Titel:
Zur lebensmittelrechtlichen Einordnung von tabakfreien Nikotinbeuteln ("Nicotine Pouches")
Normenketten:
Lebensmittel-Basis-VO Art. 2 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 lit. a
VO (EU) 2017/625 Art. 138 Abs. 2 lit. d, lit. g
Leitsätze:
1. Der Vertrieb tabakfreier Nikotinbeutel ("Nicotine Pouches") verstößt gegen Art. 14 Abs. 1 Lebensmittel-Basis-VO; ein behördliches Einschreiten zum Schutz der Verbraucher insbesondere in Form von Verkehrsverboten und Rücknahmeanordnungen ist von Art. 138 Abs. 2 lit. d und g VO (EU) 2017/625 gedeckt, soweit dies frei von Ermessensfehlern erfolgt und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. (Rn. 50 – 57) (redaktioneller Leitsatz)
2. Tabakfreie Nikotinbeutel stellen Lebensmittel iSv Art. 2 Abs. 1 Lebensmittel-Basis-VO dar, denn bei bestimmungsgemäßem Gebrauch durchlaufen jedenfalls die in ihnen enthaltenen Süß- und Aromastoffe den Magen-Darm-Trakt des Menschen. (Rn. 35 – 38) (redaktioneller Leitsatz)
3. Nicht entscheidend für die lebensmittelrechtliche Einordnung ist, auf welchem Weg das in tabakfreien Nikotinbeuteln enthaltene Nikotin selbst vom menschlichen Körper aufgenommen wird und inwieweit es sich insoweit um eine Aufnahme iSv Art. 2 Abs. 1 Lebensmittel-Basis-VO handelt. (Rn. 39 – 41) (redaktioneller Leitsatz)
4. Tabakfreie Nikotinbeutel sind wegen des enthaltenen Nikotins gesundheitsschädlich iSd Art. 14 Abs. 2 lit. a Lebensmittel-Basis-VO und daher nicht sicher iSv Art. 14 Abs. 1 Lebensmittel-Basis-VO. (Rn. 48 – 49) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nicotine Pouches, tabakfreie Nikotinbeutel, Lebensmittelbegriff, Verbraucherschutz, Verhältnismäßigkeit, Begriff der Aufnahme, VO (EG) Nr. 178/2002
Fundstelle:
BeckRS 2022, 23337
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich gegen eine lebensmittelrechtliche Verkehrsverbots- und Rücknahmeanordnung des Landratsamts E. (Landratsamt) vom 27. November 2020.
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Die Klägerin ist Warengroßhändlerin für verschiedene Produktkategorien wie Snacks, Getränke und Tabakwaren mit einem Logistikzentrum in … Zum vertriebenen Sortiment gehören auch tabakfreie Nikotinbeutel, sog. Nicotine Pouches. Hierbei handelt es sich um kleine verschlossene Beutel, die einzeln hinter die Ober- oder Unterlippe geschoben werden und dort 15 bis 60 Minuten verbleiben, um die enthaltenen Inhaltsstoffe zu lösen und zu konsumieren. Nicotine Pouches enthalten neben Nikotin (in unterschiedlicher Dosis, je nach Stärkegrad) in der Regel Füllstoffe (z. B. Cellulose), Stärke, Aromen und Süßungsmittel, aber keinen Tabak. Nach dem Konsum wird der Beutel wieder aus dem Mund entnommen und entsorgt.
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Das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) beurteilte mit Gutachten vom 5. November 2020 mehrere Nicotine Pouches aufgrund des Nikotingehalts als gesundheitsschädlich und damit nicht verkehrsfähig. Dazu gehörten u.a. die Produkte „ZYN CITRUS MINI NICOTINE POUCHES STRENGTH 4“ (ZYN) und „VELO Berry Frost Nicotine Pouches EASY“ (VELO). Laut den Gutachten handele es sich bei den Nicotine Pouches um Lebensmittel i.S.d. § 2 Abs. 2 LFGB [a.F.] i.V.m. Art. 2 VO (EG) 178/2002 (BasisVO), da sie zur oralen Aufnahme durch den Menschen bestimmt seien. Bei der toxikologischen Risikobewertung in den Gutachten wurde für das Produkt ZYN bei oralem Konsum eines Portionsbeutels eine erhebliche Überschreitung des von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) aus den Ergebnissen einer Humanstudie abgeleiteten ARfD-Werts (Wert der akuten Referenzdosis, sprich diejenige Substanzmenge pro kg Körpergewicht, die über die Nahrung mit einer Mahlzeit oder innerhalb eines Tages ohne erkennbares Risiko für den Verbraucher aufgenommen werden kann; ursprünglich entwickelt für Pflanzenschutzmittelrückstände in Obst, vgl. https://www.lgl.bayern.de/lebensmittel/chemie/pflanzenschutzmittel/et_akute_referenzdosis.htm#:~:text=Die%20akute%20Referenzdosis%20(%20ARfD%20)%20ist,den%20Verbraucher%20aufgenommen%20werden%20kann.) um das 20-, 51- bzw. 101-Fache - je nach Freisetzung von 20%, 50% oder 100% des in einem Beutel enthaltenen Nikotins - festgestellt. Für das Produkt VELO wurde bei oralem Konsum eines Portionsbeutels ebenfalls eine erhebliche Überschreitung des ARfD-Werts, nämlich um das 11-, 29- bzw. 58-Fache - je nach Freisetzung von 20%, 50% oder 100% des in einem Beutel enthaltenen Nikotins - festgestellt.
