Titel:
Verpflichtungsklage, Werbeanlage (hinterleuchtetes Premium, Billboard mit Wechselwerbung als Wandanlage), bauplanungsrechtliche Zulässigkeit, Gemengelage, geschossweise Gliederung (hier verneint), Gebot der Rücksichtnahme, anlagen- und umgebungsbezogenes Verunstaltungsverbot, störende Häufung (verneint)
Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 5
BauGB § 34
BayBO Art. 59
BayBO Art. 68 Abs. 1 S. 1
BayBO Art. 8
Schlagworte:
Verpflichtungsklage, Werbeanlage (hinterleuchtetes Premium, Billboard mit Wechselwerbung als Wandanlage), bauplanungsrechtliche Zulässigkeit, Gemengelage, geschossweise Gliederung (hier verneint), Gebot der Rücksichtnahme, anlagen- und umgebungsbezogenes Verunstaltungsverbot, störende Häufung (verneint)
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22933
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 9. April 2020, Aktenzeichen …, wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die begehrte Baugenehmigung zum Bauantrag vom 12. November 2019 (PlanNr. …, eingegangen bei der Beklagten am 13. November 2019) zu erteilen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin betreibt ein Unternehmen für die Vermarktung von Außenwerbung und begehrt mit ihrer Klage die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung einer Werbeanlage.
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Mit Bauantrag vom 12. November 2019 (Plan Nr. …), eingegangen bei der Beklagten am 13. November 2019, beantragte die Klägerin die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung eines hinterleuchteten Premium Billboards mit Wechselwerbung im Zehn-Sekunden-Takt als Wandanlage mit den Abmessungen 3,90 m x 2,79 m und einer Tiefe von 0,28 m. Geplanter Anbringungsort ist der Bereich des zweiten und dritten Obergeschosses der Nord-Ost-Fassade (fensterlose Giebelwand) des Anwesens … Straße ...4, FlNr. … Gem. ... (im Folgenden: Baugrundstück). Die Unterkante der Anlage soll dabei in einer Höhe von 7 m über der Geländeoberfläche zu liegen kommen.
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Vgl. zur Lage des Baugrundstücks und der umgebenden Bebauung anliegenden Lageplan im Maßstab 1 : 1000 (nach dem Einscannen möglicherweise nicht mehr maßstabsgerecht):
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Ein qualifizierter Bebauungsplan besteht nicht. Durch einfachen, übergeleiteten Bebauungsplan ist für das Baugrundstück und dessen Umgebung eine vordere Baulinie festgesetzt. Im Flächennutzungsplan der Beklagten ist der Bereich als allgemeines Wohngebiet dargestellt.
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Mit Bescheid vom 9. April 2020, der Klägerin ausweislich der in den Behördenakten enthaltenen Postzustellungsurkunde zugestellt am 16. April 2020, lehnte die Beklagte den Bauantrag vom 12. November 2019, eingegangen am 13. November 2019, ab. In den Gründen wurde ausgeführt, die Eigenart der näheren Umgebung entspreche einem allgemeinen Wohngebiet (WA) im Sinne des § 4 BauNVO. Die tatsächliche Nutzung der maßgeblichen Umgebungsbebauung weise im betreffenden Geviert eine Nutzungsstruktur auf, nach der in den Erdgeschossen gewerbliche Nutzung zur Gebietsversorgung und im Obergeschossbereich ganz überwiegend Wohnnutzung stattfinde. Die Nutzungsstruktur werde zwar ausnahmsweise durch ein Hotel im Gebäude … Straße ...6 und - im angrenzenden Geviert gegenüber der … straße - in der … Straße ...1...a mit einer Zahnarztpraxis im ersten Obergeschoss durchbrochen. Diese gehörten aber zu einer im Allgemeinen Wohngebiet zulässigen bzw. ausnahmsweise zulässigen Nutzung. Aufgrund der klaren Gliederung zwischen der erdgeschossigen Nutzung mit Geschäften und der ab dem ersten Obergeschoss fast ausschließlich vorhandenen Wohnnutzung ergebe sich eine vertikale Gliederung, die Maßstab für das „Sich-Einfügen“ nach § 34 Abs. 1 BauGB sei. Das Vorhaben sei als störender Gewerbebetrieb anzusehen und füge sich nicht in die nähere Umgebung ein, da die gewerbliche Nutzung für einen Bereich - im zweiten und dritten Obergeschoss - beantragt sei, in dem die tatsächlich vorhandene Struktur ausschließlich aus Wohnnutzung bestehe. Seine Zulassung würde zu städtebaulichen Spannungen führen, da eine Veränderung der bisherigen Nutzungsstruktur eintrete. Darüber hinaus führten die Lage der Wechselwerbeanlage und vor allem ihre Beleuchtung mit ca. 368 Watt durch LED-Leuchtmittel zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Wohnhauses … straße ...8. Die Anlage erhöhe das sich stetig ändernde Umgebungslicht (verursacht durch den Motivwechsel im 10-Sekunden-Takt) vor der Hauswand, was sich auf die nur ca. 12 m daneben befindlichen Fenster der Wohnnutzungen störend auswirke. Aber auch direkt gegenüber, im Gebäude … Straße ...1...a, blickten die dortigen Bewohner in der gleichen und den darüber liegenden Etagen von ihren Wohnungen mit Südbalkonen direkt auf die (stetig wechselnde) Werbeanlage. Darüber hinaus sei die psychische Belastung der betroffenen Anwohner zu berücksichtigen. Nach pflichtgemäßem Ermessen werde der Bauantrag auch deswegen abgelehnt, weil die geplante Anlage sich, auch in Verbindung mit den bereits vorhandenen Werbeanlagen, störend auf das Straßen- und Ortsbild auswirke, insbesondere ein deutlicher Kontrast zur dahinterliegenden Bebauung auftrete. Die Werbeanlage störe durch ihre Größe von fast 11 m², die außermittige Anbringung auf der Fassade und durch das die Umgebung dominierende Erscheinungsbild den harmonischen und ruhigen Gesamteindruck der Fassadenfläche. Durch die geplante Anbringung der von der Wirkung hier dominanten Werbeanlage an exponierter Stelle an der Brandwand des Gebäudes … Straße ...4 habe die Anlage eine Fernwirkung, da das Nachbargebäude … Straße 12 lediglich erdgeschossig bebaut sei. Die Wechselwerbeanlage sei aufgrund ihrer Größe für sich schon verunstaltend, vor allem aber auch zusammen mit den bereits vorhandenen Werbeanlagen entstehe eine verunstaltende Wirkung. Größe und Positionierung der Werbeanlage in Bezug auf das Gebäude würden als das ästhetische Empfinden verletzend empfunden. Die Anlage würde randlich auch in die Platzsituation des gegenüber befindlichen …platzes einwirken und auch aus diesem Grund als verunstaltend für das Stadtbild gewertet werden. Des Weiteren würde das Vorhaben zusammen mit der bereits vorhandenen Werbung zu einer unzulässigen störenden Häufung führen.
