Inhalt

VG München, Urteil v. 25.07.2022 – M 8 K 20.6349
Titel:

Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung für ein Boardinghaus mit Gaststätte, Unzumutbare Geräuschimmissionen, Fehlende Immissionsschutzauflagen bei Gaststätte im Innenbereich mit Öffnungszeiten bis 1 Uhr, Fehlendes immissionsschutzrechtliches Gutachten, Unbestimmtheit der Baugenehmigung

Normenketten:
BauGB § 34 Abs. 1
BayVwVfG Art. 37
Schlagworte:
Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung für ein Boardinghaus mit Gaststätte, Unzumutbare Geräuschimmissionen, Fehlende Immissionsschutzauflagen bei Gaststätte im Innenbereich mit Öffnungszeiten bis 1 Uhr, Fehlendes immissionsschutzrechtliches Gutachten, Unbestimmtheit der Baugenehmigung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22943

Tenor

I. Die Baugenehmigung vom 5. November 2020 (PlanNr. ...) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.  

Tatbestand

1
Die Kläger wenden sich als Nachbarn gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Boardinghauses mit Gaststätte auf dem Grundstück … straße ...8, FlNr. …, Gem. ... (im Folgenden: Baugrundstück).
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Die Kläger sind Eigentümer des südwestlich an das Baugrundstück anschließenden Grundstücks H.str. ...8a, FlNr. …, Gem. ... (im Folgenden: Nachbargrundstück), das mit einem fünfgeschossigen Gebäude mit ausgebautem Dachgeschoss bebaut ist. Dieses wird - nach dem Ergebnis des gerichtlichen Augenscheins - im Erdgeschoss und zweiten Obergeschoss als Büro/Schneiderei und im Übrigen wohngenutzt.
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Zur baulichen Situation auf den Grundstücken sowie zur Umgebungsbebauung wird auf folgenden - aufgrund des Einscannens eventuell nicht mehr maßstabsgetreuen - Lageplan im Maßstab 1:1.000 verwiesen, der eine Darstellung des Vorhabens enthält:
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Mit Bauantrag vom 6. September 2019 (PlanNr. ...) beantragte der Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den Abbruch eines bestehenden Wohn- und Geschäftshauses und den Neubau eines Boardinghauses mit Gaststätte im Erdgeschoss. Die Planung sieht die Errichtung eines sechsgeschossigen Gebäudes mit ausgebautem Dachgeschoss unter Abriss des dreigeschossigen Bestandsgebäudes vor. Im Erdgeschoss soll eine 54,50 m² große Gaststätte mit 37 Gastplätzen entstehen. Im ersten Obergeschoss bis zum Dachgeschoss ist die Nutzung als Boardinghaus beabsichtigt. In der vorgelegten Betriebsbeschreibung wird die Gaststätte als „Bistro / Bar“ bezeichnet und ausgeführt, dass elf „Serviced Apartements“ zur gewerblichen Vermietung“ errichtet werden. Die Gaststätte soll werktags von 7.00 bis 1.00 Uhr, sonntags von 7.00 - 23.00 Uhr geöffnet sein.
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Mit Bescheid vom 5. November 2020 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung nach PlanNr. ... … mit Handeintragungen vom 3. Februar 2020 und 12. Februar 2020. Die Beklagte erteilte zudem eine Abweichung gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO wegen Nichteinhaltung erforderlicher Abstandsflächen insbesondere zum klägerischen Grundstück. Eine Abweichung könne erteilt werden, da die Höhenentwicklung planungsrechtlich zulässig sei und im maßgeblichen Geviert eine Atypik der Gebäudeformation in Bezug auf die Abstandsflächen vorgegeben sei. Nachbarschützende Belange würden nicht unzumutbar beeinträchtigt.
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Die Kläger erhoben durch ihren Bevollmächtigten am 4. Dezember 2020 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München. Sie beantragen,
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Der Bescheid der ... vom 05.11.2020, Az.: …, zum Abbruch eines bestehenden Wohn- und Geschäftshauses sowie zum Neubau eines Boardinghauses mit Gaststätte im EG auf dem Grundstück … straße ...8, Fl.Nr. …, …, wird aufgehoben.
