EG-Typgenehmigung erwirkt worden ist, ohne dass die Genehmigungsbehörde vom Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung etwas wusste (Rn. 48 der Schlussanträge). Es ist demnach erforderlich, dass der Genehmigungsbehörde die unzulässige Abschalteinrichtung nicht bekannt war, und dass diese Unkenntnis auf einer Täuschung der Genehmigungsbehörde beruht (vgl. OLG München, Beschluss vom 14.06.2022, 36 U 141/22). Für einen solchen Sachverhalt ist nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand im Streitfall - für das als unzulässige Abschalteinrichtung allein in Betracht kommende Thermofenster - nichts ersichtlich. Auf die von der Klagepartei bislang nur vermuteten Abschalteinrichtungen, zu denen es an jeglichem substantiierten Vorbringen fehlt, braucht nicht abgestellt zu werden.
7
b) Zudem wäre der Beklagten nicht einmal fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen.
8
Aus dem Bericht der vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur eingesetzten Untersuchungskommission „Volkswagen“ vom April 2016 ist zu entnehmen, dass in dem hier fraglichen Zeitraum Thermofenster von allen Autoherstellern verwendet und mit dem Erfordernis des Motorschutzes begründet wurden. Nach Einschätzung der Untersuchungskommission handelt es sich bei der Verwendung eines Thermofensters angesichts der Unschärfe der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 715/2007, wonach zum Schutz des Motors vor Beschädigungen und zur Gewährleistung eines sicheren Fahrzeugbetriebs notwendige Abschalteinrichtungen zulässig sind, um keine eindeutigen Gesetzesverstöße, sofern ohne die Verwendung des Thermofensters dem Motor Schaden drohe und „sei dieser auch noch so klein“ (vgl. BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, S. 123).
9
Nach der Mitteilung der Europäischen Kommission vom 19.07.2008 (Mitteilung über die Anwendung und die künftige Entwicklung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über Emissionen von Fahrzeugen für den Leichtverkehr und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen (Euro 5 und Euro 6), 2008/C 182/08) waren trotz der erhöhten NOx-Emissionen bei niedrigen Temperaturen keine Messungen vorgesehen. Die Hersteller waren auch nicht verpflichtet, Informationen über das Emissionsverhalten von Dieselfahrzeugen bei niedrigen Temperaturen zur Verfügung zu stellen (dort Ziffer 7). Das Vorhandensein eines Thermofensters war dem KBA als Typgenehmigungsbehörde folglich bekannt, wenngleich es keine Beschreibung über die exakte Wirkungsweise mangels entsprechender Verpflichtung erhalten hat. Unter diesen Umständen durfte sich die Beklagte grundsätzlich darauf verlassen, dass das KBA im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG eine Ergänzung verlangen würde, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit des Thermofensters in dem betreffenden Fahrzeug zu prüfen. Anderenfalls durfte sich die Beklagte auf die Prüfungskompetenz des KBA als Genehmigungsbehörde verlassen und ohne Verschulden von der Zulässigkeit ihres Vorgehens ausgehen.
10
Wenn also das KBA als zuständige Typgenehmigungsbehörde nach eigener Prüfung selbst von der Zulässigkeit des „Thermofensters“ für das streitgegenständliche Fahrzeug ausgeht, kann der Beklagten keine andere Einschätzung abverlangt werden. Selbst wenn also entgegen der Ansicht der Beklagten und des KBA eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliegen sollte, liegt ein schuldhaftes Verhalten der Beklagten nicht vor.
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Unter diesen Umständen kommt deshalb ebenfalls keine Aussetzung in Betracht.