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Im Rahmen eines aufgrund der LGL-Gutachten anderweitig erfolgten Produktrückrufs stellte das Landratsamt W. am 17. November 2020 fest, dass ein Einzelhandelsbetrieb Nicotine Pouches von der Klägerin bezogen hatte, woraufhin das Landratsamt E. diesbezüglich informiert wurde.
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Anschließend wies das Landratsamt E. die Klägerin darauf hin, dass hinsichtlich der vom LGL begutachteten Nicotine Pouches Rücknahmen durchzuführen seien, und forderte die Klägerin auf, die Vertriebslisten der von ihr vertriebenen betroffenen Nicotine Pouches zu übermitteln. Mit Email vom 23. November 2020 teilte die Klägerin mit, dass sie von den begutachteten Nicotine Pouches die Produkte ZYN und VELO vertreibe. Eine Übermittlung der Vertriebslisten erfolgte zunächst nicht. Telefonisch ließ die Klägerin am gleichen Tag durch ihre Bevollmächtigten erklären, dass eine freiwillige Rücknahme der betroffenen Nicotine Pouches nicht erfolgen werde.
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Mit Schreiben vom 24. November 2020 (per Fax und Email) hörte das Landratsamt die Klägerin unter Fristsetzung bis 26. November 2020 zum beabsichtigten kostenpflichtigen Anordnungsbescheid an. Begründet wurden die beabsichtigten Anordnungen im Wesentlichen mit der vom LGL festgestellten Gesundheitsschädlichkeit und der mangelnden freiwilligen Rücknahme und Übermittlung der Vertriebslisten seitens der Klägerin. Die LGL-Gutachten vom 5. November 2020 bzgl. der Nicotine Pouches der Marken ZYN und VELO waren dem Schreiben beigefügt.
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Am gleichen Tag wurden die bei der Klägerin vorhandenen betroffenen Nicotine Pouches durch das Landratsamt sichergestellt.
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Mit Schreiben vom 26. November 2020 nahmen die Bevollmächtigten der Klägerin fristgerecht per Email umfassend Stellung zum Anhörungsschreiben unter Beifügung einer Liste der Hersteller der von der Klägerin vertriebenen Nicotine Pouches und trugen vor, dass die Voraussetzungen für die beabsichtigte Anordnung nicht erfüllt seien. Die Nicotine Pouches seien keine Lebensmittel, da weder der Nikotinbeutel selbst noch der wesentliche Inhaltsstoff Nikotin aufgenommen werde i.S.d. Lebensmittelrechts. „Aufnahme“ werde zwar in der BasisVO nicht definiert, sei aber gleichbedeutend mit dem Begriff „Verzehr“, da beide Begriffe an mehreren Stellen der BasisVO (unter Bezugnahme auf Art. 8 Abs. 1, Art. 14 Abs. 2 Buchst. b), Abs. 5
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BasisVO) gleichbedeutend verwendet würden, und Nicotine Pouches würden nicht verzehrt. Dies sei außerdem auch aufgrund ihrer Präsentation in der Tabakabteilung offenkundig. Der prägende Inhaltsstoff Nikotin werde vom Durchschnittsverbraucher nicht als Stoff mit ernährungsspezifischer Wirkung angesehen.
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Darüber hinaus sei der beabsichtigte Bescheid unverhältnismäßig. Die Verbote seien schon nicht geeignet, die Gefahren des bewussten Nikotinkonsums einzudämmen, weil kein Konsument auf den Nikotingenuss verzichten würde, solange er auf andere Tabakerzeugnisse ausweichen könne. Da der Nikotingehalt der Pouches dem von legalen Tabakerzeugnissen wie Kautabak oder Zigaretten entspreche, könne ein ausreichender und gleichwertiger Gesundheitsschutz durch Hinweise, wie sie z. B. die VO (EG) 1272/2008 für Zigaretten vorsehe, erreicht werden. Bei den Nicotine Pouches handele es sich um sichere Produkte, die klar für den Nikotingenuss, über dessen allgemeines Risiko die Verbraucher sich bewusst seien, deklariert seien. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass eine größere Gesundheitsgefährdung als beim Konsum anderer Tabakprodukte drohe, sodass schärfere Gesundheitsschutzmaßnahmen unangemessen seien. Es dürfe sich nicht zu Lasten der Klägerin auswirken, dass das eigentlich naheliegende Tabakerzeugnisrecht aus formalen Gründen nicht anwendbar sei.