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Zur Begründung führte der Bevollmächtigte der Kläger aus, die streitgegenständliche Baugenehmigung verletze drittschützende Rechte der Kläger. Insbesondere sei die erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften rechtswidrig, da die gebotene Atypik nicht vorliege. Zudem sei die erteilte Abweichung ermessensfehlerhaft, da die nachbarlichen Belange nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Die Belichtung des klägerischen Bürogebäudes im rückwärtigen Grundstücksbereich werde eingeschränkt. Es sei offen, ob hier ein 45°-Winkel zur Fensterunterkante des klägerischen Rückgebäudes eingehalten werden könne. Die Abstandsfläche, die das geplante Terrassengeländer nach Westen hin zum Nachbargrundstück werfe, sei nicht berücksichtigt worden. Zudem sei die Baugenehmigung aufgrund der von der Gaststätte ausgehenden Immissionen rücksichtslos. Diese enthalte keine Nebenbestimmungen zum Schutz vor den Nachbar beeinträchtigenden Immissionen. Die Betriebsbeschreibung sei ohne Genehmigungsstempel nicht Bestandteil der Baugenehmigung geworden. Es sei ein immissionsschutzrechtliches Gutachten erforderlich gewesen. Der Nachbar werde durch von der Gaststätte ausgehende Gerüche beeinträchtigt. Die geplanten Balkone würden keinen ausreichenden Abstand wahren, sodass eine unmittelbare Blickbeziehung entstehen würde.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie führte aus, die Betriebsbeschreibung sei Teil der Bauvorlagen und als solche maßgebend für die Auslegung der Baugenehmigung. Immissionsschutzrechtliche Auflagen hinsichtlich des von der Gaststätte ausgehenden Lärms seien bei Gaststättennutzungen, die lediglich im Innenbereich genehmigt seien, nicht erforderlich. Es sei auch nicht ersichtlich, inwiefern die Kläger durch weitere Immissionen unzumutbar belastet seien. Auflagen zum Schutz der Nachbarn gegen Lärm könnten zudem noch in der gaststättenrechtlichen Erlaubnis aufgenommen werden. Die Einblicke seien hinzunehmen. Die erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften sei rechtmäßig, insbesondere sei eine atypische Situation im hier vorliegend dicht bebauten, innerstädtischen Bereich gegeben. Die Abweichung sei auch im Übrigen ermessensfehlerfrei. Das klägerische Grundstück sei nur auf 22,69 m² betroffen, es würden keine unzumutbaren Beeinträchtigungen entstehen, vielmehr trage das eigene Vordergebäude zur Verschattung des Rückgebäudes bei.
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Der Beigeladene stellte keinen Antrag und äußerte sich auch inhaltlich nicht.
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Die Kammer hat am 25. Juli 2022 Beweis erhoben durch Inaugenscheinnahme der baulichen und örtlichen Verhältnisse auf dem streitgegenständlichen Grundstück und der Umgebung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung, die vorgelegten Behördenakten sowie die Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet. Die Kläger werden durch die streitgegenständliche Baugenehmigung in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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1. Die Anfechtungsklage eines Dritten gegen eine Baugenehmigung hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung einer Vorschrift beruht, die dem Schutz des Nachbars zu dienen bestimmt ist und die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen war (BayVGH, B.v. 24.3.2009 - 14 CS 08.3017 - juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, denen kein drittschützender Charakter zukommt. Im gerichtlichen Verfahren findet keine umfassende Rechtskontrolle statt; die gerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob die angefochtene Baugenehmigung den Nachbarn schützende Vorschriften verletzt.
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2. Die streitgegenständliche Baugenehmigung verstößt gegen drittschützende Rechte der Klägerin, die im Baugenehmigungsverfahren nach Art. 60 Bayerische Bauordnung (BayBO) zu prüfen waren.
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2.1. Das Bauvorhaben beurteilt sich bauplanungsrechtlich (vgl. Art. 60 Satz 1 Nr. 1 BayBO i.V.m. § 30 ff. Baugesetzbuch (BauGB)) nach § 30 Abs. 3 i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, da das streitgegenständliche Bauvorhaben im Geltungsbereich eines übergeleiteten Bauliniengefüges, das straßenseitig eine Baulinie festsetzt, und im Übrigen im unbeplanten Innenbereich liegt, der hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nach dem im Rahmen des gerichtlichen Augenscheins gewonnenen Eindruck einer Gemengelage mit überwiegendem Wohnanteil entspricht, sodass § 34 Abs. 1 BauGB einschlägig ist.
