Titel:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege, Kapazitätserschöpfung
Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 24 Abs. 2
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege, Kapazitätserschöpfung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22907
Tenor
I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege ab dem 1. September 2022 in einem Umfang von 21 Wochenstunden nachzuweisen.
Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.
II. Von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt der Antragsteller 1/3, der Antragsgegner 2/3.
Gründe
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Der am ... August 2021 geborene Antragsteller begehrt den Nachweis eines Betreuungsplatzes.
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Die Eltern des Antragstellers beantragten bei der Stadt F., eingegangen am 8. März 2022, für den Antragsteller einen Betreuungsplatz mit dem zeitlichen Umfang Montag, Dienstag, Donnerstag von 8:00 bis 12:00 Uhr sowie Mittwoch von 8:00 bis 17:00 Uhr.
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Mit Schreiben vom 12. Mai 2022 teilte die Stadt F. den Eltern des Antragstellers mit, dass aufgrund des Personalmangels in den Kindertageseinrichtungen keine Platzzusage in den von den Eltern gewünschten Einrichtungen gegeben werden könne; auch alle anderen Krippenplätze im Stadtgebietes seien vergeben. Der Antragsteller werde weiterhin auf der Warteliste geführt.
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Die Eltern des Antragstellers legten mit Schreiben vom 16. Mai 2022 gegen dieses Schreiben „Widerspruch“ sowohl bei der Stadt F. als auch bei dem Antragsgegner ein.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass man zwingend auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder der Kindertagespflege angewiesen sei. Der Vater des Antragstellers sei Vollzeit berufstätig. Die Mutter des Antragstellers sei selbständig; Nachweise hierfür lägen vor. Im Fall einer Absage würden definitiv Verdienstausfälle entstehen. Darüber hinaus seien auch keine Familienangehörigen in der Umgebung, die eventuell die Betreuung übernehmen könnten. Die Betreuung sei dringend nötig.
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Der Antragsgegner erwiderte hierauf mit Schreiben vom 20. Mai 2022, dass der Widerspruch bei der Ausgangsbehörde eingelegt werden müsse. Man verstehe das Anliegen um die Suche nach einem Betreuungsplatz. Es erfolgte ein Hinweis auf einen Tageselternservice, wohin man sich wenden könne. Zudem wurde zugesagt, die Daten des Antragstellers zu übernehmen und in die Liste der Familien aufzunehmen, die noch keinen Betreuungsplatz erhalten haben. Man werde versuchen, die Eltern zu unterstützen, müsse jedoch darauf hinweisen, dass aufgrund der schlechten Personalsituation in vielen Einrichtungen des Landkreises eine Platzvergabe schwierig werden werde.
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Der Bevollmächtigte des Antragstellers beantragte am 10. August 2022 beim Verwaltungsgericht München:
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Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller bis zur Entscheidung in der Hauptsache, ab sofort für die Wochentage Montag bis Dienstag einen Betreuungsplatz von jeweils 9 Stunden in der Zeit von 8:00 Uhr bis 17:00 Uhr, sowie von Mittwoch bis Freitag von jeweils 4 Stunden in der Zeit von 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr zur Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege nachzuweisen, der unter Inanspruchnahme von öffentlichen Verkehrsmitteln in nicht mehr als 30 Minuten von der Wohnung der Antragsteller erreichbar ist.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII einen Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege habe. Die benötigte Betreuungszeit sei ein 30-Stunden Platz in einer Tageseinrichtung. Von den sorgeberechtigten Eltern arbeitet die Mutter des Antragstellers als selbstständige Dozentin für Französisch als Fremdsprache. Aktuell befinde sich die Mutter noch in Elternzeit mit dem Modell Elterngeld+, sodass sie bei entsprechender Betreuung des Antragstellers mehr Lehraufträge annehmen könne und wolle. Der Vater des Antragstellers arbeite 40 Stunden angestellt. Er benötige auf dem Weg zur Arbeit ca. 60 Minuten. Die Mutter benötige mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ca. 90 Minuten zur Arbeit. Beide Eltern würden das Bringen und Holen von der Tageseinrichtung übernehmen, es stehe ein Auto zur Verfügung. Aktuell werde der Antragsteller noch durch die Mutter betreut, wobei diese Betreuung aufgrund der Selbstständigkeit der Mutter kaum länger durchführbar sei und dringend, allerspätestens ab Oktober zu Beginn des Wintersemesters, Bedarf für einen Platz bestehe.