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Mit Schriftsatz vom 12. Mai 2020, beim Verwaltungsgericht München eingegangen am selben Tag, hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Klage erhoben. Sie beantragt zuletzt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 9. April 2020, Az.: …, zu verpflichten, der Klägerin die begehrte Bauerlaubnis zu erteilen.
8
Die streitgegenständliche Werbeanlage sei planungsrechtlich zulässig. Die maßgebliche nähere Umgebung weise keine horizontale Gliederung auf, in den Obergeschossen fänden sich auch gewerbliche Nutzungen. Es sei nicht Aufgabe des Bauordnungsrechts, bestimmte ästhetische Wertvorstellungen zur Pflege des Stadtbildes zu verwirklichen, sondern unerträgliche Auswüchse zu unterbinden. Das Verunstaltungsverbot könne nicht dazu instrumentalisiert werden, positiv gefasste, aber nicht rechtsverbindlich normierte gestalterische Vorstellungen der Verwaltungsbehörde durchzusetzen. Demnach dürfe nicht jede Störung der architektonischen oder natürlichen Harmonie, die lediglich zu einem unschönen Erscheinungsbild führe, mit Mitteln des Bauordnungsrechts abgewendet werden. Nur eine Verunstaltung im Sinne eines hässlichen Zustands, der das ästhetische Empfinden des Betrachters nicht nur beeinträchtige, sondern verletze, vermöge einen behördlichen Eingriff zu rechtfertigen. Der streitgegenständlichen Werbeanlage gelinge es, an ihrem Anbringungsort einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Erfordernis der Werbung, in gewisser Weise auffällig zu sein, und den an jede Anlage zu stellenden ästhetischen Anspruch im Sinne des Verunstaltungsgebots.
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Die Beklagte legte mit Schriftsatz vom 29. März 2021 die Behördenakten vor und beantragt,
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Die geplante Werbeanlage sei bauplanungsrechtlich unzulässig, weil sie der nach § 34 Abs. 2 BauGB, § 4 BauNVO als Allgemeines Wohngebiet einzuordnenden Umgebung widerspreche, die Nutzungsstruktur mit reinen Wohnnutzungen im 2. und 3. OG durchbreche und infolge Lichtimmissionen und Wechselgeräuschen die unmittelbar angrenzende Wohnnutzung beeinträchtige. Die geplante Werbeanlage sei auch bauordnungsrechtlich unzulässig, Art. 8 BayBO, weil sie aufgrund ihrer Höhe und Größe, aber auch ihrer Auffälligkeit durch Werbewechsel sowohl das Gebäude selbst als auch die Umgebung verunstalte. Daneben führte sie in Zusammenschau mit den vorhandenen Eigenwerbeanlagen und einer Litfaßsäule zu einer störenden Häufung. Im Einzelnen werde auf die Ausführungen im Bescheid Bezug genommen.
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Zum weiteren Vorbringen der Parteien und zu den übrigen Einzelheiten wird auf die vorgelegten Behördenakten, die Gerichtsakte und insbesondere das Protokoll über den gerichtlichen Augenschein und die mündliche Verhandlung am 4. April 2022 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg.
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1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO), da dem streitgegenständlichen Vorhaben keine im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 Bayerische Bauordnung (BayBO) zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen (Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO) und des Weiteren auch kein Verstoß gegen sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften vorliegt, der die Beklagte nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO zur Ablehnung des Bauantrags berechtigten würde. Unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids war die Beklagte daher zu verpflichten, die beantragte Baugenehmigung zu erteilen.
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1.1. Die streitgegenständliche Werbeanlage ist bauplanungsrechtlich zulässig, Art. 59 Satz 1 Nr. 1a) BayBO i.V.m. §§ 29 ff Baugesetzbuch (BauGB).
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Die bauplanungsrechtliche Beurteilung bemisst sich hier nach § 30 Abs. 3 BauGB (Festsetzung zur überbaubaren Grundstücksfläche durch einfachen übergeleiteten Baulinienplan gemäß § 173 Abs. 3 Bundesbaugesetz (BBauG) und § 233 Abs. 3 BauGB) i.V.m. § 34 BauGB. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Nach § 34 Abs. 2 BauGB beurteilt sich, wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete, die aufgrund der Baunutzungsverordnung (BauNVO) bezeichnet sind, entspricht, die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der BauNVO in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre; auf die nach der BauNVO ausnahmsweise zulässigen Vorhaben ist § 31 Abs. 1 BauGB, im Übrigen ist § 31 Abs. 2 BauGB entsprechend anzuwenden.