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Das Einfügungsgebot nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB hat als solches keine zumindest auch Rechte der Nachbarn schützende Funktion (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.1969 - IV C 234.65 - juris Rn. 15; B.v. 13.2.1981 - 4 B 14.81 - juris Rn. 2; U.v. 23.5.1986 - 4 C 34.85 - juris Rn. 12). Ein Nachbar, der sich auf der Grundlage des § 34 Abs. 1 BauGB gegen ein Vorhaben im Innenbereich wendet, kann mit seiner Klage nur durchdringen, wenn die angefochtene Baugenehmigung gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (stRspr, BVerwG, U.v. 23.5.1986 - 4 C 34.85 - juris Rn. 12; B.v. 13.11.1997 - 4 B 195.97 - juris Rn. 6; U.v. 5.12. 2013 - 4 C 5.12 - juris Rn. 21). Eine Rechtsverletzung der Kläger kann sich daher vorliegend nicht daraus ergeben, dass sich das Bauvorhaben objektiv nach seiner Art nicht im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt.
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2.2. Die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 5. November 2020 verstößt jedoch gegen das auch dem Schutz der Kläger dienende Rücksichtnahmegebot (vgl. BayVGH, U.v. 18.7.2002 - 1 B 98.2945 - juris Rn. 49) bzw. ist im Hinblick auf das Rücksichtnahmegebot und damit in nachbarrechtlich relevanter Weise unbestimmt (vgl. BayVGH, B.v. 2.10.2012 - 2 ZB 12.1898 - juris Rn. 8), weil die Baugenehmigung keine Regelung(en) zum Schutz des Nachbarn vor unzumutbaren Lärm, insbesondere die Festsetzung der einzuhaltenden Immissionsrichtwerte, enthält und auch nicht auf andere Weise - beispielsweise durch die Prognose der Zumutbarkeit der zu erwartenden Immissionen in einem immissionsschutzrechtlichen Gutachten - sichergestellt ist, dass von dem Vorhaben keine unzumutbaren Lärmimmissionen ausgehen.
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2.2.1. Baugenehmigungen müssen nach Art. 37 Abs. 1 Bayerisches Verwaltungs- und Verfahrensgesetz (BayVwVfG) inhaltlich hinreichend bestimmt sein, sodass sie vollständig, klar und unzweideutig sind. Dies bedeutet, dass die im Genehmigungsbescheid getroffene Regelung und damit auch der Inhalt, die Reichweite und der Umfang der genehmigten Nutzung für die Beteiligten des Verfahrens - gegebenenfalls nach Auslegung (vgl. BVerwG, U.v. 29.10.1998 - 4 C 9/97 - juris Rn. 19) insbesondere unter Berücksichtigung des Bauantrags, der ihm beigefügten Bauvorlagen im Sinne von Art. 64 Abs. 2 Satz 1 BayBO sowie weiterer von der Bauaufsichtsbehörde zur Beurteilung des Vorhabens verlangter oder vom Bauherrn vorgelegter Unterlagen (vgl. VGH Mannheim, B.v. 30.1.2019 - 5 S 1913/18 - juris Rn. 35) - eindeutig zu erkennen sein müssen (vgl. BayVGH, B.v. 16.4.2015 - 9 ZB 12.205 - juris Rn. 7; B.v. 20.3.2018 - 15 CS 17.2523 - juris Rn. 30). Der Bauherr muss die Bandbreite der für ihn legalen Nutzungen erkennen und Drittbetroffene müssen zweifelsfrei feststellen können, ob und in welchem Umfang sie betroffen sind (vgl. BayVGH, B.v. 22.4.2009 - 1 CS 09.221 - juris Rn. 20; B.v. 29.4.2015 - 2 ZB 14.1164 - juris Rn. 6; VGH Kassel, B.v. 30.1.2012 - 4 B 2379/11 - juris Rn. 5).