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Mit Bescheid vom 27. November 2020 untersagte das Landratsamt der Klägerin unter Ziffer I.1 das weitere Inverkehrbringen der näher bezeichneten Produkte ZYN und VELO sowie weiterer Produkte derselben Hersteller mit identischer Zusammensetzung, die sich lediglich in der Geschmacksrichtung unterschieden, und ordnete bzgl. dieser Produkte unter Ziffer I.2 die unverzügliche Warenrücknahme und deren Dokumentation an. Unter Ziffer I.3 ordnete das Landratsamt die Vorlage der Vertriebslisten bzgl. der betroffenen Produkte unter Fristsetzung bis 1. Dezember 2020, 9.00 Uhr, an. Laut Ziffer II sind die Anordnungen unter Ziffern I.1 und I.2 kraft Gesetzes sofort vollziehbar, in Ziffer III wurde die sofortige Vollziehung der Ziffer I.3 angeordnet. Gemäß Ziffer IV sind die näher bezeichneten Gutachten des LGL vom 5. November 2020 Bestandteil dieses Bescheides. Ziffer V enthält Zwangsgeldandrohungen und -festsetzungen und Ziffer VI die Kostenentscheidung und -festsetzung zu Lasten der Klägerin.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass Rechtsgrundlage für die Ziffern I.1 (Untersagung des Inverkehrbringens) und I.2 (Rücknahme) des Bescheids Art. 138 Abs. 1 und 2 VO (EU) 2017/625 (KontrollVO) sei. Lebensmittel seien gemäß Art. 3 Nr. 11 i.V.m. Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) KontrollVO „Waren“ i.S.d. Art. 138 Abs. 2 Satz 1 HS 2 Buchst. d) und g) KontrollVO. Von der Definition von Lebensmitteln in Art. 2 Abs. 1 BasisVO seien zunächst alle Stoffe erfasst, die nach ihrer Zweckbestimmung von Menschen aufgenommen würden (unter Bezugnahme auf Rathke in Zipfel/Rathke, LebensmittelR, EG-Lebensmittel-Basisverordnung, Stand: 175. EL Nov. 2019, Art. 2 Rn. 15). Ein Produkt sei demnach nicht nur dann ein Lebensmittel, wenn es verzehrt werde. Die in der BasisVO verwendeten Begriffe „Aufnahme“ und „Verzehr“ seien nicht gleichbedeutend. Aus der Systematik der BasisVO sei ersichtlich, dass „Aufnahme“ entgegen dem bundesrechtlich in § 3 Nr. 5 LFGB [a.F.] definierten Begriff des „Verzehrens“ nicht nur Stoffe umfasse, die durch den Mund gezielt dem Magen zugeführt würden, sondern weitergehend auch Stoffe, die anderweitig - bspw. über die Mundschleimhaut - in den Körper des Menschen gelangten. Die in den Nicotine Pouches enthaltenen Stoffe seien dazu bestimmt, in den Körper des Menschen aufgenommen zu werden, sodass es sich bei ihnen um Lebensmittel handele.
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Diese Lebensmittel seien vom LGL in den genannten Gutachten insgesamt unter Berücksichtigung von Art. 14 Abs. 3 und 4 BasisVO als gesundheitsschädlich und damit als nicht sicher gemäß Art. 14 Abs. 2 Buchst a) BasisVO beurteilt worden. Laut der toxikologischen Risikobewertung überschreite die bei oraler Aufnahme eines Nikotinbeutels resultierende akute Nikotin-Dosis den von der EFSA abgeleiteten ARfD-Wert jeweils erheblich, womit davon auszugehen sei, dass die untersuchten Nicotine Pouches zu einer Schädigung der Gesundheit des Verbrauchers führen könnten. Nach den dem Landratsamt vorliegenden Informationen sei deshalb davon auszugehen, dass mit den genannten Nicotine Pouches gesundheitsschädliche Lebensmittel von der Klägerin in Verkehr gebracht würden, was einen Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a) BasisVO darstelle.
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Unter Abwägung aller Möglichkeiten sei der Erlass der Anordnungen nach pflichtgemäßem Ermessen notwendig, um die hinreichend wahrscheinlichen Gesundheitsgefahren für Verbraucher so weit wie möglich zu reduzieren und Verstöße gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften zu verhindern bzw. zu beseitigen. Hinweise wie im Tabakrecht auf die Gesundheitsschädlichkeit seien weder zielführend noch ausreichend, da es nicht um eine Eindämmung des Nikotingenusses, sondern darum gehe, die Gesundheit von Verbrauchern zu schützen. Es handele sich hier nicht um Tabakprodukte, daher seien mangels anderer gesetzlicher Regelungen die lebensmittelrechtlichen Vorschriften einzuhalten. Da die Nicotine Pouches aber regelmäßig zusammen mit anderen nikotinhaltigen Produkten in Tabakabteilungen und Tabakfachgeschäften angeboten würden und die Gesundheitsschädlichkeit von Tabakprodukten allgemein bekannt und offensichtlich sei, würde als mildestes Mittel vorliegend das weitere Inverkehrbringen untersagt und die Rücknahme der Produkte angeordnet.
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Am 1. Dezember 2020 legte die Klägerin dem Landratsamt fristgerecht die angeforderten Vertriebslisten vor.
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Mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2020, beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangen am selben Tag, ließ die Klägerin die vorliegende Klage gegen den Bescheid vom 27. November 2020 erheben und im Wege des Eilrechtsschutzes einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (zuletzt nur noch) gegen Ziff. I.1 des streitgegenständlichen Bescheids stellen (Az. AN 14 S 20.02640), der mit Beschluss vom 27. Juli 2022 abgelehnt wurde.
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Zur Begründung wird vorgetragen, dass der Bescheid rechtswidrig sei und die Klägerin ganz erheblich in ihren Rechten verletze. Der Bescheid könne nicht auf die vom Beklagten herangezogenen lebensmittelrechtlichen Rechtsgrundlagen gestützt werden, weil deren Tatbestandsvoraussetzungen nicht vorlägen. Bis es zu einer unionsrechtlichen Regelung für Nicotine Pouches käme, sei als Rechtsgrundlage das Produktsicherheitsgesetz (ProdSG) und nicht das Lebensmittelrecht einschlägig (unter Vorlage von Stellungnahmen betroffener Verbände). Außerdem sei der Bescheid unverhältnismäßig und damit ermessensfehlerhaft. Zur Begründung dafür, dass die Nicotine Pouches keine Lebensmittel i.S.d. Lebensmittelrechts seien, wiederholt und vertieft der Klageschriftsatz im Wesentlichen den bisherigen Vortrag.