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1.1.1. Im vorliegenden Fall hat der von der Kammer durchgeführte Augenschein zu dem Ergebnis geführt, dass die Eigenart der näheren Umgebung keinem der Baugebiete entspricht, die in der Baunutzungsverordnung bezeichnet sind.
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Der die nähere Umgebung bildende Bereich reicht so weit, wie sich die Ausführung des zur bauaufsichtlichen Prüfung gestellten Vorhabens auswirken kann und wie die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 - 4 C 9.77 - juris Rn. 33; U.v. 5.12.2013 - 4 C 5.12 - juris Rn. 10; B.v. 20.8.1998 - 4 B 79.98 - juris Rn. 7; U.v. 8.12.2016 - 4 C 7.15 - juris Rn. 9; B.v. 27.3.2018 - 4 B 60.17 - juris Rn. 7), wobei darauf abzustellen ist, was in der Umgebung tatsächlich vorhanden ist, so dass zur maßstabsbildenden „vorhandenen Bebauung“ auch ein qualifiziert geplantes Gebiet gehören kann (vgl. BVerwG, B.v. 27.3.2018 - 4 B 60.17 - juris Rn. 7; B.v. 10.7.2000 - 4 B 39.00 - juris Rn. 7; B.v. 24.11.2009 - 4 B 1.09 - juris Rn. 5). Daraus folgt, dass nicht nur die unmittelbare Nachbarschaft des Baugrundstücks zu berücksichtigen ist, sondern auch die Bebauung der weiteren Umgebung insoweit berücksichtigt werden muss, als auch diese noch prägend auf das Baugrundstück einwirkt (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 - 4 C 9.77 - juris Rn. 33). Wie weit diese wechselseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalls. Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist (vgl. BVerwG, B.v. 28.8.2003 - 4 B 74.03 - juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 16.12.2009 - 1 CS 09.1774 - juris Rn. 21; B.v. 27.9.2010 - 2 ZB 08.2775 - juris Rn. 4). Dabei ist jedoch die maßgebliche nähere Umgebung für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB aufgeführten Zulässigkeitsmerkmale gesondert zu ermitteln, weil die prägende Wirkung der jeweils maßgeblichen Umstände unterschiedlich weit reichen kann (vgl. BVerwG, B.v. 6.11.1997 - 4 B 172.97 - juris Rn. 5; B.v. 13.5.2014 - 4 B 38.13 - juris Rn. 7; U.v. 8.12.2016 - 4 C 7.15 - juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 16.12.2009 - 1 CS 09.1774 - juris Rn. 21; U.v. 18.7.2013 - 14 B 11.1238 - juris Rn. 19; B.v. 14.2.2018 - 1 CS 17.2496 - juris Rn. 13). Entscheidend ist auch hier, wie weit die wechselseitigen Auswirkungen im Verhältnis von Vorhaben und Umgebung im Einzelfall reichen (vgl. OVG Münster, U.v. 1.3.2017 - 2 A 46/16 - juris Rn. 35 m.w.N).
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Als maßgeblich im vorgenannten Sinne betrachtet das Gericht aufgrund der beim Augenschein gewonnenen Eindrücke die Bebauung auf der Nordwestseite der … Straße, die rund um den Einmündungsbereich der … straße in die … Straße gelegen ist und durch die Gebäude … Straße ...1... und ...1...a, … straße ...8 und ...6, … Straße ...4 und - jedenfalls Teile der - … Straße ...4a gebildet wird. Der Gehweg vor den Anwesen … Straße 12 und 14 ist - auch infolge des U-Bahnaufgangs - verbreitert und wirkt hier platzartig. Es ist nicht erkennbar, dass das geplante Vorhaben über diesen Bereich hinaus, insbesondere in süd-westlicher Richtung, noch Einfluss auf die Umgebung nimmt oder umgekehrt von dieser noch geprägt wird. Eine Einbeziehung der auf der gegenüberliegenden Seite, d.h. südöstlich der … Straße, vorhandenen Bebauung scheidet aus, weil diese nach dem Eindruck, den das Gericht insbesondere im Rahmen des Augenscheins sowie auf der Grundlage der vorhandenen Bauvorlagen gewonnen hat, trennende Wirkung entfaltet. Die … Straße bildet insbesondere aufgrund ihrer Breite, Ausgestaltung (zwei Richtungsfahrbahnen in jede Fahrtrichtung, beidseitig jeweils Parkbuchten mit Grünbereichen sowie Radwege und Gehsteige, zwischen den Fahrbahnen gelegene zweigleisige Trambahntrasse mit Haltestelle am H.platz) und Verkehrsauslastung eine deutlich im Stadtbild wahrnehmbare Zäsur, so dass beiden Straßenseiten planungsrechtlich die wechselseitige Prägung fehlt. Hingegen kommt der … straße in diesem Bereich, insbesondere angesichts ihrer deutlich geringeren Breite (ca. 13 m, abgegriffen aus dem amtlichen Lageplan) und Ausgestaltung, keine trennende Wirkung zu; hier ist eine wechselseitige Prägung der Bebauung … Straße ...1..., ...1...a und dem Gebäude … Straße ...4 anzunehmen. Zwar befindet sich zwischen der Giebelwand, an welcher das Vorhaben angebracht werden soll, und der … straße noch die Bebauung … Straße 12. Diese ist jedoch nur eingeschossig ausgestaltet, so dass nach Auffassung der Kammer die Bebauung … Straße ...1... und ...1...a (auch) Einfluss auf die Bebauung … Straße ...4 nimmt und umgekehrt. Dieser Eindruck wird zusätzlich verstärkt durch die gleiche Höhenentwicklung zwischen diesen beiden Gebäuden und die bestehende Sichtbeziehung.