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Der Nachbar hat zwar keinen Anspruch darauf, dass der Bauherr „einwandfreie“ Bauvorlagen einreicht. Eine Verletzung seiner drittschützenden Rechte kommt aber in Betracht, wenn er infolge der Unbestimmtheit der Baugenehmigung bzw. der Unvollständigkeit, Unrichtigkeit bzw. Uneindeutigkeit der Bauvorlagen den Umfang der Baugenehmigung nicht eindeutig feststellen kann und ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften - insbesondere eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots - deswegen nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 20.3.2018 - 15 CS 17.2523 - juris Rn. 30; B.v. 25.7.2019 - 1 CS 19.821 - juris Rn. 14; U.v. 20.5.1996 - 2 B 94.1513 - BayVBl. 1997, 405 f.; B.v. 31.10.2016 - 15 B 16.1001 - juris Rn. 4). Die im Genehmigungsbescheid getroffene Regelung - d.h. insbesondere der Inhalt, die Reichweite und der Umfang der genehmigten Nutzung - müssen ggf. nach Auslegung eindeutig erkennbar sein (vgl. BVerwG, U.v. 29.10.1998 - 4 C 9/97 - juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 16.4.2015 - 9 ZB 12.205 - juris Rn. 7). Der Nachbar muss insofern auch erkennen können, mit welchen Immissionen er zu rechnen hat und ob er gegebenenfalls schädlichen Umwelteinwirkungen ausgesetzt ist (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2015 - 9 CS 15.1633 - juris Rn. 22). Wie weit das nachbarrechtliche Bestimmtheitserfordernis im Einzelnen reicht, beurteilt sich dabei nach dem jeweils anzuwendenden materiellen Recht (vgl. BVerwG, B.v. 15.11.2007 - 4 B 52.07 - juris Rn. 6; OVG Münster, U.v. 6.6.2014 - 2 A 2757/12 - juris Rn. 73; OVG Schleswig, B.v. 11.8.2014 - 1 MB 18.14 - juris Rn. 9; OVG Lüneburg, B.v. 26.1.2012 - 1 ME 226/11 - juris Rn. 22).
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Die Bauaufsichtsbehörde hat bei der Prüfung, ob und inwieweit von einer geplanten Nutzung Immissionen ausgehen können, der Reichweite der Immissionen nachzugehen. Sie muss insbesondere prüfen, in welchem Umkreis die Immissionen noch zumutbar sind. Sie ist daher verpflichtet, zugunsten eines Nachbarn mittels einer konkreten Betriebsbeschreibung, durch Auflagen in der Baugenehmigung und/oder durch Ähnliches sicherzustellen, dass der Nachbar vor unzumutbaren Immissionen ausreichend geschützt wird (vgl. BayVGH, U.v. 16.11.2006 - 26 B 03.2486 - juris Rn. 28 und 30; B.v. 2.10.2012 - 2 ZB 12.1898 - juris Rn. 5); hierauf hat der Nachbar einen Anspruch (vgl. BayVGH, U.v. 16.11.2006 - 26 B 03.2486 - juris Rn. 28). Wenn es um die Lösung einer Immissionskonfliktlage geht, reicht es sowohl im Hinblick auf die Anforderungen der Bestimmtheit der Baugenehmigung als auch des Rücksichtnahmegebots in der Regel aus, wenn dem Emittenten aufgegeben wird, beim Betrieb seiner Anlage näher bestimmte Richtwerte einzuhalten (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 5.11.1968 - I C 29.67 - juris Rn. 11; U.v. 24.6.1971 - I C 39.67 - juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 15.11.2011 - 14 AS 11.2305 - juris Rn. 31). Wenn die Anlage bei regelmäßigem Betrieb die maßgebliche Zumutbarkeitsgrenze überschreitet oder hierfür hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, muss die genehmigte Nutzung weiter in der Baugenehmigung durch (weitere) konkrete Regelungen eingeschränkt werden (vgl. BayVGH, U.v. 18.7.2002 - 1 B 98.2945 - juris Leitsatz). An die prognostische Einschätzung der Einhaltung der Zumutbarkeitskriterien, die vom Bauherrn im Rahmen des Genehmigungsverfahrens zu erbringen ist, sind hohe Anforderungen zu stellen. Die Prognose hinsichtlich der Immissionsverträglichkeit des Vorhabens muss „auf der sicheren Seite“ liegen. Andernfalls würden die regelmäßig nicht zu vermeidenden Unsicherheiten bei der nachträglichen Kontrolle zulasten der zu schützenden Betroffenen gehen (BayVGH, B.v. 2.10.2012 - 2 ZB 12.1898 - juris Rn. 6).
