Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 20.07.2022 – W 3 S 22.1108
Titel:

Vorläufiger Rechtsschutz nach einer Inobhutnahme

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1
BGB § 1631, § 1632, § 1666
SGG § 51
GG Art. 2 Abs. 2, Art. 6 Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet, wenn Eltern sich gegen die Inobhutnahme ihres Kindes wenden. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. In einem Verfahren auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung prüft das Gericht, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind, und trifft im Übrigen eine eigene Abwägungsentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Rahmen der Abwägung ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des antragstellenden Elternteils an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts oder von dessen Rechtswidrigkeit und der Rechtsverletzung des antragstellenden Elternteils auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen. Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sozialrecht, Einstweiliger Rechtsschutz, Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage, Inobhutnahme, Aufenthalt des Kindes in Pflegefamilie, Rücknahme des Antrags auf Hilfe zur Erziehung durch die sorgeberechtigten Eltern, Inobhutnahme des Kindes zum Zweck des Verbleibs in der Pflegefamilie, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Antrag der Eltern auf Herausgabe des Kindes aus der Pflegefamilie, Dringende Gefahr für das Wohl des Kindes, Bindungsabbruch, Umgangskontakte, fehlgeschlagen, Erforderlichkeit der Inobhutnahme, Milderes Mittel, nicht vorhanden, Abwägungsentscheidung des Gerichts, Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage, Abwägung, Erfolgsaussicht, summarisch, Interessenabwägung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22881

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller sind die Eltern ihrer am ... 2020 geborenen Tochter M. (im Folgenden: Das Kind). Die Parteien streiten um die Inobhutnahme des Kindes durch die Antragsgegnerin.
2
Die russischsprachigen Antragsteller sind für ihr Kind gemeinsam sorgeberechtigt. Sie leben getrennt. Die Antragsteller wurden über einen längeren Zeitraum regelmäßig von einer ehrenamtlichen Helferin der Caritas (Migrationsberatung) bei Haushaltsarbeiten, bei der Erziehung und zum Teil bei Behördenangelegenheiten unterstützt, dies im Einvernehmen mit dem Jugendamt.
3
Zunächst bewohnten die Antragsteller mit ihrem Kind eine gemeinsame Wohnung. Aufgrund eines Vorfalls, bei dem der Antragsteller zu 2) gegenüber der Antragstellerin zu 1) gewalttätig geworden war, begab sich die Antragstellerin vom 20. März 2020 bis zum 26. März 2020 in ein Frauenhaus und gab in diesem Zusammenhang an, sie lasse das Kind nie allein beim Antragsteller zu 2), weil dieser unsachgemäß mit ihm umgehe. Zum Beispiel habe er es bei kalten Temperaturen einfach so auf den Balkon gestellt. Die Antragsteller lebten zunächst weiterhin in der gemeinsamen Wohnung.
4
Im Dezember 2020 zog die Antragstellerin zu 1) gemeinsam mit dem Kind zu einem anderenorts wohnenden Freund, um mit diesem zusammen zu leben. Nach kurzer Zeit kehrte sie wieder nach B... N.  in die vorherige Wohnung zurück.
5
Mit Beschluss vom 29. März 2021 wies das Amtsgericht - Familiengericht - B. N. im Verfahren 001 F … der Antragstellerin zu 1) die gemeinsam genutzte Wohnung gemäß § 2 Gewaltschutzgesetz (GewSchG) zur alleinigen Benutzung zu, dies befristet bis zum 29. September 2021. Zugleich wurde dem Antragsteller zu 2) gemäß § 1 GewSchG jegliche Kontaktaufnahme zur Antragstellerin zu 1) untersagt, befristet bis zum 29. September 2021. Dem lag ein Vorfall am 26. März 2021 zugrunde, bei welchem der Antragsteller zu 2) gegenüber der Antragstellerin zu 1) und dem Kind gegenüber gewalttätig geworden war, dies wohl unter erheblichem Alkoholeinfluss.