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1.1.2. Entgegen der im streitgegenständlichen Bescheid und der Klageerwiderung vertretenen Auffassung der Beklagten entspricht dieses Gebiet nach den Feststellungen des gerichtlichen Augenscheins nicht einem faktischen allgemeinen Wohngebiet i.S.d. § 4 BauNVO. Vielmehr lässt sich die nähere Umgebung keinem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung eindeutig zuordnen, so dass es sich vorliegend um eine sogenannte Gemengelage handelt.
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Allgemeine Wohngebiete dienen gemäß § 4 Abs. 1 BauNVO vorwiegend dem Wohnen. Der Baugebietstyp ist durch das Vorherrschen der Wohnnutzung gekennzeichnet. Der Wohngebietscharakter muss eindeutig als vorherrschend erkennbar sein. Dies setzt voraus, dass Gebäude mit Wohnungen, wenn auch gemischt genutzt, im allgemeinen Wohngebiet zahlenmäßig überwiegen. Für den Gebietscharakter sind darüber hinaus aber auch die Auswirkungen, die von den anderen Nutzungsarten ausgehen, ihre Häufung und ihre Größe von Bedeutung (vgl. Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 144. EL Oktober 2021, § 4 BauNVO Rn. 19).
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Vorliegend stellt sich der Charakter der näheren Umgebung des Baugrundstücks nicht mehr als allgemeines Wohngebiet dar. In der maßgeblichen näheren Umgebung ist zwar durchaus zum überwiegenden Teil Wohnnutzung vorhanden. Neben rein wohngenutzten Gebäuden (… straße 9, 16 und 18) finden sich gemischt genutzte Gebäude, die zu Wohnzwecken und daneben gewerblich und/oder freiberuflich genutzt werden. So weist das Gebäude … Straße ...4, an welchem die streitgegenständliche Werbeanlage angebracht werden soll, im Erdgeschoss einen Laden, ein Café und ein Immobilienbüro auf, während sich im ersten bis dritten Obergeschoss Wohnnutzung, im ersten Obergeschoss daneben auch ein Lohnsteuerhilfeverein befinden. Das Anwesen … Straße ...4a wird als Seniorenresidenz genutzt (zur Einordnung als Wohngebäude vgl. § 3 Abs. 4 BauNVO sowie Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 144. EL Oktober 2021, § 3 BauNVO Rn. 60 ff.), ferner sind dort Arztpraxen vorhanden. Bei der Bebauung … Straße 12 handelt es sich um ein eingeschossiges Gebäude, in welchem eine Apotheke untergebracht ist. Davor, auf dem Gehweg, steht eine Litfaßsäule der Fa. … Das Gebäude … Straße ...1...a weist im Erdgeschoss einen Friseursalon, im weiteren Verlauf (wohl schon zu … Straße ...1... gehörig) einen Lebensmittelmarkt und eine Bäckerei auf. Im gesamten ersten Obergeschoss des Anwesens … Straße ...1...a - übergehend in … Straße ...1... - befinden sich eine Arztpraxis, eine Praxis für Physiotherapie und ein Zentrum für integrative Störfelddiagnostik („Foco Dent“).
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Die Kammer verkennt nicht, dass die vorgefundenen Läden, Handwerksbetriebe und das Café als sog. Gebietsversorger auch in einem allgemeinen Wohngebiet allgemein zulässig sein können - ob dies auch für den Lebensmittelmarkt gilt, kann im Ergebnis dahinstehen. Daneben findet sich mit der Litfaßsäule eine gewerbliche Nutzung, die (allenfalls) ausnahmsweise in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig wäre (§ 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO; vgl. VG München, U.v. 20.10.2008 - M 8 K 07.2841 - juris Rn. 20). Nach Auffassung der Kammer kann jedoch bereits angesichts des hohen Anteils freiberuflicher bzw. dieser gleichgestellter gewerblicher Nutzungen nicht mehr vom Vorherrschen der Wohnnutzung und damit dem Vorliegen eines allgemeinen Wohngebiets ausgegangen werden.