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Mit Schriftsatz vom 1. Februar 2021 trugen die Bevollmächtigten der Klägerin im Eilverfahren ergänzend im Wesentlichen vor, dass sowohl der Unionsgesetzgeber, als auch der deutsche Gesetzgeber, die für die Lebensmittelüberwachung zuständigen Überwachungsbehörden die in Deutschland (unter Zitat mehrerer Literaturquellen) und europaweit ganz herrschende Auffassung der Ansicht seien, dass Lebensmittel nur Produkte seien, die verzehrt werden sollen, d.h. dazu bestimmt seien, in den Magen aufgenommen zu werden. Diese Bewertung decke sich auch mit der rechtlichen Beurteilung der zuständigen Generaldirektion der EU-Kommission vom 11. Januar 2013, welche ausdrücklich ausgeführt habe, dass die Erzeugnisse nicht in den Anwendungsbereich der BasisVO als Lebensmittel fielen (unter Bezugnahme auf DG SANCO/E3/WDB/km/2012).
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Mit Schreiben vom 13. April 2021 stellte sich der Beklagte dem unter Wiederholung und Vertiefung des bisherigen Vortrags entgegen.
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Mit Schriftsatz vom 15. Juni 2022 teilten die Klägerbevollmächtigten im Eilverfahren mit, die Klägerin habe hinsichtlich der betroffenen Produkte einen Jahresgewinn in Höhe von 50.000 EUR erwartet.
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Mit Schriftsatz vom 5. Juli 2022 teilten die Klägerbevollmächtigten mit, dass die Rücknahme der streitgegenständlichen Produkte nun abgeschlossen sei, sodass sich das Aufhebungsbegehren hinsichtlich Ziffer I.2 des streitgegenständlichen Bescheids erledigt habe. Da sich aber eine solche Konstellation auch zukünftig ergeben könne, werde die Klage insoweit auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage umgestellt. Außerdem wurde unter Vorlage verschiedener Stellungnahmen von Behörden anderer Mitgliedstaaten vertiefend vorgetragen, dass Nicotine Pouches im europäischen Ausland nicht als Lebensmittel eingestuft würden. Auch die Stellungnahme Nr. 042/2021 des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) vom 21. Dezember 2021 zur gesundheitlichen Bewertung von Nikotinbeuteln lege nahe, dass ein Verbot der Nicotine Pouches aus sicherheitspolitischer Sicht keinen Sinn mache. Außerdem gebe es bei der amtlichen Lebensmittelüberwachung in Deutschland und in der deutschen Rechtsprechung keine einheitliche Auffassung dazu, ob Nicotine Pouches als Lebensmittel einzustufen seien. Entgegen des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts Hamburg vom 19. August 2021 - 5 BS 56/21 - LMuR 2022, 43, seien Nicotine Pouches gerade nicht mit Nikotinkaugummi oder gewöhnlichem Kaugummi vergleichbar. Nikotinkaugummi sei kein Lebensmittel, sondern ein Arzneimittel. Bei gewöhnlichem Kaugummi sei der bestimmungsgemäße Genuss die Vermischung der Inhaltsstoffe mit Speichel und das Verschlucken der Speichelflüssigkeit. Demgegenüber sollten Nicotine Pouches gerade nicht verschluckt werden. Nach der Argumentation des Oberverwaltungsgerichts Hamburg (a.a.O.) seien sonst auch Zahnpasten, Mundwasser und Mineralisierungsgele als Lebensmittel einzuordnen.
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In der mündlichen Verhandlung vom 27. Juli 2022 teilte der Klägerbevollmächtigte mit, dass die Klägerin ein erneutes Inverkehrbringen vergleichbarer Produkte weiterhin beabsichtige.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
1. die Anordnung des Beklagten in Ziff. I.1, V. und VI. des Bescheids vom 27. November 2020 (Az. …*) aufzuheben und
2. festzustellen, dass die Anordnung des Beklagten in Ziff. I.2 und I.3 des Bescheids vom 27. November 2020 (Az. …*) rechtswidrig gewesen ist.
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Der Beklagte beantragt,
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 27. Juli 2022 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO ist hinsichtlich der Ziffern I.1, V und VI des streitgegenständlichen Bescheids die statthafte Klageart, insbesondere da es sich bei dem Verkehrsverbot der Ziffer I.1 um einen Dauerverwaltungsakt handelt, der die Klägerin weiterhin - auch nach Beendigung der Rücknahme der streitgegenständlichen Produkte - beschwert i.S.d. § 42 Abs. 2 VwGO.
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Hinsichtlich der Ziffern I.2 (Rücknahmeanordnung) und I.3 (Anordnung der Vorlage der Vertriebslisten) des streitgegenständlichen Bescheids ist dagegen die Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO die statthafte Klageart, da die Beschwer aus diesen Ziffern durch die vollständige Umsetzung seitens der Klägerin nach Klageerhebung weggefallen ist. Auch das insoweit erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung i.S.d. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO besteht in Form einer Wiederholungsgefahr, denn die Klägerin hat weiterhin Interesse am Vertrieb von (anderen) Nicotine Pouches und der Beklagte hält weiterhin an der Rechtswidrigkeit dieses Vertriebs fest.
