Inhalt

VG München, Urteil v. 27.06.2022 – M 19 K 19.31286
Titel:

Asyl, Irak: Hinsichtlich Abschiebungsverboten erfolgreiche Klage einer Familie mit Kleinkindern

Normenketten:
AsylG § 3, § 4, § 26
AufenthG § 60 Abs. 5, 7
Leitsatz:
Die Rückkehrprognose für die Kläger, ein Ehepaar im mittleren Lebensabschnitt und ihre fünf Kinder, ergibt, dass diese für absehbare Zeit nach der Rückkehr nicht in der Lage sein wird, in Kurdistan-Irak ihre elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene auf legalem Weg zu befriedigen. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Irak (Alkosch, Provinz Ninive), Kurdische Yeziden, Familie mit sieben minderjährigen Kindern (17, 15, 13, 11, 9, 3 und 1 Jahr), Keine Unverzüglichkeit der Antragstellung nach der Einreise bei Familienasyl, Allgemeine Sicherheitslage, Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22908

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. April 2019 wird in Nrn. 3 bis 5 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass für die Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Irak vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Kläger als Gesamtschuldner zwei Drittel, die Beklagte ein Drittel.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

1
Die Kläger sind eine Familie, bestehend aus den Eltern und fünf Kindern im Alter zwischen 9 und 17 Jahren. Sie sind irakische Staatsangehörige mit kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischer Glaubensüberzeugung.
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Dem bereits seit Juni 2015 in Deutschland lebenden, am 1. Januar 2001 geborenen Sohn ... der Kläger zu 1.) und zu 2.), wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 16. Februar 2016 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (...).
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Am 25. Oktober 2017 erteilte die deutsche Botschaft in Ankara den Klägern jeweils bis zum 22. Januar 2018 gültige Visa zum Familiennachzug. Daraufhin reisten sie ihren Angaben und den in der Akte befindlichen Flugtickets zufolge am 29. November 2017 auf dem Luftweg von Erbil aus über Bagdad nach Düsseldorf ins Bundesgebiet ein.
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Über ihren Prozessbevollmächtigten stellten sie am 8. März 2018 einen förmlichen Asylantrag, den sie auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz) beschränkten. Hierbei beriefen sie sich auf ihnen zustehenden Familienflüchtlingsschutz aufgrund des ihrem Sohn und Bruder ... gewährten Flüchtlingsschutz.
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Bei ihren Anhörungen am 9. April 2018 und am 13. Dezember 2018 vor dem Bundesamt gaben die Kläger zu 1.) und zu 2.) im Wesentlichen an, aus dem Dorf Khatare, Stadt Alkosch, Distrikt Telkif in der Provinz Ninive zu stammen. Dort hätten sie im Haus der Mutter des Klägers zu 1.) gelebt. Hinsichtlich ihres Verfolgungsschicksals gaben sie im Wesentlichen an, als Yeziden in ständiger Angst vor Verfolgung gelebt zu haben. Eine ihrer Töchter habe beim Einmarsch vom IS einen Schock erlitten und leide noch immer unter den Folgen. Ein Cousin des Klägers zu 1.) sei durch eine Autoexplosion getötet worden. Als Yezide könne man keine gute Arbeit finden und sei Bürger Zweiter Klasse. Vom 55- jährigen Kläger zu 1.) lebten im Irak noch seine pflegebedürftige Mutter; sein Vater sei bereits verstorben. Außerdem seien noch 2 Brüder, eine Schwester und die Großfamilie im Irak. Die Mutter und Schwester seien Hausfrauen, seine Brüder seien in der Landwirtschaft tätig und sehr arm. Er habe die Schule bis zur 5. Klasse besucht und bis zu seiner Ausreise als Obstverkäufer in Dohuk und in Zakho gearbeitet. Zuvor habe er in Bagdad in einem Alkoholladen und als Landwirt gearbeitet. Er leide an Diabetes. Einem Attest vom 18. Mai 2020 zufolge nehme er im Rahmen einer antidiabetischen Therapie die Medikamente Metformin 1000 mg (2x täglich) und Toujeo (5 Einheiten). Von der 46-jährigen Klägerin zu 2.) lebten im Irak noch ihre Eltern. Sie habe noch 2 Schwestern und einen Bruder im Irak. Sie sei nie auf der Schule gewesen und könne nicht lesen und schreiben. Sie habe als Hausfrau gearbeitet und sich stets um ihre Familie als Mutter gekümmert.