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Gem. § 13 BauNVO sind in Baugebieten nach §§ 2 bis 4 BauNVO, d.h. auch in einem allgemeinen Wohngebiet, Nutzungen für die Berufsausübung freiberuflich Tätiger und solcher Gewerbetreibender, die ihren Beruf in ähnlicher Weise ausüben, auf Räume beschränkt. Die Beschränkung auf Räume macht deutlich, dass trotz der Inanspruchnahme für freiberufliche oder gewerbliche Zwecke der Charakter als Wohngebäude gewahrt bleiben muss. Nach den Feststellungen des Augenscheins erstreckt sich die freiberufliche Nutzung allein im Anwesen … Straße ...1...a, übergehend in die … Straße ...1..., über ein ganzes Geschoss. Insoweit kann auch nicht von einem, den Gesamtcharakter des Baugebiets nicht beeinflussenden Ausreißer ausgegangen werden. Es kommt noch hinzu, dass in dem eingeschossigen Gebäude auf dem Grundstück … Straße 12 - und damit nicht nur in „Räumen“ - ausschließlich eine Apotheke untergebracht ist (vgl. zur Einordnung einer Apotheke unter § 13 BauNVO: OVG LSA, B.v. 10.10.2018 - 2 M 53/18 - juris Rn. 31; VG München, U.v. 27.1.2014 - M 8 K 12.5554- juris Rn. 66; Stock in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, 144. EL Oktober 2021, § 4 BauNVO Rn. 48, 100, § 13 Rn. 18 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 12.12.1996- 4 C 17/95 - juris Rn. 28). Dass es sich hierbei um ein lediglich eingeschossiges Gebäude handelt, welches hinsichtlich seiner Höhenentwicklung hinter dem Nutzungsmaß der näheren Umgebung zurückbleibt, vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern. § 13 BauNVO definiert ebenso wenig wie die Baugebietsvorschriften, auf die er Bezug nimmt, was unter einem „Gebäude“ zu verstehen ist. Als Abgrenzungsmerkmal eignet sich insoweit das Kriterium der selbständigen Benutzbarkeit (BVerwG, B.v. 13.12.1995 - 4 B 245/95 - juris Rn. 4), die hier unzweifelhaft zu bejahen ist (vgl. zur Einordnung einer als Kunstgewerbe-Ausstellungsraum mit Kleinverkauf genutzten Garage als Gebäude i.S.d. § 13 BauNVO: NdsOVG, U.v. 20.5.1987 - 1 A 125/86 - BRS 47 Nr. 61). Angesichts des beim Augenschein festgestellten Umfangs an freiberuflicher Tätigkeit liegt hier kein allgemeines Wohngebiet mehr vor. Die nähere Umgebung ist vielmehr als ein Gebiet sui generis anzusehen (sog. Gemengelage), sodass sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit (auch) hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nach § 34 Abs. 1 BauGB richtet
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1.1.3. Das streitgegenständliche Vorhaben fügt sich in die Eigenart der näheren Umgebung ein, wobei dies insbesondere auch für die Art der Nutzung gilt.
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Ein Vorhaben fügt sich im Allgemeinen ein, wenn es sich innerhalb des Rahmens hält, der durch die in der Umgebung vorhandene Bebauung gezogen wird. Ein rahmenwahrendes Vorhaben kann ausnahmsweise unzulässig sein, wenn es nicht die gebotene Rücksicht auf die Bebauung in der Nachbarschaft nimmt. Umgekehrt fügt sich ein den Rahmen überschreitendes Vorhaben ausnahmsweise ein, wenn es bodenrechtlich beachtliche Spannungen weder herbeiführt noch erhöht (BVerwG, U.v. 26.5.1978 - IV C 9.77 - juris Rn. 47; U.v. 15.12.1994 - 4 C 13.93 - juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 19.10.2020 - 15 ZB 20.280 - juris Rn. 7; B.v. 14.2.2018 - 1 CS 17.2496 - juris Rn. 13; ThürOVG, U.v. 26.4.2017 - 1 KO 347/14 - juris Rn. 40). Die Betrachtung muss auf das Wesentliche zurückgeführt und alles außer Acht gelassen werden, was die vorhandene Bebauung nicht prägt oder in ihr als Fremdkörper erscheint (BVerwG, B.v. 22.9.2016 - 4 B 23.16 - juris Rn. 6). Bei der Frage, ob sich ein Vorhaben nach der Art der baulichen Nutzung im Rahmen der Umgebungsbebauung hält, ist auf typisierte Nutzungsarten abzustellen, wobei grundsätzlich an die Typisierung der Nutzungsarten in der Baunutzungsverordnung angeknüpft werden kann, denn die Baunutzungsverordnung stellt - grundsätzlich - eine sachverständige Konkretisierung moderner Planungsgrundsätze dar. Die Art der baulichen Nutzung ist daher mit den Nutzungsarten gleichzusetzen, wie sie durch die Begriffe der Baunutzungsverordnung für die Nutzungsarten in den einzelnen Baugebieten definiert werden (std. Rspr., vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1994 - 4 C 13/93 - juris Rn. 18).
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Nach Maßgabe dieser Grundsätze fügt sich die geplante Fremdwerbeanlage, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts planungsrechtlich wie ein Gewerbebetrieb zu behandeln ist (vgl. BVerwG, U.v. 3.12.1992 - 4 C 27/91 - juris Rn. 25 ff.; ebenso BayVGH, U.v. 11. 12.2007 - 14 B 06.2880 - juris Rn. 14), in die nähere Umgebung ein, weil sie sich innerhalb des durch die maßgebliche Umgebung vorgegebenen Rahmens hält. Mit den den Umfang des § 13 BauNVO überschreitenden freiberuflichen bzw. diesen gleichgestellten gewerblichen Nutzungen und der vor dem Anwesen … Straße 12 befindlichen Litfaßsäule sind gewerbliche Nutzungen vorhanden, die als Vorbild für die streitgegenständliche Werbeanlage dienen. Deren planungsrechtlicher Zulässigkeit steht auch nicht der Gesichtspunkt einer vertikalen Gliederung (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 12.2.1990 - 4 B 240/89 - juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 11.4.2005 - 2 ZB 05.629 - juris Rn. 2; B.v. 10.1.2005 - 2 ZB 04.193 - juris Rn. 4) entgegen. Voraussetzung hierfür wäre, dass das Erscheinungsbild des Straßenzugs eindeutig dadurch geprägt ist, dass die - häufig durch größere Geschosshöhe gekennzeichneten - Erdgeschossbereiche gewerblich und die darüber liegenden Geschosse zu Wohnzwecken genutzt werden (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2005 - 2 ZB 04.193 - juris Rn. 4). Ein solches städtebauliches Ordnungsprinzip ist vorliegend v.a. aufgrund der Nutzung des gesamten ersten Obergeschosses des Anwesens … Straße ...1.../...1...a zu gewerblich-freiberuflichen Zwecken hier nicht deutlich nach außen ablesbar.