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Auch im Übrigen ist die Klage zulässig.
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2. Die Klage ist jedoch unbegründet, da der streitgegenständliche Bescheid insgesamt rechtmäßig und die Klägerin daher auch nicht in ihren Rechten verletzt ist bzw. war i.S.d. § 113 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 4 VwGO.
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a) Die Anordnung des Verkehrsverbots hinsichtlich der streitgegenständlichen Produkte in Ziffer I.1 und der - inzwischen erledigten - Warenrücknahme in Ziffer I.2 des streitgegen-ständlichen Bescheids war rechtmäßig, denn mit den betroffenen Nicotine Pouches hat die Klägerin nicht sichere Lebensmittel in Verkehr gebracht.
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Das sachlich und örtlich aufgrund des Logistikzentrums der Klägerin in … als Betriebsstätte i.S.d. Art. 3 Abs. 1 Nr. 2 BayVwVfG zuständige Landratsamt durfte das Inverkehrbringen der streitgegenständlichen Nicotine Pouches verbieten und deren Rücknahme gemäß Art. 138 Abs. 2 Hs. 2 Buchst. d) und g), Hs. 1, Abs. 1 KontrollVO anordnen, denn durch den Vertrieb dieser Produkte war ein Verstoß i.S.d. Vorschrift gegeben.
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Die KontrollVO gilt gemäß ihrem Art. 1 Abs. 2 Buchst. a) für amtliche Kontrollen im Bereich des Lebensmittelrechts, sodass ein Verstoß gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften den Anwendungsbereich des Art. 138 KontrollVO eröffnet. Vorliegend hat die Klägerin gegen Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchst. a) BasisVO verstoßen, indem sie die streitgegenständlichen Nicotine Pouches in Verkehr gebracht hat. Die BasisVO zählt gemäß Art. 3 Nr. 1 KontrollVO zum Lebensmittelrecht i.S.d. KontrollVO.
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Gemäß Art. 14 Abs. 1 BasisVO dürfen Lebensmittel, die nicht sicher sind, nicht in Verkehr gebracht werden. Als nicht sicher gelten gemäß Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) gesundheitsschädliche Lebensmittel. Art. 2 BasisVO definiert Lebensmittel folgendermaßen:
"1. Im Sinne dieser Verordnung sind „Lebensmittel“ alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden.
2. Zu Lebensmitteln zählen auch […] Kaugummi […].
3. Nicht zu Lebensmitteln gehören:
e) kosmetische Mittel […]
f) Tabak und Tabakerzeugnisse […] …"
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Die streitgegenständlichen Nicotine Pouches sind Lebensmittel i.S.d. Art. 2 Abs. 1 BasisVO, denn sie werden bei bestimmungsgemäßem Gebrauch von Menschen aufgenommen im Sinne der Vorschrift.
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Ob eine Aufnahme i.S.d. Art. 2 Abs. 1 BasisVO ein Gelangen in den Magen-Darm-Trakt erfordert, kann vorliegend dahinstehen, denn jedenfalls die in den betroffenen Nicotine Pouches enthaltenen Süß- und Aromastoffe durchlaufen bei bestimmungsgemäßem Gebrauch den Magen-Darm-Trakt.
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Die in den Nicotine Pouches enthaltenen Süß- und Aromastoffe werden durch den Speichel aus den Nicotine Pouches gelöst und zu den Geschmacksrezeptoren, die sich auf der Zunge befinden, transportiert. Von dort wird der Speichel mitsamt der in ihm gelösten Stoffe in Speiseröhre und Magen abgeschluckt. Auf diesem Weg gelangen die Süß- und Aromastoffe bei bestimmungsgemäßem Gebrauch in den menschlichen Körper (vgl. OVG Hamburg, B. v. 19.08.2021 - 5 Bs 56/21- juris Rn. 38).
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Süß- und Aromastoffe sollen geschmeckt werden und das kann ausschließlich auf den Geschmacksrezeptoren geschehen; diese befinden sich jedoch nicht in der Wangenschleimhaut - vor der der Nicotine Pouch platziert werden soll - sondern vor allem auf der Zunge (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Geschmacksknospe, aufgerufen am 02.08.2022). Die einzige Möglichkeit, wie diese Stoffe zu den Geschmacksrezeptoren gelangen können, ist über eine Lösung und anschließenden Transport im Speichel. Dass wiederum der Speichel in regelmäßigen Abständen auch während des Konsums eines Nicotine Pouchs abgeschluckt wird und dann in den Magen gelangt, ist nicht bestritten worden und auch nicht aufgrund sonstiger Anhaltspunkte in Zweifel zu ziehen. Da außerdem die verschiedenen Geschmacksrichtungen unterschiedlicher Nicotine Pouches einen erheblichen Werbeschwerpunkt darstellen (vgl. https://www.velo.com/at/de/: Werbung mit dem Slogan: „STEIG UM AUF VELO MINI NICOTINE POUCHES IN NEUEN, AUFREGENDEN FLAVOURS“ (aufgerufen am 02.08.2022); vgl. https://www.haypp.com/de/aromen-nicotine-pouches/: Hier sollen Websitebesucher den passenden Nicotine Pouch auf Grundlage der Geschmacksrichtung finden. Werbung u.a. mit folgendem Slogan: „Haben Sie Ihren Geschmack schon gefunden? Ist es Erdbeere oder warum nicht der kühle Geschmack von Minze? Vielleicht mögen Sie Kaffeegeschmack? Dabei können Ihnen die untenstehenden Listen assistieren. Lassen Sie uns Ihnen helfen, andere Marken zu finden, als die, die Sie ausprobiert haben, und vielleicht wird Ihr Favorit ein Produkt sein, von dem Sie nicht einmal wussten, dass es existiert?“ (aufgerufen am 02.08.2022)), und aus Verbrauchersicht das Herunterschlucken jedenfalls der Süß- und Aromastoffe nach vernünftigem Ermessen zu erwarten ist, stellen diese Bestandteile auch nicht nur unwesentliche, sondern wesentliche Inhaltsstoffe der Nicotine Pouches dar (so auch OVG Hamburg, a.a.O., Rn. 38). Es ist insbesondere auch nicht ersichtlich, dass der Speichel mit den gelösten Süß- und Aromastoffen während des Konsums eines Nicotine Pouchs ausgespuckt werden soll.