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Neben dem Sohn … haben die Kläger zu 1.) und zu 2.) neun weitere Kinder. Im Irak seien noch ihre ältesten Kinder verblieben, ein Sohn und eine Tochter (Zwillinge). Bei ihnen gemeinsam im Haushalt wohnen neben dem Sohn … ihre sieben minderjährigen Kinder. Dabei handelt es sich um die fünf Kläger zu 3.) bis zu 7.) im Alter von 17, 15, 13, 11 und 9 Jahren sowie 2 zwischenzeitlich geborene Kleinkinder. Bezüglich des Asylantrags des 3-jährigen Sohns ... (geb. ... 11.2019) wurde der ablehnende Bescheid vom 24.3.2020 (...) nach verfristet erhobener Klage mit ablehnendem Gerichtsbescheid vom 13. Dezember 2021 (M 4 K 20.31327) bestandskräftig. Bezüglich des Asylantrags des 1-jährigen Sohns Daniel K. A. (geb. ... 10.2021) wurde der ablehnende Bescheid vom 25.2.2022 (...) am 22. März 2022 bestandskräftig.
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Die bezüglich des Sohnes Ilias am 1. Juli 2020 erfolgte Regelüberprüfung kam zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Einleitung eines Widerrufsverfahren (...) nicht vorlägen.
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Mit Bescheid vom 1. April 2019 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und auf subsidiären Schutz (Nr. 2) als unbegründet ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 3) und drohte den Klägern mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen die Abschiebung in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 5). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Der pauschale Verweis auf Diskriminierungen im Herkunftsland sowie als Yezide im Irak Menschen Zweiter Klasse und Übergriffen ausgesetzt zu sein, eröffne nicht den Schutzbereich des § 3 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG). Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Den Klägern drohe bei Rückkehr in den Irak aufgrund der dortigen Situation keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt. Ebenso lägen die Tatbestandsmerkmale von Abschiebungsverboten nicht vor.
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Am 3. April 2019 ließen die Kläger von ihren Bevollmächtigten Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben und beantragte,
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den Bescheid der Beklagten vom 1. April 2019 aufzuheben und sie zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, sowie hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung der Klage machten die Bevollmächtigten im Wesentlichen auf ihre Verfolgung als Yeziden im Irak aufmerksam. Darüber hinaus stünden ihnen Familienflüchtlingsschutz gemäß § 26 AsylG zu aufgrund des dem seinerzeit minderjährigen Sohn und Bruder ... gewährten Flüchtlingsschutz. Hierzu wird auf die bereits mit der Asylantragstellung vom 8. März 2018 vorgetragene Begründung verwiesen, auf die das Bundesamt im Bescheid nicht eingegangen sei. Der Asylantrag sei von den Klägern auch unverzüglich gestellt worden. Die Frist hierzu orientiere sich an der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 123 BGB. Danach liege ein schuldhaftes Zögern nicht vor, wenn ab Kenntnisnahme von der erforderlichen Stellung des Asylantrags beim Bundesamt, dieser unverzüglich innerhalb der Zweiwochenfrist gestellt werde. Kenntnisnahme habe hier frühestens nach Vorsprache bei der Ausländerbehörde am 28. Februar 2018 vorgelegen. Die Kläger seien irrtümlich davon ausgegangen, ihren Familienflüchtlingsschutz bei der zuständigen Ausländerbehörde zu erhalten. Diese habe sie auch nicht darüber informiert, sich ans Bundesamt zu wenden. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die nachziehenden Familienmitglieder von einem anerkannten Flüchtling bereits mit Einreise alle notwendigen behördlichen Schritte kennen und entsprechend unverzüglich handeln würden.
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Die Beklagte hat die Verwaltungsakten auf elektronischem Weg vorgelegt und mit Schriftsatz vom 12. April 2019 beantragt
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die Klage abzuweisen.