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1.1.4. Die die streitgegenständliche Werbeanlage verstößt auch nicht gegen das in § 34 Abs. 1 BauGB im Begriff des „Einfügens“ verankerte Rücksichtnahmegebot (vgl. hierzu BayVGH B.v. 08.07.2013 - 2 CS 13.807 - juris, Rn. 12), insbesondere nicht zu Lasten des Anwesens … straße ...8 und … Straße ...1...a.
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Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen können, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann er eine Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalls kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (vgl. BVerwG, U.v. 25.2.1977 - 4 C 22.75 - juris Rn. 22; U.v. 28.10.1993 - 4 C 5.93 - juris Rn. 17; U.v. 23.9.1999 - 4 C 6.98 - juris Rn. 20; U.v. 18.11.2004 - 4 C 1/04 - juris Rn. 22; U.v. 29.11.2012 - 4 C 8/11 - juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 4). Bei der Interessengewichtung spielt es eine maßgebliche Rolle, ob es um ein Vorhaben geht, das grundsätzlich zulässig und nur ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen nicht zuzulassen ist, oder ob es sich - umgekehrt - um ein solches handelt, das an sich unzulässig ist und nur ausnahmsweise zugelassen werden kann. Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat (vgl. BVerwG, B.v. 6.12.1996 - 4 B 215/96 - juris Rn. 9 m.w.N.). Das Rücksichtnahmegebot ist dann verletzt, wenn unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit des Betroffenen, der Intensität der Beeinträchtigung und der wechselseitigen Interessen das Maß dessen, was billigerweise noch zumutbar ist, überschritten wird (vgl. BVerwG, U.v. 25.2.1977 - IV C 22.75 - juris Rn. 22).
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Mit Blick auf das Anwesens … straße ...8 ist schon aufgrund dessen Lage und Situierung zur streitgegenständlichen Werbeanlage keine unzumutbare Belästigung oder Störung anzunehmen. Auch bezüglich der Wohnnutzung in den Obergeschossen der gegenüberliegenden Bebauung (… Straße ...1...a) ist angesichts der Entfernung zu dem Vorhaben nicht von einem Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot auszugehen. Es kann nicht angenommen werden, dass es insoweit auch im Hinblick auf die Beleuchtungssituation der Umgebung - belebte und gut beleuchtete Einfall- und Ausfall straße - zu erheblichen Belästigungen durch eine unerwünschte Raumaufhellung oder eine Blendwirkung kommt.
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Im Übrigen ist die Beklagte durch das Verpflichtungsurteil nicht gehindert, Maximalwerte für die Beleuchtung oder Mindestabstandszeiten für den Plakatwechsel festzusetzen, sofern sich dies als notwendig erweisen sollte, um Störungen der Nachbarschaft zu verhindern (vgl. BayVGH, U.v. 22.8.2001 - 2 B 01.74 - juris Rn. 21; B.v. 18.10.2001 - 2 ZB 01.1945 - juris Rn. 3).
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1.2. Es liegt weiter auch kein Verstoß gegen nicht zum Prüfprogramm gehörende öffentlich-rechtliche Vorschriften vor, der die Beklagte gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO zur Ablehnung der beantragten Genehmigung berechtigen würde.
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Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO darf die Bauaufsichtsbehörde den Bauantrag auch ablehnen, wenn das Vorhaben gegen sonstige, nicht im Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO zu prüfende öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt. Die Beklagte hat die Ablehnung des Bauantrags ausdrücklich auf eine verunstaltende Wirkung gem. Art. 8 BayBO gestützt. Deshalb ist im vorliegenden Fall auch zu prüfen, ob eine solche vorliegt.
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1.2.1. Der geplanten Werbeanlage steht im Hinblick auf ihre Wirkung auf das Gebäude, an dem sie angebracht werden soll, nicht bereits Art. 8 Satz 1 BayBO entgegen.
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Hiernach müssen bauliche Anlagen nach Form, Maßstab, Verhältnis der Baumasse und Bauteile zueinander, Werkstoff und Farbe so gestaltet sein, dass sie nicht verunstaltet wirken. Soll eine bauliche Anlage - wie eine Werbetafel - an, auf oder unmittelbar neben einer baulichen Anlage - wie einem Gebäude - errichtet werden, handelt es sich nicht um die gleiche bauliche Anlage, sodass eine Verunstaltung nicht nach Satz 1, sondern nach dem (umgebungsbezogenen) Art. 8 Satz 2 zu beurteilen ist (BayVGH, B.v. 16.2.2016 - 2 ZB 15.2503 - juris Rn. 2; B.v. 12.1.2018 - 9 ZB 15.1911 - juris Rn. 6; Voigt in: BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 21. Edition, 1.2.2022, Art. 8 Rn. 19; Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 145. EL Januar 2022, Art. 8 Rn. 70). Anhaltspunkte dafür, dass die geplante Werbeanlage in sich verunstaltet wirken würde, bestehen nicht.
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1.2.2. Die geplante Werbeanlage widerspricht auch nicht dem umgebungsbezogenen Verunstaltungsverbot des Art. 8 Satz 2 BayBO, wonach bauliche Anlagen das Straßen-, Orts- und Landschaftsbild nicht verunstalten dürfen. Das Vorhaben führt weder zu einer Verunstaltung der Fassade des Gebäudes noch zu einer Verunstaltung des Orts- und Straßenbildes.