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Es kann somit dahingestellt bleiben, auf welchem Weg das in den Nicotine Pouches enthaltene Nikotin vom Körper absorbiert wird und ob es sich dabei um eine Aufnahme i.S.d. Art. 2 Abs. 1 BasisVO handelt, da andere Inhaltsstoffe der Nicotine Pouches jedenfalls den Magen-Darm-Trakt durchlaufen, was nach allen Ansichten eine „Aufnahme“ im Sinne der Vorschrift darstellt. Dass das Nikotin als einer der wesentlichen Inhaltsstoffe hauptsächlich über die Mundschleimhaut absorbiert werden mag, zwingt nicht dazu, den A.weg anderer aus Verbrauchersicht ebenfalls wesentlicher Inhaltsstoffe über den Magen-Darm-Trakt unberücksichtigt zu lassen (OVG Hamburg, a.a.O., R. 39).
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Da es für die Einordnung einer Ware als Lebensmittel nicht darauf ankommen kann, ob die gesamte Ware vom Körper aufgenommen wird (wie bei Lutschern, Eis am Stiel, zu schälenden Früchten etc.), sind die Nicotine Pouches vorliegend (insgesamt) als Lebensmittel i.S.d. Art. 2 Abs. 1 BasisVO einzuordnen (so auch OVG Hamburg, a.a.O., 2. Ls.). Dass der Verordnungsgeber in Art. 2 Abs. 2 BasisVO Kaugummi explizit zu den Lebensmitteln zählt, dürfte eine für diesen Produkttyp nur exemplarische, keine im engeren Sinne abschließende Klarstellung sein (OVG Hamburg, a.a.O., 2. Ls u. Rn. 38).
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Es ist auch nicht ersichtlich, warum Nicotine Pouches wie klägerseits vorgetragen insoweit anders einzuordnen sein sollten als Kaugummi. Die Klägerbevollmächtigten haben selbst vorgetragen, dass die Süß- und Aromastoffe von Kaugummi im Speichel gelöst und anschließend geschluckt werden sollen, dies sei die bestimmungsgemäße Nährstoffaufnahme hinsichtlich dieser Stoffe. Genauso verhält es sich jedoch auch mit den Süß- und Aromastoffen aus den Nicotine Pouches. Dass beim Konsum eines Nicotine Pouchs im Vordergrund die Motivation stehen mag, Nikotin zu konsumieren, ändert nichts daran, dass der Zweck der enthaltenen Süß- und Aromastoffe ist, geschmeckt und erwartungsgemäß geschluckt zu werden. Aus Sicht der vernünftigen Verbraucherinnen und Verbraucher ist Nikotin nicht wie klägerseits vorgetragen der einzige prägende Inhaltsstoff, sondern auch das enthaltene Aroma, das - wie bei Kaugummi - ein entscheidendes Kaufkriterium darstellen dürfte.
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Es bestehen auch entscheidende Unterschiede zu den von den Klägerbevollmächtigten angesprochenen, in der Mundhöhle anzuwendenden Kosmetika, die ebenfalls Süß- oder Aromastoffe enthalten können. Denn zum einen verbleiben Mundwasser, Zahnpasten und Mineralisierungsgele bei bestimmungsgemäßem Gebrauch nicht für bis zu 60, sondern höchstens wenige Minuten im Mund, so dass schon allein deshalb fraglich ist, ob ein Verschlucken der Inhaltsstoffe mit dem Speichel noch nach vernünftigem Ermessen zu erwarten ist i.S.d. Art. 2 Abs. 1 BasisVO. Zum anderen sind diese Produkte in der Regel nach der Anwendung - naturgemäß mitsamt des Speichels - auszuspucken, ggf. auch die Mundhöhle anschließend mit klarem Wasser auszuspülen. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch soll also ein Verschlucken des Produkts und somit auch der im Speichel gelösten Rückstände gerade verhindert werden. Nach Überzeugung des Gerichts gelangen daher bei bestimmungsgemäßem Gebrauch dieser Produkte höchstens vernachlässigbare Minimalmengen der Inhaltsstoffe durch Verschlucken in den Magen-Darm-Trakt.