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Bezüglich des geltend gemachten Familienflüchtlingsschutz nahm die Beklagte mit Schriftsätzen vom 28. Mai 2019 und 20. Juni 2022 Stellung. Der Asylantrag sei entgegen § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG nicht unverzüglich nach der Einreise der Kläger gestellt worden. Unverzüglichkeit liege regelmäßig nur bei einer Asylantragstellung binnen 2 Wochen vor. Vorliegend seien jedoch zwischen der Einreise der Kläger und der Antragstellung mehr als 3 Monate vergangen. Von einer früheren, konkludenten Antragstellung bei einer Vorsprache bei der Ausländerbehörde könne nicht ausgegangen werden. Die Kläger könnten sich auch nicht auf einen Beratungsfehler oder ein Informationsdefizit seitens der Ausländerbehörde berufen. Die Rechtsträger von Ausländerbehörde und Bundesamt seien schon nicht identisch, sodass sich ein Verhalten der Ausländerbehörde nicht dem Bundesamt zurechnen lassen könne und dieses auch nicht ermittelbar sei. § 26 AsylG sehe - anders als das AsylG an zahlreichen anderen Stellen - zudem gerade keine Hinweispflichten vor. Im Übrigen sei es nicht Aufgabe der Ausländerbehörde, Beteiligte über die Möglichkeit der Stellung von Asylanträgen, insbesondere über das Institut des Familien Asyls zu informieren.
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Mit Beschluss vom 23. Mai 2021 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen, § 76 Abs. 1 AsylG.
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Zur mündlichen Verhandlung am 24. Juni 2022 erschien für die Beklagte niemand. Die Kläger wurden informatorisch gehört. Sie wiederholten und präzisierten ihren bisherigen Vortrag und machten Angaben insbesondere zu der Lebens- und Erwerbssituation ihrer noch im Irak verbliebenen Verwandten. Außerdem äußerten sich die Kläger zu 1) und 2) zu ihrer gesundheitlichen Situation.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegten Behördenakten - auch die der vom Gericht beigezogenen Akten der Kinder …, … und … - und die Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten waren. Denn in den ordnungsgemäßen Ladungen ist auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
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Die Klage ist zulässig und teilweise begründet.
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Die Kläger haben keinen Anspruch darauf, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen oder ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Sie haben allerdings einen Anspruch darauf, zu ihren Gunsten das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
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Ein Anspruch auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz besteht nicht.
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1.1. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
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Die einzelnen Verfolgungshandlungen werden in § 3a AsylG näher umschrieben; die einzelnen Verfolgungsgründe werden in § 3b AsylG einer näheren Begriffsbestimmung zugeführt. Eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann nach § 3c AsylG ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
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Die Furcht vor Verfolgung ist im Sinne des § 3 Absatz 1 AsylG begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 19) drohen. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage der Kläger nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29/17 - juris Rn. 14; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 32; BayVGH, U.v. 14.2.2017 - 21 B 16.31001 - juris Rn. 21).
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Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 22). Bei einer Vorverfolgung gilt kein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Vorverfolgten kommt jedoch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU, der keine nationale Entsprechung hat, zugute (vgl. BVerwG, B.v. 15.8.2017 - 1 B 123.17 u. a. - juris Rn. 8; B.v. 11.7.2017 - 1 B 116.17 u. a. - juris Rn. 8). Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von einer solchen Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Ist der Ausländer hingegen unverfolgt ausgereist, muss er glaubhaft machen, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgung droht, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt (VG Oldenburg, U.v. 21.5.2019 - 15 A 748/19 - juris Rn. 20).
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1.2. Nach diesen Maßstäben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist nicht anzunehmen, dass ihnen bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im dargestellten Sinn droht. Eine individuelle Verfolgung machen die Kläger nicht geltend (1.2.1.). Auf der Grundlage der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegenden aktuellen Erkenntnisse ist auch eine Gruppenverfolgung von Yeziden im Distrikt Telkif nicht beachtlich wahrscheinlich (1.2.2.).
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Aus den Vorträgen der Kläger vor dem Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung ergibt sich keine ihnen gegenüber vorgenommene individualisierte Verfolgungshandlung, die unter Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal i.S.d. §§ 3 Abs. 1, 3 b AsylG erfolgt wäre.