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Bei dem Begriff der „Verunstaltung“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Anwendung im gerichtlichen Verfahren der vollen Überprüfung unterliegt. Eine Verunstaltung im Sinne dieser Vorschrift ist anzunehmen, wenn ein für ästhetische Eindrücke offener Durchschnittsbetrachter die betreffende Werbeanlage an ihrer Anbringungsstelle als belastend oder Unlust erregend empfinden würde (BVerwG, U. v. 28.6.1955 - I C 146.53 - juris Rn. 12; BayVGH, U. v. 26.7.1999 - 2 B 94.1533 - juris Rn. 13; U. v. 25.7.2002 - 2 B 02.164 - juris Rn. 19; U. v. 16.9.2005 - 26 B 04.3258 - juris Rn. 19; U. v. 11.8.2006 - 26 B 05.3024 - juris Rn. 16). Dabei reicht nicht jede Störung der architektonischen Harmonie, es ist vielmehr ein hässlicher, das ästhetische Empfinden des Betrachters nicht nur beeinträchtigender, sondern verletzender Zustand erforderlich. Dabei ist nicht auf ästhetisch besonders empfindsame oder geschulte und auch nicht auf solche Betrachter abzustellen, die ästhetischen Eindrücken gegenüber überhaupt gleichgültig oder unempfindlich sind; entscheidend ist das Empfinden des sogenannten gebildeten Durchschnittsmenschen, der zwischen diesen beiden Personenkreisen steht (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2019 - 9 ZB 17.264 - juris Rn. 6). Aufgabe des Art. 8 Satz 2 BayBO ist es in erster Linie, Auswüchse zu unterbinden, nicht aber bestimmte ästhetische Wertvorstellungen zur Stadtbildgestaltung durchzusetzen (BayVGH, U.v. 16.7.2002 - 2 B 01.1642 - juris Rn. 20; U. v. 11.8.2006 - 26 B 05.3024 - juris Rn. 16; Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 145. EL Januar 2022, Art. 8 Rn. 53).
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In Bezug auf Werbeanlagen entspricht es gefestigter Rechtsprechung, dass sie ihren Anbringungsort verunstalten, wenn sie die entsprechende Wand zu einem Werbeträger umfunktionieren oder einem vorhandenen ruhigen Erscheinungsbild einen Fremdkörper aufsetzen und diese damit empfindlich stören (vgl. BayVGH, U.v. 11.11.2014 - 15 B 12.2765 - juris Rn. 15 m.w.N.; B.v. 16.2.2016 - 2 ZB 15.2503 - juris Rn. 3; B.v. 12.1.2018 - 9 ZB 15.1911 - juris Rn. 9; U.v. 7.6.2021 - 9 B 18.1655 - juris Rn. 38). Eine Verunstaltung kann auch angenommen werden, wenn die Werbeanlage vor oder an eine bauliche Anlage ohne Rücksicht auf deren Gestalt und Gestaltung gesetzt wird, wenn sich die Kanten der Werbeanlage mit den Konturen der vorhandenen baulichen Anlage überschneiden (vgl. HessVGH, U.v. 14.4.1982 - IV OE 11/80 - juris), wenn sich der Eindruck der Disharmonie geradezu aufdrängt (vgl. BayVGH, B.v. 12.1.2018 - 9 ZB 15.1911 - juris Rn. 10) oder wenn die Werbeanlage die andere bauliche Anlage, an der sie angebracht wird, deutlich dominiert und so zur Hauptsache wird, wenn sie also mit ihrer Größe in einem Missverhältnis zu ihrem Anbringungsort steht (vgl. Dirnberger in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 144. EL Januar 2022, Art. 8 Rn. 202, 233).
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Insbesondere aufgrund des Ergebnisses des durchgeführten Augenscheins und unter Anwendung der vorstehenden Maßstäbe geht die Kammer davon aus, dass die geplante Werbeanlage an ihrem Anbringungsort eine solche Verunstaltung nicht bewirkt. Die Anlage weist keine übermäßige Größe auf und überdeckt lediglich einen kleinen Teil der Giebelfläche, so dass die Giebelwand in ihrer originären baulichen Funktion als Hausabschlusswand weiterhin in Erscheinung tritt. Die Fassade des Gebäudes ist ausreichend groß, um die Anlage so aufzunehmen, so dass die Wand nicht zu einem Werbeträger umfunktioniert wird. Der Anbringungsort selbst - die fensterlose Brandwand des Anwesens … Straße ...4a - ist reizlos und ästhetisch ohne besondere Wertigkeit.
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Darüber hinaus wird auch das Straßen- oder Ortsbild durch die Werbeanlage nicht wesentlich beeinträchtigt, insbesondere nicht von dieser dominiert. Das harmonische Gesamtbild wird beeinträchtigt, wenn eine Werbeanlage sich dem Charakter des Straßen- und Ortsbildes, also seiner Umgebung, nicht einfügt, sondern so aufdringlich wirkt, dass sie als wesensfremdes Gebilde zu ihr in keiner Beziehung mehr steht (Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 145. EL Januar 2022, Art. 8 Rn. 200). Dass großformatige Werbeanlagen auffällig sind und den Blick in ihre Richtung lenken sollen, liegt in ihrer Natur. Sie verunstalten deswegen aber noch nicht das Orts- oder Straßenbild. Denn der Betrachter weiß, dass Werbeanlagen seine Aufmerksamkeit auf sich lenken sollen; er erwartet demnach keine dezente Unterordnung in das von Werbung freigehaltene Umfeld. Der Grad der Verunstaltung des Straßen- und Ortsbildes ist i.d.R. daher erst dann überschritten, wenn der Betrachter eine Werbeanlage oder deren Häufung als aufdringlich empfindet, etwa weil sie das Straßen- oder Ortsbild dominiert und sonstige Blickfänge in den Hintergrund drängt. Dies ist aber nach Ansicht des Gerichts hier nicht der Fall. Insofern hat der Augenschein gezeigt, dass die Umgebung uneinheitlich wirkt, weil sie nicht nur durch Wohnbebauung, sondern durch die … Straße als breite, vielbefahrene Ein- und Ausfall straße, die Trambahneinrichtungen (Gleisanlage und Straßenbahnhaltestelle), den U-Bahnaufgang und auch die vorhandenen gewerblichen Nutzungen mit ihren z.T. auffälligen Eigenwerbungen und der vorhandenen Litfaßsäule im Kreuzungsbereich zur … straße insgesamt (groß-)städtisch geprägt ist. Die streitgegenständliche Werbeanlage trifft den Betrachter nach Größe, Ort und Art daher nicht unerwartet. Sie wirkt insbesondere nicht wesensfremd.