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Auch die Auseinandersetzung mit den von der Klägerin vorgelegten Anlagen führt zu keinem anderen Ergebnis, insbesondere auch nicht die als Anlage K 5 vorgelegte Stellungnahme der EU-Generaldirektion (DG SANCO/E3/WDB/km/2012 v. 11.01.2013, Bl. 177 d. A.). Denn dort wird die Anwendbarkeit der BasisVO auf tabakfreie Beutel („oral smokeless non-tobacco snuff“) mit der Begründung verneint, dass die Beutel weder gekaut noch geschluckt und als Alternative zu Tabakprodukten angeboten würden. Zu der Frage, inwiefern die BasisVO doch anzuwenden sein könnte, wenn wesentliche Inhaltsstoffe der Beutel - wie vorliegend die Süß- und Aromastoffe - geschluckt werden, trifft die Stellungnahme keine Aussage und lassen sich auch keine Rückschlüsse aus ihr ziehen. Dies ist nach Auffassung der Kammer aber der zentrale Gesichtspunkt, weshalb die Nicotine Pouches Lebensmittel sind.
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Auch die als Anlage K 11 vorgelegte Stellungnahme des BfR zur gesundheitlichen Bewertung von Nikotinbeuteln (Bl. 221 ff. d. A.) trifft naturgemäß keine Aussage zu der rechtlichen Frage, ob es sich bei Nicotine Pouches um Lebensmittel i.S.d. BasisVO handelt oder nicht, sondern ermittelt und bewertet die gesundheitlichen Risiken der Nicotine Pouches.
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Den vorgelegten Gesetzesvorhaben und neu geschaffenen Regelungen anderer EU-Mitgliedstaaten kommt für die Auslegung des Lebensmittelbegriffs nach der BasisVO durch das Gericht keine Bedeutung zu, da es vorliegend nicht um die Frage geht, ob für Herstellung und Vertrieb von Nicotine Pouches sinnvollerweise eine Spezialregelung geschaffen werden sollte, sondern darum, welches Recht nach der aktuell geltenden Rechtslage anzuwenden ist. Soweit behördliche Stellungnahmen anderer Mitgliedstaaten vorgelegt wurden, konnten auch diese nicht zu einer anderen Einschätzung, als dass Nicotine Pouches Lebensmittel i.S.d. Art. 2 Abs. 1 BasisVO sind, führen, da entweder die Stellungnahme selbst vage bleibt (Commitee of Toxicity (Großbritannien), Bl. 178 ff. d. A, Rn. 7: „The regulatory position on [nicotine pouches] currently is likely to be under the General Product Safety Regulations […].“) oder keine nachvollziehbare Begründung enthält (Stellungnahme der schwedischen National Food Agency, Übersetzung auf Bl. 162 ff. d. A., welche auf Blatt 3 der Stellungnahme eine Vergleichbarkeit der Nicotine Pouches mit Kaugummi, dessen Aromastoffe im Mund herausgelöst und anschließend verschluckt würden, ohne weitere Begründung verneint.).
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Soweit die vorgelegten Anlagen die Frage zum Gegenstand, haben, ob für eine Aufnahme i.S.d. Art. 2 Abs. 1 BasisVO ein Durchlaufen des Magen-Darm-Trakts erforderlich ist, sind diese im vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich (s.o.).
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Es bleibt daher dabei, dass die streitgegenständlichen Nicotine Pouches als Lebensmittel i.S.d. Art. 2 Abs. 1 BasisVO einzuordnen sind.
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Die streitgegenständlichen Nicotine Pouches sind auch gesundheitsschädlich i.S.d. Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) BasisVO und daher nicht sicher i.S.d. Art. 14 Abs. 1 BasisVO.
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Die Gesundheitsschädlichkeit der Nicotine Pouches wurde in den LGL-Gutachten festgestellt und klägerseits auch nicht in Frage gestellt. Darüberhinaus sieht auch das BfR laut der klägerseits vorgelegten Stellungnahme „gesundheitliche Risiken“; Nikotin sei eine gefährliche Verbindung und akut toxisch (Stellungnahme des BfR vom 21.12.2021, Anlage K 11, Bl. 221 f. d. A.); die gemessenen, zum Teil sehr hohen Nikotinmengen in den Nicotine Pouches seien kritisch (Stellungnahme des BfR vom 21.12.2021, Bl. 234 d. A.). Das Gericht sieht deshalb keine Anhaltspunkte dafür, an der festgestellten Gesundheitsschädlichkeit der betroffenen Nicotine Pouches zweifeln.
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Die Klägerin hat daher durch den Vertrieb der streitgegenständlichen Nicotine Pouches gegen Art. 14 Abs. 1 BasisVO verstoßen, sodass die Voraussetzungen für ein Einschreiten des Landratsamts auf der Grundlage des Art. 138 KontrollVO vorlagen. Das angeordnete Verkehrsverbot (Ziff. I.1) und die Rücknahmeanordnung (Ziff. I.2) waren auch von dieser Rechtsgrundlage gedeckt.