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Soweit auf eine Gruppenverfolgung durch den IS gegenüber den Yeziden verwiesen wird, kommt diese zwar in der Zeit der Besetzung Mossuls in Betracht. Eine besondere Bedrohungslage durch den IS besteht nach der Erkenntnislage des Gerichts im Norden des Irak nicht mehr. Der IS ist lediglich im Sommer 2014 kurzzeitig dorthin vorgedrungen. Allerdings konnte der Vormarsch des IS durch die kurdischen Sicherheitskräfte und Luftangriffe der internationalen Koalition gestoppt und der IS aus den kurdischen Gebieten zurückgedrängt werden. Schließlich konnte der IS in den Jahren 2016 und 2017 im gesamten Land territorial eingedämmt werden; das sogenannte „Kalifat“ des IS im Irak wurde in der Fläche besiegt. Seit Dezember 2017 gilt der IS im Irak als militärisch besiegt. Jedenfalls in der Region Kurdistan-Irak können Kurden unter zumutbaren Bedingungen leben und sind Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Dort befinden sich auch viele Flüchtlingslager (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand Jan. 2021, S. 5, und 15 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iraq: Security and Humanitarian Situation, Version 6.0, 05/2020, S. 37).
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Dabei verkennt das Gericht nicht die sowohl kurz nach der Vertreibung als auch zum jetzigen Zeitpunkt drohende Gefahr von Anschlägen durch vereinzelte Personen, die dem IS zugeordnet werden können. Eine so hohe Gefahr, dass von einer politischen Verfolgung, insbesondere von einer Gruppenverfolgung aller Yeziden im Irak ausgegangen werden könnte, ist aber nicht gegeben (vgl. zuletzt VGH BW, U.v. 7.12.2021 - A 10 S 2189/21 - juris Rn. 20; OVG NW, U.v. 12.10.2021 - 9 A 549/18.A - juris Rn. 37 ff. für den nördlich angrenzenden Distrikt Tel Kaif; U.v. 10.5.2021 - 9 A 570/20.A - juris Rn. 40; NdsOVG, U.v. 22.10.2019 - 9 LB 130/19 - juris Rn. 42; VG Gelsenkirchen, U.v. 4.3.2020 - 15a K 5013/18.A - juris Rn. 27). Der IS hat sein Herrschaftsgebiet in der Provinz Ninive vollständig verloren und hält dort kein Territorium mehr. Wegen ihres yezidischen Glaubens sind die Kläger daher bei einer Rückkehr in ihre insoweit maßgebliche Herkunftsregion im Irak, ein Dorf nahe Alkosch im Distrikt Mossul in der Provinz Ninive, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Gruppenverfolgung ausgesetzt.
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Ebenso ist keine Verfolgung aufgrund ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit zu befürchten (vgl. VGH BW, U.v. 5.3.2020 - A 10 S 1272/17 -, juris Rn. 26ff). Die irakische Verfassung konstituiert eine weitgehend autonom regierte irakische Region Kurdistan als ein nicht unwesentlicher Teil des irakischen Staatsgebiets, das unter der Kontrolle von Kurden sunnitischer Glaubenszugehörigkeit steht. Insofern steht eine Gruppenverfolgung für die Klägerin als Kurdin yezidischer Glaubenszugehörigkeit nicht zu befürchten.
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1.3. Die Kläger können einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch nicht auf Familienasyl nach § 26 Abs. 3 AsylG stützen.
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Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG werden die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn (1.) die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist, (2.) die Familie schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird, (3.) sie vor der Anerkennung des Asylberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben, (4.) die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und (5.) sie die Personensorge für den Asylberechtigten innehaben. Nach § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG gilt Satz 1 Nr. 1 bis 4 für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten entsprechend. Nach § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG sind die Abs. 1 bis 4 auf Familienangehörige im Sinne der Abs. 1 bis 3 von international Schutzberechtigten entsprechend anzuwenden. An die Stelle der Asylberechtigung tritt nach § 26 Abs. 5 Satz 2 AsylG die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz.
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Vorliegend scheitert die Anerkennung des Familienasyls an einem nicht unverzüglich gestellten Antrag der Kläger. Dieser muss gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG unverzüglich nach der Einreise gestellt werden. Die Kläger reisten unstreitig am 29. November 2017 ein und stellten ihren Asylantrag erst nach Ablauf von drei Monaten am 8. März 2018. Auch in Hinblick auf die Umstände des Einzelfalls kann das Gericht den vorliegend verstrichenen Zeitraum nicht mehr als unverzüglich ansehen.