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2.2.2. Die Beklagte hat weder in der streitgegenständlichen Baugenehmigung Immissionsrichtwerte festgesetzt, noch die durch das Vorhaben entstehende Immissionsbelastung für den Nachbarn untersucht. Dies wäre nach Ansicht der Kammer und der eben dargestellten Rechtsprechung zum Schutz des Nachbarn vor unzumutbaren Immissionen nur dann nicht zu beanstanden, wenn man davon ausgehen würde, dass durch das geplante Bauvorhaben keine Immissionskonfliktlage entstehen würde. Denn soweit eine solche eintreten würde, muss dem Bauherr - als Mindestvoraussetzung - aufgegeben werden, beim Betrieb seiner Anlage näher bestimmte Richtwerte einzuhalten.
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Vorliegend besteht jedoch eine Immissionskonfliktlage. Genehmigt ist die Nutzung als „Bar/Bistro“. Die Betriebsbeschreibung, die unabhängig von der Tatsache, dass sie nicht mit Genehmigungsstempel versehen ist, als Bauvorlage gem. § 3 Nr. 3 Bauvorlagenverordnung (BauVorlV) Bestandteil der Baugenehmigung geworden ist, sieht Öffnungszeiten bis 1 Uhr nachts, d.h. insbesondere in der besonders schutzwürdigen Nachtzeit nach 22 Uhr (Ziffer 6.4 TA Lärm (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm) als normkonkretisierende Richtwerte für die Beurteilung der Zumutbarkeit von Lärm) vor. Die Betriebsbeschreibung beinhaltet keine Aussage dazu, ob in den Räumlichkeiten Musik oder ähnliche Darbietungen möglich und vorgesehen sind, was hier aufgrund der Nutzung als „Bar“ und den Öffnungszeiten der Anlage angezeigt gewesen wäre. Erschwerend kommt hinzu, dass die Gaststätte der Nutzung des Boardinghauses zugeordnet ist, sodass davon auszugehen ist, dass diese von einem ständig wechselnden Personenkreis genutzt wird. Demgegenüber befinden sich im klägerischen Anwesen unmittelbar angrenzend im ersten, dritten und vierten Geschoss sowie im Dachgeschoss Wohnnutzungen. Das klägerische Anwesen hat, insbesondere im ersten Obergeschoss, Fenster in unmittelbarer Nähe zur genehmigten Gaststätte, die ebenso wie der Eingang der Gaststätte zur … straße ausgerichtet sind. Zu erwarten ist, dass Lärm von ankommenden und die Gaststätte verlassenden Gästen ausgehen wird. Dieser Lärm ist dem Betrieb, solange er einen Bezug zu diesem hat, zuzurechnen (vgl. BVerwG, B.v. 7.5.1996 - 1 C 10.95 - juris Leitsatz 2). Auch Gäste, die sich zum Rauchen oder Frischluftschnappen vor einer Gaststätte oder vergleichbaren Einrichtung aufhalten, werden Lärm verursachen, der dem Betrieb als unmittelbare Folge der Betriebsführung zuzuweisen ist (vgl. BayVGH, B.v. 2.10.2012 - 2 ZB 12.1898 - juris Rn. 4; VG München, U.v. 12.10.2020 - M 8 K 18.3809 - juris Rn. 39).
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Unklar bleibt in der streitgegenständlichen Baugenehmigung auch, ob die Beklagte von dem Vorliegen eines Baugebiets der BauNVO oder einer Gemengelage ausgeht. Dies ist von Belang, da für die Frage, ob Immissionen unzumutbar sind und das Rücksichtnahmegebot verletzen, darauf abgestellt wird, ob erhebliche Belästigungen im Sinne des § 3 Abs. 1 Bundesimmissionsschutzgesetzes (BImSchG) und speziell für Lärmimmissionen auf den Maßstab der TA Lärm, die für die unterschiedlichen Baugebiete die Zumutbarkeitsschwelle festsetzt, zurückgegriffen wird (ständige Rspr., vgl. z.B. BVerwG, U. v. 27.8.1998 - 4 C 5.98 - juris Rn. 30; BayVGH, B.v. 27.12.2017 - 15 CS 17.2061 juris Rn. 26). Für die Nachbarn ist so nicht ohne weiteres erkennbar, welche Immissionsbelastungen zumutbar ist.