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1.2.3. Schließlich kommt es nicht zu einer störenden Häufung von Werbeanlagen i.S.d. Art. 8 Satz 3 BayBO.
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Bei der störenden Häufung handelt es sich um einen Unterfall des allgemeinen Verunstaltungsverbots (VG München, U.v. 10.7.2017 - M 8 K 16.1426, M 8 K 16.5065 - juris Rn. 50; VG Augsburg, U.v. 28.9.2011 - Au 4 K 11.309 - juris Rn. 20; Molodovsky in: Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, 114. AL Art. 8 Rn. 65). Tatbestandlich ist vorausgesetzt, dass zunächst eine Häufung von Werbeanlagen vorliegt, die dann störende Wirkung entfaltet.
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Eine Häufung liegt vor, wenn mehrere, mindestens aber drei gleichartige oder verschiedene Werbeanlagen in enger räumlicher Beziehung zueinander angebracht werden und gleichzeitig im Gesichtsfeld des Betrachters liegen. Einzubeziehen sind alle vorhandenen Werbeanlagen jeder Art; auf die Funktion der Werbeanlage (Eigen- oder Fremdwerbung) kommt es nicht an (VG Ansbach, U.v. 2.7.2020 - AN 17 K 19.01354 - juris Rn. 26; VG München, U.v. 10.7.2017 - M 8 K 16.1426, M 8 K 16.5065 - juris Rn. 50; vgl. auch OVG NRW, U.v. 20.2.2004 - 10 A 3279/02 - juris Rn. 33 f., 42; Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 145. EL Januar 2022, Art. 8 Rn. 204 ff.; Molodovsky in: Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, 144. AL, Art. 8 Rn. 64). Vorliegend befinden sich in der näheren Umgebung, namentlich am eingeschossigen Gebäude … Straße 12 sowie im Erdgeschossbereich des Anwesens … Straße ...4, Eigenwerbung, daneben auf dem Gehweg vor dem Gebäude … Straße 12 auch Fremdwerbung (Litfaßsäule), so dass aus verschiedenen Blickwinkeln auch mehr als drei Werbeanlagen gleichzeitig ins Blickfeld des Betrachters fallen und von einer Häufung i.S. des Art. 8 Satz 3 BayBO auszugehen ist.
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Diese begründet jedoch allein keine „Störung“. Ob eine Häufung störend ist, lässt sich nicht abstrakt-generell bestimmen (BayVGH, B.v. 9.9.2020 - 9 ZB 17.1406 - juris Rn. 7; B.v. 12.1.2012 - 15 ZB 10.445 - juris Rn. 16). Jedenfalls muss sich ein gestalterischer Widerspruch aus der beziehungslosen Anhäufung von Werbeanlagen selbst oder ihrer Wirkung auf die Umgebung ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 12.1.2012 - 15 ZB 10.445 - juris Rn. 16; Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 145. EL Januar 2022, Art. 8 Rn. 230). Maßgeblich ist, dass der enge örtliche Bereich, der gleichzeitig im Gesichtsfeld des Betrachters liegt, mit Werbeanlagen derart überladen ist, dass das Auge keinen Ruhepunkt findet und das Bedürfnis nach werbungsfreien Flächen stark hervortritt, weil die Werbeanlagen allein wegen ihrer unangebrachten Häufung als lästig empfunden werden (vgl. Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 145. EL Januar 2022, Art. 8 Rn. 214 ff.; OVG NRW, U.v. 20.2.2004 - 10 A 3279/02 - juris Rn. 36).
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In Anwendung dieser Grundsätze ist bei Hinzutreten der beantragten Werbeanlage nicht von einer störenden Häufung im Sinne des Art. 8 Satz 3 BayBO auszugehen. Der maßgebliche Bereich ist noch nicht von Werbeanlagen so sehr überladen, dass durch das Hinzutreten einer weiteren die Schwelle zur störenden Häufung überschritten würde, zumal vorliegend kein Missverhältnis zwischen Werbeanlagen und städtisch geprägter Umgebung besteht. Die Anbringung der geplanten Werbeanlage stellt vorliegend keinen unvereinbaren Kontrast dar zu dem auch ansonsten durch Geschäfte und gewerbliche Nutzung sowie die damit einhergehende Eigenwerbung geprägten Bereich. Auch das Straßen- und Ortsbild wird nicht dominiert. Damit liegt noch kein evidentes Missverhältnis zwischen der vorhandenen Zahl der Werbeanlagen und der Umgebung vor.
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2. Soweit die Beklagte im Ablehnungsbescheid darauf verweist, dass das Vorhaben mit in seiner vollen Tiefe von 0,28 m in das Nachbargrundstück FlNr. … der Gemarkung ... hineinrage und eine Einverständniserklärung des betroffenen Grundstückseigentümers nicht vorliege, steht dies dem Urteilsspruch mit Blick auf Art. 68 Abs. 5 BayBO nicht entgegen.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung - ZPO.