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„Unverzüglich“ bedeutet nach der Legaldefinition in § 121 Abs. 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ohne schuldhaftes Zögern (BVerwG, U.v. 13.5.1997 - 9 C 35.96 - juris Rn. 10). Der Antrag muss danach zwar nicht sofort, aber - unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände der Eltern - alsbald gestellt werden. Dabei ist einerseits den Eltern eine angemessene Überlegungsfrist zuzubilligen, andererseits aber auch das von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG verfolgte Interesse, möglichst rasch Rechtsklarheit zu schaffen, zur Geltung zu bringen. Im Hinblick auf die im gesamten Asylverfahrensrecht verkürzten Fristen erscheint insoweit eine Frist von 2 Wochen in der Regel angemessen und ausreichend. Ein späterer Antrag ist folglich regelmäßig nur dann rechtzeitig, wenn sich aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte (BVerwG, U.v. 13.5.1997 - 9 C 35.96 - juris Rn. 10). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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Die Kläger tragen vor, sie hätten aufgrund Unwissenheit nicht früher den Asylantrag stellen können und erst am 28. Februar 2018 durch Nachfrage bei der Ausländerbehörde von der erforderlichen Antragstellung beim Bundesamt erfahren. Es habe ihnen keiner - speziell nicht die Ausländerbehörde - empfohlen, dass sie einen Asylantrag stellen müssten. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, U.v. 13.5.1997 a.a.O.) ziele für den Beginn der 2- Wochenfrist auf die Kenntnisnahme von den erforderlichen Umständen zur Asylantragstellung ab und diese Frist sei eingehalten worden.
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Eine Aussage, die Frist der unverzüglichen Antragstellung begönne erst ab der Kenntnis des jeweiligen Antragstellers von den Umständen, lässt sich der Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung (BVerwG, U.v. 13.5.1997 a.a.O.) nicht entnehmen. Hierin heißt es vielmehr, dass von einem gewissenhaften Asylsuchenden, dessen Aufenthalt im Bundesgebiet vorläufig und nur zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet sei, zu erwarten sei, dass er sich nach der Geburt eines Kindes über dessen Rechtsstellung, ggf. durch Einholung von Rechtsrat Klarheit verschaffe und den erforderlichen Antrag stelle (BVerwG, U.v. 13.5.1997 a.a.O.). Übertragen auf den Fall der Einreise haben sich die Kläger erst im vierten Monat nach ihrer Einreise Klarheit über ihre rechtliche Situation verschafft. Tragfähige Gründe, weshalb sie nicht schon früher einen Rechtsanwalt oder sprachliche Unterstützung eingeholt haben, wurden nicht vorgetragen. Auf eine Kenntnisnahme der erforderlichen Umstände kommt es nicht an (OVG Lüneburg, B.v. 22.3.2022 - 9 LA 242/21 - juris Rn. 13; B.v. 11.5.2021 - 9 LA 124/20 - juris Rn. 12).
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§ 26 AsylG sieht auch keine diesbezüglichen Hinweis- und Belehrungspflichten vor. Die Ausländerbehörde war nicht verpflichtet, die Kläger auf mögliche Rechtsverluste aufmerksam zu machen. Anders als in § 26 AslyG normiert das Asylgesetz an anderen Stellen Beratungs- und Informationspflichten (z.B. in §§ 10 Abs. 7, 14 Abs. 1 Satz 3, 33 Abs. 4 AsylG), sodass nicht anzunehmen ist, der Gesetzgeber hätte im Zusammenhang mit dem internationalen Schutz als Familienangehöriger ebenfalls eine Informationspflicht vorgesehen (OVG Lüneburg, B.v. 22.3.2022 - 9 LA 242/21 - juris Rn. 13; B.v. 11.5.2021 - 9 LA 124/20 - juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 17.1.2019 - 20 ZB 18.32762 - juris Rn. 8 f.).
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2. Auch das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Zuerkennung des subsidiären Schutzes hat die Beklagte zutreffend verneint.
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2.1 Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Es darf auch keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen. Voraussetzung ist nach § 4 Abs. 3 AsylG zudem, dass der Schaden von einem Akteur i.S.v. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG auszugehen droht. Hinsichtlich Wahrscheinlichkeitsmaßstab und Beweiserleichterung im Falle einer Vorverfolgung gelten die Ausführungen zu § 3 AsylG entsprechend (vgl. Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 53).