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Die Annahme der Beklagten, bei Gaststätten im Innenbereich ergebe sich grundsätzlich keine Lärmproblematik, ist in dieser Verallgemeinerung unrichtig und lässt die Auseinandersetzung mit dem Einzelfall vermissen. Insbesondere bei Gaststätten, die in unmittelbarer Nähe zu Wohnnutzungen angesiedelt sind und die zur besonders schutzwürdigen Nachtzeit betrieben werden, dürften Maßnahmen zum Schutz des Nachbarn vor unzumutbarem Lärm angezeigt sein.
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Die zu erwartende Belastung der Umgebung durch Lärm wurde auch nicht durch ein Lärmgutachten erforscht oder von der Behörde näher untersucht, sodass auch nicht auf andere Weise für den Nachbarn ersichtlich ist, dass seine Rechte durch die Baugenehmigung nicht verletzt werden.
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Die Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, dass weitere Anordnungen zum Schutz des Nachbarn vor Lärm im gaststättenrechtlichen Erlaubnisverfahren (§ 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Nr. 3, § 5 Abs. 1 Nr. 3 Gaststättengesetz (GastG)) erfolgen könnten. Wird eine Baugenehmigung erteilt, beinhaltet dies auch die Feststellung, dass das Bauvorhaben mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften vereinbar ist, soweit sie im Baugenehmigungsverfahren geprüft worden sind. Diese Feststellung entfaltet im gaststättenrechtlichen Erlaubnisverfahren Bindungswirkung, soweit es um Rechtsfragen geht, deren Beurteilung in die originäre Regelungskompetenz der Bauaufsichtsbehörde fällt (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1989 - 1 C 18/87 - NVwZ 1990, 559 (560) m.w.N.). Wenn die von einer Gaststätte zu erwartenden Belästigungen als zumutbar anzusehen sind, kann es sich nicht um schädliche Umwelteinwirkungen oder sonstige erhebliche Nachteile, Gefahren oder Belästigungen i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 3 GastG handeln. Das schließt es nicht aus, dass Einzelheiten der Nutzungsausübung im Einzelfall dem gaststättenrechtlichen Verfahren vorbehalten sein können. Ob eine Gaststätte jedoch mit dem planungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme vereinbar ist, ist eine Frage, die die Baugenehmigungsbehörde bei Erteilung der Baugenehmigung zu behandeln und zu beantworten hat (vgl. BVerwG, U.v. 14.6.2011 - 4 B 3.11 - juris Rn. 6; U. v. 4.10.1988 - 1 C 72/86 - NVwZ 1989, 258).
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2.3. Zur Vermeidung weiterer Unklarheiten wird darauf hingewiesen, dass das streitgegenständliche Bauvorhaben im Übrigen - insbesondere im Hinblick auf das von Klägerseite gerügte drittschützende Abstandsflächenrecht - keine Rechte der Kläger verletzt. Die erteilte Abweichung von Abstandsflächenvorschriften gem. Art. 63 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 BayBO ist nicht zu beanstanden. Nach Auffassung der Kammer liegt eine atypische Situation vor. Es handelt sich um einen dicht bebauten, innerstädtischen Bereich, die Klagepartei kann sich nicht darauf berufen, dass die Bebauung nordöstlich „nur dreigeschossig“ sei. Zudem verläuft das klägerische Grundstück nach Nordosten hin schräg, was bei Veränderung der Bestandsbebauung des Beigeladenen regelmäßig dazu führen würde, dass die entstehenden Abstandsflächen nicht auf dem eigenen Grundstück nachgewiesen werden können. Des Weiteren sind keine Ermessensfehler der Beklagten bei Erteilung der Abweichung ersichtlich. Durch das Terrassengeländer entsteht - nach Westen zum klägerischen Grundstück hin - gem. Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 BayBO keine Abstandsfläche (vgl. VG München, U.v. 28.3.2022 - M 8 K 20.3855 - juris Rn. 48).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Beigeladene hat keinen Sachantrag gestellt und sich insofern keinem Kostenrisiko unterworfen (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO). Es entspricht daher der Billigkeit i.S.d. § 162 Abs. 3 VwGO, dass er seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).