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Der Antragsgegner beantragte mit Schriftsatz vom 16. August 2022, den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass zwar grundsätzlich der Anspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII bestehe, jedoch durch den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz keine Nachteile von dem Antragsteller abgewendet werden könnten, da der Antragsgegner de facto nicht in der Lage sei, einen Betreuungsplatz für den Antragsteller zuzusagen. Der Erlass einer Regelungsanordnung sei daher im vorliegenden Fall nicht zielführend, da eine faktische Unmöglichkeit seitens des Antragsgegners bestehe. Dem Antragsgegner sei bewusst, dass er eine umfassende Verpflichtung habe, Betreuungsplätze zu verschaffen und der Grund des Kapazitätsengpasses diese Verpflichtung nicht einschränke. Er versichere auch künftig alles Mögliche zu tun, um dem Antragsteller einen Betreuungsplatz zu verschaffen; die aktive Suche seitens des Antragsgegners werde fortgeführt, bis ein Platz gefunden sei. Aufgrund des erheblichen Fachkräftemangels sei es dem Antragsgegner derzeit jedoch nicht möglich, das Recht des Antragstellers (vorläufig) zu sichern.
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Mit Schriftsatz vom 22. August 2022 teilte der Bevollmächtigte des Antragstellers auf telefonische Bitte des Gerichts ergänzend mit, dass ursprünglich ein Bedarf in Höhe von 21 Stunden beantragt worden sei. Aufgrund der Selbstständigkeit der Mutter des Antragstellers habe sich der Bedarf jedoch im Laufe des gesamten Anmeldeprozesses erhöht, sodass im Antrag ein 30-Stunden Platz beantragt worden sei.
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Durch Beschluss der Kammer vom 23. August 2022 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte verwiesen.
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Der Antrag hat überwiegend Erfolg.
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Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
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Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
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Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der vom Antragsteller begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber in zeitlicher Hinsicht vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifizierte Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nach spricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2016 - 12 CE 16.66 - juris Rn. 4).
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Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller überwiegend sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Nachweis eines bedarfsgerechten Platzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege ab dem 1. September 2022 gegen den Antragsgegner im Umfang von 21 Wochenstunden ausreichend glaubhaft gemacht.
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Gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Voraussetzung der Zuweisung eines Betreuungsplatzes ist gemäß § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG, dass die Erziehungsberechtigten die Gemeinde und bei einer gewünschten Betreuung durch eine Tagespflegeperson den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe mindestens drei Monate vor der geplanten Inanspruchnahme in Kenntnis setzen.
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Diese Anspruchsvoraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
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Der Antragsteller hat zum 9. August 2022 das 1. Lebensjahr vollendet. Dementsprechend hat er spätestens ab 1. September 2022 einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz. Der Bevollmächtigte des Antragstellers beantragte zwar im Rahmen der Antragsschrift eine Verpflichtung „ab sofort“, allerdings erfolgten keine Ausführungen zu dem ursprünglich beantragten Beginn des Betreuungsverhältnisses; vielmehr wird lediglich ausgeführt, dass allerspätestens ab Oktober aufgrund der Berufstätigkeit der Mutter des Antragstellers ein dringender Betreuungsbedarf bestehe. Das Gericht geht daher davon aus, dass mit dem ursprünglichen Antrag vom März 2022 der Nachweis eines Betreuungsplatzes zum Kindergartenjahr 2022/23 - und damit in Bayern ab dem 1. September 2022 - beantragt wurde, sodass im Tenor auch erst ab diesem Zeitpunkt eine entsprechende Verpflichtung des Antragsgegners erfolgte.
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Die Bedarfsmeldung für einen Betreuungsplatzlatz erfolgte spätestens im März 2022 bzw. Mai 2022 auch gegenüber dem Antragsgegner rechtzeitig drei Monate vor dem 1. September 2022. Da der Nachweis eines Betreuungsplatzes auch einige Zeit vor der konkreten Inanspruchnahme zu erfolgen hat, war auch die Antragstellung bei Gericht am 10. August 2022 - und damit vor der gewünschten Inanspruchnahme des Betreuungsplatzes - gerechtfertigt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 28.5.2019 - OVG 6 S 25.19 - juris Rn. 4; VG München, B.v. 6.8.2019 - M 18 E 19.3248 - juris Rn. 23).
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Schließlich wurde spätestens in dem Schreiben der Eltern des Antragstellers vom 16. Mai 2022 auch eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass der Anspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII auf Nachweis eines geeigneten Betreuungsplatzes geltend gemacht wird und keine Anmeldung ausschließlich für eine oder mehrere konkrete Einrichtungen erfolgt (vgl. BayVGH, U.v. 20.7.2016 - 12 BV 15.719 - juris Rn. 25).