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2.2 Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus erfüllen die Kläger nicht.
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2.2.1 Sie können keinen Sachverhalt vorgetragen, wonach ihnen im Heimatland die Verhängung oder die Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) droht.
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2.2.2 Ebenso fehlen konkrete Anhaltspunkte für das Drohen eines ernsthaften Schadens nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Die Formulierung „Folter oder unmenschli-che oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ in § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wird weder im Asylgesetz noch in der dadurch umgesetzten RL 2011/95/EU definiert. Bei der Auslegung der Norm, die die Vorgaben des - an Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) orientierten - Art. 15 Buchst. b der RL 2011/95/EU in das nationale Recht umsetzt, ist die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136/19 - juris Rn. 59 f.; OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 137 ff.). Nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK ist unter einer unmenschlichen Behandlung die vorsätzliche Zufügung entweder körperlicher Verletzungen oder intensiven physischen oder psychischen Leids zu verstehen. Erniedrigend ist eine Behandlung, wenn sie geeignet ist, das Opfer zu demütigen, zu erniedrigen oder zu entwürdigen (vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 142).
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(1) Die Kläger haben - aus den bereits genannten Erwägungen - keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen bei einer Rückkehr in den Irak wegen der geltend gemachten allgemeinen Gefährdung als Yeziden Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
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(2) Auch die schlechte humanitäre Lage im Irak rechtfertigt nicht die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Denn diese ist nicht auf einen Akteur i.S.v. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c AsylG zurückzuführen. Es ist den Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen, dass der irakische Staat oder die autonome Region Kurdistan-Irak als staatliche Akteure ein Interesse an einer Verschärfung oder Aufrechterhaltung der schlechten humanitären Lage zeigen und diese auf ihre Handlungen oder Unterlassungen zurückzuführen ist (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136/19 - juris Rn. 68 ff. m.w.N.). Die in weiten Teilen des Iraks bestehende allgemein schwierige Lage hat vielfältige Ursachen, wird aber nicht zielgerichtet vom irakischen Staat, von herrschenden Parteien oder Organisationen oder von nichtstaatlichen Dritten herbeigeführt.
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Schlechte humanitäre Bedingungen, die nicht auf direkte oder indirekte Handlungen oder Unterlassungen staatlicher oder nichtstaatlicher Akteure zurückzuführen sind, können daher allenfalls nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ein nationales Abschiebungsverbot nach sich ziehen (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136/19 - juris Rn. 64 ff.).
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(3) Den Klägern droht auch wegen der derzeitigen allgemeinen Sicherheitslage im Irak keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Eine solche Gefahr kann sich grundsätzlich auch aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem. Allerdings begründet nicht schon jede allgemeine Situation der Gewalt eine solche Gefahr. Ein unionsrechtliches Abschiebungsverbot nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist nur in äußerst extremen Fällen anzunehmen; es setzt voraus, dass die Situation allgemeiner Gewalt so intensiv ist, dass die betreffende Person dieser Gewalt bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich ausgesetzt ist. Erforderlich ist danach eine Gefahrverdichtung, die zu einer individuellen Betroffenheit des Ausländers führt (vgl. OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 146 ff.). Eine solche allgemeine Situation der Gewalt, die zur Folge hätte, dass jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der Provinz Ninive der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre, ist hier jedoch nicht anzunehmen.