6
Am 15. Juli 2021 teilte die ehrenamtliche Helferin der Caritas der Antragsgegnerin mit, die Antragstellerin zu 1) habe Bedarf für Hilfe zur Erziehung. Das Kind mache gegenüber der Antragstellerin zu 1), was es wolle und höre nicht auf sie.
7
Aufgrund eines Hinweises der ehrenamtlichen Helferin der Caritas fanden Mitarbeiter der Polizeiinspektion B. N. am 31. Juli 2021 die Antragstellerin zu 1) mit etwa 1,9 Promille Alkohol im Blut stark alkoholisiert in ihrer Wohnung vor. Das Kind war in einem versperrten, komplett verdunkelten Zimmer untergebracht, es wies eine größere Schürfwunde auf und von ihm ging starker Kotgeruch aus. Die Antragstellerin zu 1) gab in diesem Zusammenhang an, mit der Situation überfordert zu sein, da sie ihre Alkoholsucht nicht in den Griff bekomme. Daraufhin nahm das Jugendamt der Antragsgegnerin das Kind am 31. Juli 2021 in Obhut und brachte es in der Bereitschaftspflegefamilie M. unter. Aufgrund eines Widerspruchs des Antragstellers zu 2) erließ die Antragsgegnerin am 6. August 2021 einen Bescheid, mit welchem sie die am 31. Juli 2021 mündlich ausgesprochene Inobhutnahme schriftlich bestätigte und die sofortige Vollziehung des Bescheides anordnete. Zugleich rief die Antragsgegnerin gemäß § 8a Abs. 2 SGB VIII, § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII das Amtsgericht - Familiengericht - B. N. an. Am 9. August 2021 stimmte der Antragsteller zu 2) der Inobhutnahme zu.
8
Am 11. August 2021 beantragten beide Antragsteller Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege für ihr Kind.
9
Mit Bescheid vom 2. September 2021 stellte die Antragsgegnerin die Beendigung der Inobhutnahme am 11. August 2021 fest und gewährten den Antragstellern für ihr Kind H. zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege in der Bereitschaftspflegefamilie M.
10
Im Hilfeplan der Antragsgegnerin vom 31. August 2021 wird als Zielsetzung der Hilfe zur Erziehung neben der vollumfänglichen Versorgung des Kindes und der Schaffung von Strukturen für dessen Alltag auch die Aufrechterhaltung von regelmäßigen Umgängen des Kindes mit der Antragstellerin zu 1) festgehalten. Perspektivisch solle auf die Rückkehr des Kindes hingewirkt werden. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, das Kind benötige eine zuverlässige Betreuung und Versorgung im Alltag und bleibe daher bis zur Stabilisierung der Eltern vorläufig in einer Pflegefamilie.
11
Mit Bescheid vom 4. November 2021 beendete die Antragsgegnerin die Hilfe zur Erziehung in der Bereitschaftspflegefamilie M. und gewährte den Antragstellern für ihr Kind H. zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege in der Pflegefamilie R.
12
Der Hilfeplan vom 14. Februar 2022 führt die Ziele und Perspektiven des Planes vom 31. August 2021 fort. Hinsichtlich der Entwicklung des Kindes hebt er auf die Normalisierung des Essverhaltens des Kindes ab sowie auf die Aufholung von Defiziten in der sprachlichen und motorischen Entwicklung. Problematisch sei in Bezug auf die Umgänge die Sprache. Das Kind verstehe die russische Sprache nicht, die Antragsteller nicht die deutsche. Es sei bei dem Kind zu Überforderungssituationen gekommen.