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Ein Verbot des Inverkehrbringens und die Rücknahme von Waren werden in Art. 138 Abs. 2 Buchst. d) und g) KontrollVO explizit als mögliche Maßnahmen genannt. Diese Anordnungen erfolgten vorliegend auch ermessensfehlerfrei unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Zweck der Maßnahmen war, die Verbraucherinnen und Verbraucher vor den betroffenen Nicotine Pouches als nicht sichere Lebensmittel zu schützen. Hierfür waren die Maßnahmen entgegen des klägerischen Vortrags auch geeignet, da es nicht um die Verhinderung eines anderweitigen - beispielsweise auf Grundlage des Tabakerzeugnisrechts erlaubten - Nikotinverkaufs an Verbraucherinnen und Verbraucher ging, sondern um die Beendigung des vorliegend festgestellten Verstoßes seitens der Klägerin in Form des Inverkehrbringens nicht sicherer Lebensmittel. Daher wäre auch die klägerseits vorgebrachte Möglichkeit von Hinweisen auf die Gesundheitsschädlichkeit auf der Verpackung der Nicotine Pouches kein geeignetes Mittel, das Inverkehrbringen der Nicotine Pouches zu beenden.
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Die Anordnung einer Rücknahme und eines Verkehrsverbots waren auch erforderlich, denn mildere, genauso effektive Mittel, um den Verstoß zu beenden und erneute Verstöße dieser Art zu verhindern, sind nicht ersichtlich. Insbesondere wurde die Rücknahme als milderes Mittel gegenüber einem öffentlichen Rückruf angeordnet.
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Die angeordneten Maßnahmen waren auch insgesamt angemessen, denn die betroffenen Rechtsgüter der Klägerin wiegen nicht so schwer wie das Schutzgut der Gesundheit der Verbraucherinnen und Verbraucher.
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Nikotin ist ein Gift, dessen Gesundheitssschädlichkeit außer Frage steht. Die Gefahren, die ein mit Nikotin versetztes Lebensmittel mit sich bringen kann, werden in den LGL-Gutachten und der Stellungnahme des BfR eindrücklich dargelegt. Sollen solche gesundheitsschädlichen Konsumgüter dennoch vertrieben werden dürfen, sind entsprechende Spezialregelungen erforderlich, wie es beispielsweise im Tabakerzeugnisrecht der Fall ist. Bestehen solche Spezialregelungen jedoch (noch) nicht, kommt ein gleichsam unkontrollierter Vertrieb der gesundheitsschädlichen Produkte aufgrund der erheblichen Gesundheitsgefahren nicht in Betracht.
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Dass die Produkt- und Werbestandards, die der Bundesverband der Tabakwirtschaft und neuartiger Erzeugnisse (BVTE) selbst für seine Mitglieder erarbeitet hat (vgl. Anlage K 2, Bl. 69 d. A.), für einen ausreichenden Schutz der Gesundheit der Verbraucherinnen und Verbraucher keinesfalls ausreichen, folgt schon aus der klägerseits vorgelegten Stellungnahme des BfR. Dessen Analysen zeigten nämlich, dass in Deutschland Nicotine Pouches mit bis zu 47,5 mg Nikotin pro Beutel verfügbar sind, obwohl laut dem BVTE 20 mg Nikotin pro Beutel in Deutschland der selbst festgelegte Höchstgehalt sei (Stellungnahme des BfR vom 21.12.2021, Anlage K 11, Bl. 231 d. A.). Hinzu kommt, dass auch die Angaben zum Nikotingehalt auf den Verpackungen der Nicotine Pouches (noch) nicht gesetzlich normiert sind, was ebenfalls eine Gefahrenquelle für eine versehentliche Überdosierung durch die Verbraucherinnen und Verbraucher darstellt (vgl. Stellungnahme des BfR vom 21.12.2021, Anlage K 11, Bl. 223 d. A.).
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Es ist daher keineswegs wie von Klägerseite vorgetragen bloß formalen Gründen geschuldet, dass für die betroffenen Nicotine Pouches ein Verkehrsverbot angeordnet wurde, sondern es ist die notwendige Konsequenz, wenn gesundheitsschädliche Lebensmittel - ohne entsprechende spezialgesetzliche Zulassung - vertrieben werden. Wer ein neuartiges Produkt in Verkehr bringt, trägt das unternehmerische Risiko der Verkehrsfähigkeit (vgl. VG München, B. v. 20.05.2021 - M 26b S 20.6309 - BeckRS 2021, 12923 Rn. 82).
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Angesichts des sehr schwer wiegenden Schutzguts der Gesundheit der Verbraucherinnen und Verbraucher aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, das durch die erheblichen Gesundheitsgefahren, die von nikotinhaltigen, nicht speziell regulierten Lebensmitteln ausgehen, betroffen ist, müssen die im Rahmen ihrer Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1, Art. 19 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 18 Abs. 1 AEUV) geschützten Interessen der Klägerin an einer freien Zusammenstellung ihrer Produktpalette und an der Realisierung des erwarteten Jahresgewinns bezüglich der betroffenen Produkte (laut Angaben der Klägerin in Höhe von 50.000 EUR) zurückstehen.
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b) Auch die - durch Umsetzung seitens der Klägerin zwischenzeitlich erledigte - Anordnung der Vorlage der Vertriebslisten in Ziffer I.3 des streitgegenständlichen Bescheids war rechtmäßig.
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Die Pflicht der Klägerin zur Übermittlung der angeforderten Informationen ergab sich unmittelbar aus Art. 18 Abs. 3 Satz 2 BasisVO. Anhaltspunkte für eine Rechtswidrigkeit dieser Anordnung sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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c) Auch die Ziffern V (Zwangsgeldandrohung und -festsetzung) und VI (Kostenentscheidung und -festsetzung) des streitgegenständlichen Bescheids sind rechtmäßig, entgegenstehende Anhaltspunkte sind nicht ersichtlich.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.