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2.2.3 Ferner sind die Kläger auch nicht subsidiär schutzberechtigt i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Ihnen droht keine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in ihrer Heimatregion. Das Gericht kann offenlassen, ob in der Provinz Ninive ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht. Jedenfalls erreicht der Grad an Gewalt kein so hohes Niveau, dass praktisch jede Zivilperson bei einer Rückkehr in die betreffende Region und allein aufgrund ihrer Anwesenheit dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Gefahr liefe, einen erheblichen Schaden zu erleiden. Nach weitreichender Befreiung der Provinz Ninive von der Terrormiliz IS und weitreichender Befriedung des Gebiets besteht die für die Annahme eines subsidiären Schutzstatus erforderliche Gefahr eines ernsthaften Schadens in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG jedenfalls nicht mehr fort (BayVGH, B.v. 16.10.2019 - 5 ZB 19.33239 - juris Rn. 8 f.; OVG NRW, B.v. 5.6.202 - 9 A 2885/18.A - juris Rn. 27; VG Augsburg, U.v. 22.10.2018 - Au 5 K 18.31266 - juris Rn. 60 f.). Gefahrerhöhende Umstände in der Person der Kläger, nach denen diese spezifisch betroffen wären (vgl. zu dieser Anforderung OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 133), sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
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3. Die Kläger haben allerdings einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
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3.1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 11.11.1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die EMRK lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse). In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage. Wegen des absoluten Charakters des garantierten Rechts ist Art. 3 EMRK nicht nur auf eine von staatlichen Behörden ausgehende Gefahr, sondern auch dann anwendbar, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen herrührt, die keine staatlichen Organe sind, jedenfalls dann, wenn die Behörden des Empfangsstaates nicht in der Lage sind, der Bedrohung durch die Gewährung angemessenen Schutzes vorzubeugen (NdsOVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 66 und 105). Für die Beurteilung, ob eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht kommt, ist auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob entsprechende Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 118; OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 175).
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Allerdings können eine allgemeine Situation der Gewalt oder schlechte humanitäre Verhältnisse im Abschiebungszielstaat nur dann eine Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK darstellen, wenn ganz außerordentliche Umstände vorliegen. Maßgeblich für das Beweismaß zu Art. 3 EMRK ist der Begriff des „real risk“, der dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 106; VGH BW, U.v. 24.1.2018 - A 11 S 1265.17 - juris Rn. 149). Für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, ist auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 118; OVG NW, U.v. 28.8.2019 - 9 A 4590/18.A - juris Rn. 175).
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3.2. Nach diesen Maßstäben besteht zwar nicht grundsätzlich (vgl. 3.2.1.), aber dennoch im Einzelfall der Kläger (vgl. 3.2.2.) die Gefahr, im Irak einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
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3.2.1 Die humanitären Verhältnisse in der Region Kurdistan-Irak begründen nicht generell einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Dies gilt allgemein auch für yezidische Familien mit minderjährigen Kindern (vgl. Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 146 ff.).
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Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Lebensbedingungen in Kurdistan-Irak allgemein schwierig sind. Sie rechtfertigen jedoch nicht für jeden aus dem Ausland in den Irak heimkehrenden Asylbewerber die Annahme eines ganz außergewöhnlichen Falles mit der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts wegen der dortigen humanitären Bedingungen. Vielmehr bedarf es im jeweiligen Einzelfall einer umfassenden Abwägung der die Lebensbedingungen erschwerenden oder begünstigenden Faktoren.
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Die wirtschaftliche Situation in der Region Kurdistan-Irak ist derzeit geprägt von einer Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der Aufnahme einer großen Anzahl an Flüchtlingen. Die dortige Wohnsituation ist äußerst angespannt; es besteht die Möglichkeit der Unterkunft in einer Privatwohnung, einer Flüchtlingsunterkunft oder in einer informellen Siedlung, wobei Yeziden im Regelfall in Flüchtlingslagern untergebracht werden. Auch die Situation auf dem Arbeitsmarkt in Kurdistan-Irak ist äußerst angespannt, wobei Faktoren hierfür sind der teure Krieg gegen den IS, der Verlust von Einnahmen aus der Ölförderung in Kirkuk und die hohen Flüchtlingszahlen. Die Tatsache, dass zahlreiche Flüchtlinge und Binnenvertriebene ohne bzw. mit nur geringen Qualifikationen auf den Arbeitsmarkt drängen, bedeutet einen schlechteren Zugang hierzu für bereits dort lebende geringqualifizierte irakisch-kurdische Bürger. Ein wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche Arbeitsplatzsuche sind Kontakte. Die medizinische Versorgungslage in Kurdistan-Irak ist schwierig, auch im Gesundheitssystem macht sich der rasante Anstieg der Flüchtlingszahlen bemerkbar. Ebenso leidet der Bildungssektor unter den Herausforderungen, die mit dem Flüchtlingsstrom einhergehen (vgl. zum Ganzen die detaillierte Darstellung des Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 146 ff.).