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Allerdings wurde der Anspruch gegenüber dem Antragsgegner ausschließlich im Umfang von 21 Wochenstunden geltend gemacht. Soweit der Bevollmächtigte des Antragstellers hierzu ausführt, dass sich der Bedarf im Lauf des Anmeldeprozesses auf 30 Wochenstunden erhöht habe, ist diese Erhöhung zunächst gegenüber dem Antragsgegner geltend zu machen und kann nicht unter Umgehung des Verwaltungsverfahrens unmittelbar vor Gericht beansprucht werden. Der Antrag war daher hinsichtlich des beantragten Betreuungsumfangs von weiteren neun Stunden abzuweisen.
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Dem Anspruch des Antragstellers aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII kann schließlich nicht entgegengehalten werden, dass der Antragsgegner dem Antragsteller zum 1. September 2022 nach seinen Angaben keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellen kann. Denn der Anspruch steht nicht unter einem Kapazitätsvorbehalt und wird daher durch die vom Antragsgegner behauptete Kapazitätserschöpfung nicht berührt. Der Anspruch auf Förderung in einer Einrichtung oder in Kindertagespflege besteht nämlich nicht nur im Rahmen vorhandener Kapazitäten, sondern verpflichtet den Jugendhilfeträger dazu, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte bereitzustellen. Es handelt sich insoweit um eine unbedingte Bereitstellungs- bzw. Gewährleistungspflicht, der der Jugendhilfeträger nicht mit dem Einwand der Unmöglichkeit begegnen kann, weil der Anspruch nicht auf den vorhandenen Vorrat an Plätzen begrenzt, sondern - sofern diese Plätze nicht ausreichend sind - auf die Schaffung neuer Plätze, also auf die Erweiterung der vorhandenen Kapazitäten gerichtet ist, bis ein dem Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot besteht. Ein Kapazitätsvorbehalt würde dagegen den vom Gesetzgeber ausdrücklich als zwingenden Rechtsanspruch ausgestalteten § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII leerlaufen lassen, da die Jugendhilfeträger sich dann durch den bloßen Hinweis auf ausgeschöpfte Kapazitäten ihrer gesetzlichen Verpflichtung entziehen könnten. Fachkräftemangel, räumliche Probleme oder andere Schwierigkeiten entbinden den Jugendhilfeträger daher nicht von dieser unbedingten gesetzlichen Verpflichtung (stRspr; vgl. zuletzt: NdsOVG, B.v. 15.12.2021 - 10 ME 170/21 - juris Rn. 8 m.w.N.).
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Der Antragsteller hat zudem auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Dem Argument des Antragsgegners, dass aufgrund seiner tatsächlichen Unmöglichkeit der Leistung kein Anordnungsgrund vorliege, kann nicht gefolgt werden. Es liegt kein Fall der objektiven Unmöglichkeit vor, der die Verpflichtung aus § 24 Abs. 2 SGB VIII entfallen ließe (OVG RhPf, B.v. 16.4.2020 - 7 B 10222/20 - juris Rn. 5 unter Verweis auf BVerfG, U.v. 21.7.2015 - 1 BvF 2/13). Der Gesetzgeber hat den Rechtsanspruch vorbehaltlos ausgestaltet und damit den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe die Pflicht auferlegt, ein bedarfsgerechtes Angebot vorzuhalten (sieh hierzu bereits oben). Darüber hinaus ist der Antragsgegner insoweit bereits seiner Darlegungsverpflichtung hinsichtlich seiner Bemühungen um die Bereitstellung ausreichender Betreuungsplätze nicht im Ansatz nachgekommen (vgl. VGH BW, B.v. 13.12.2021 - 12 S 3227/21 - juris Rn. 17 m.w.N.).
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Unabhängig von der Frage, ob bereits in der irreversiblen Nichterfüllung eines unaufschiebbaren Anspruchs ein Anordnungsgrund zu sehen ist oder darüber hinaus im Rahmen der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ein Nachweis der fehlenden Betreuungsmöglichkeit zu erfolgen hat (vgl. zum Streitstand: VG München, B.v. 6.4.2021 - M 18 E 21.1289 - juris Rn. 19 m.w.N.; BeckOK VwGO/Kuhla, 62. Ed. 1.7.2022, VwGO § 123 Rn. 135.46), haben die Eltern des Antragstellers hinreichend glaubhaft gemacht, auf einen Betreuungsplatz zumindest im Umfang von 21 Wochenstunden angewiesen zu sein. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist nicht zuzumuten. Zur Vermeidung weiterer Nachteile für den Antragsteller und seiner Eltern ist eine Vorwegnahme der Hauptsache daher angezeigt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.