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3.2.2. In Abweichung von den dargestellten allgemeinen Grundsätzen vertritt das Gericht im Rahmen der gebotenen Einzelfallbetrachtung die Auffassung, dass im Fall der Abschiebung der Kläger in die Region Ninive sie solchen Schwierigkeiten bei der Existenzsicherung ausgesetzt wäre, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein kontinuierlicher Prozess in Gang käme, in dem sie zeitnah verelenden würde.
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Bei den Klägern handelt es sich um ein Ehepaar im mittleren Lebensabschnitt und ihre fünf Kinder, zwei Töchter im Alter von 17 bis 9 Jahren. Die Rückkehrprognose für die Familie, in die auch die 2 weiteren Kleinkinder im Alter von 3 Jahren und 1 Jahr einzubeziehen sind, ergibt, dass diese für absehbare Zeit nach der Rückkehr (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 - 1 C 10.21 - Volltext noch n.v., Pressemitteilung Nr. 25/2022 vom 21.4.2022) nicht in der Lage sein wird, in Kurdistan-Irak ihre elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene auf legalem Weg zu befriedigen. Zwar handelt es sich bei dem Kläger zu 1.) um einen erwachsenen und grundsätzlich arbeitsfähigen Mann, der wohl seiner nachgewiesenen Diabeteserkrankung und weiterer vorgetragener Erkrankungen in der Lage wäre, den Lebensunterhalt für sich selbst in der autonomen Region Kurdistan-Irak zu erwirtschaften. Bei der maßgebenden Rückkehrprognose im Familienverbund ist jedoch davon auszugehen, dass der Kläger daneben auch den Bedarf für seine insgesamt 9-köpfige Familie (7 Kinder zwischen 17 und 1) sicherstellen muss, was ihm voraussichtlich nicht gelingen wird. Der Kläger hat die Schule nur bis zu 5. Klasse besucht, keinen Beruf erlernt und im Irak als Verkäufer gearbeitet. Im Bundesgebiet besuchte er einen Sprachkurs, geht aber keiner Beschäftigung nach. Daher ist davon auszugehen, dass er im Irak Schwierigkeiten haben wird, erneut eine Anstellung zu finden, insbesondere eine mit einer Verdienstmöglichkeit für den Unterhalt der gesamten Familie. Abgesehen von seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung gilt dies insbesondere deshalb, weil er im Hinblick auf seine yezidische Religionszugehörigkeit als nicht „halal“ und damit als „unrein“ gilt (Nds. OVG, U.v. 24.9.2019 - 9 LB 136.19 - juris Rn. 225). Die Klägerin zu 2.) ist Analphabetin, hat nie einen Beruf erlernt und sich zeitlebens um ihre Kinder gekümmert. Abgesehen davon, dass ihre Kinder nach wie vor in betreuungsbedürftigem Alter sind, ist damit nicht zu erwarten, dass sie imstande sein wird, im Irak ein Einkommen zu erzielen. Die noch im Irak verbliebenen Familienangehörige, u.a. die 2 ältesten Kinder, Eltern und Geschwister der Kläger zu 1.) und zu 2.) leben nach glaubhaftem Vortrag selbst in Verhältnissen, wonach sie für sich selbst gerade so das Lebensminimum erwirtschaften können, nicht aber für eine zusätzliche Familie mit 7 Kindern, darunter 2 Kleinkinder. Daher werden sie nicht auf nennenswerte Unterstützung seitens ihrer Familie zurückgreifen können. Sonstige Einkünfte oder größeres Vermögen im Irak haben die Kläger nicht. Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Kläger aufgrund ihrer offensichtlichen yezidischen Glaubenszugehörigkeit im Irak einem ausgrenzenden und herabwürdigenden Verhalten ausgesetzt sind und es ihnen damit noch schwerer fallen dürfte, sich in Kurdistan-Irak eine Lebensgrundlage zu erwirtschaften. Diese Situation besteht überdies landesweit.
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4. Im Hinblick auf den einheitlichen Streitgegenstand des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG bedurfte es keiner Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mehr.
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5. Soweit in Nr. 4 des angefochtenen Bescheids die Abschiebung in den Irak angedroht und in Nr. 5 ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verfügt wurde, war der Bescheid ebenfalls aufzuheben.
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Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und entspricht dem Verhältnis des jeweiligen Obsiegens bzw. Unterliegens. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylVfG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.