13
Im Rahmen eines zweimonatigen stationären Therapieaufenthalts der Antragstellerin zu 1) erfolgten keine Umgangskontakte mit dem Kind. In einem gemeinsamen Gespräch am 1. März 2022 legte die Antragsgegnerin gemeinsam mit den Antragstellern die Umgänge mit dem Kind mit dem Ziel einer kindeswohlentsprechenden Rückführung fest. Die Umgangsvereinbarung wurde am 12. April 2022 in einem weiteren Gespräch überprüft, dies im Hinblick auf Rückmeldungen der Pflegeeltern zu massiven Auffälligkeiten des Kindes nach Umgängen mit dem Antragsteller zu 2), welcher mit dem Kind übergriffig umgehe, und zu Problemen im Rahmen des Umgangs des Kindes mit der Antragstellerin zu 1). Aufgrund der weiteren Zunahme massiver Auffälligkeiten beim Kind nach den Umgängen mit den Antragstellern wurde in einem weiteren Gespräch am 5. Mai 2022 die Zielsetzung für die Umgänge dahingehend verändert, mehr Ruhe für das Kind zu schaffen. Die Antragsgegnerin schlug den Antragstellern vor, die Rückführung zunächst zurückzustellen und einen zweiwöchigen Umgang durchzuführen.
14
Mit Schreiben vom 24. Mai 2022 beteiligte das Amtsgericht - Familiengericht - B. N. das Jugendamt der Antragsgegnerin gemäß § 162 FamFG, § 50 SGB VIII im Verfahren der Antragsteller gegen die Pflegefamilie R. mit dem Ziel der Herausgabe des Kindes einschließlich eines Berichts über die persönlichen Verhältnisse (Az.: 001 F …*). In der zugleich der Antragsgegnerin übermittelten Antragsschrift vom 16. Mai 2022 vertreten die Antragsteller gegenüber der Pflegefamilie die Auffassung, die Antragstellerin habe eine Alkoholentgiftung vorgenommen und sich in eine medizinische Rehabilitationsbehandlung begeben, deren Langzeittherapie nunmehr abgeschlossen sei. Sie sei alkoholabstinent. Seit dem 9. März 2022 werde ein begleiteter Umgang mit dem Kind gewährt. Beide Antragsteller hätten alle ihnen ermöglichten Umgangskontakte wahrgenommen. Unbegleitete Umgangskontakte seien ihnen nicht ermöglicht worden. Von der Antragstellerin zu 1) gehe keinerlei Gefährdung mehr für das psychische und/oder seelische Wohl des Kindes aus. Sie sei erziehungsfähig und in der Lage, das Kind selbständig zu versorgen, zu betreuen und zu fördern. Da das zuständige Jugendamt kein Rückführungskonzept zur Verfügung stelle, werde das Kind gegen den Willen der sorgeberechtigten Eltern an der Rückkehr der Antragstellerin zu 1) gehindert.
15
In einer Stellungnahme vom 31. Mai 2022 im Verfahren 001 F … teilte die beklagte Pflegefamilie mit, eine stabile Mutter-Kind-Beziehung existiere nicht. Ein unbegleiteter Umgang der Antragstellerin zu 1) habe abgebrochen werden müssen, weil das Kind nicht bei seiner Mutter habe bleiben wollen. Im Rahmen der zunächst 14-tägigen, ab März 2022 wöchentlichen Umgangskontakte sei es der Antragstellerin zu 1) nicht gelungen, mit dem Kind in einer Weise Kontakt aufzunehmen, dass dieses Vertrauen fasse, um eine Beziehung zu entwickeln. Der Wiederaufbau der Mutter-Kind-Beziehung scheitere bereits an der Sprachbarriere. Die Sprachkenntnisse der Antragstellerin zu 1) hätten sich nicht verbessert. Die emotionale Distanz zwischen dem Kind und seiner Mutter habe sich verstärkt.
16
Am 1. Juni 2022 bat die Antragsgegnerin die im Verfahren 001 F … bevollmächtigte Rechtsanwältin der Antragsteller um deren Zustimmung zum Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie bis zur familiengerichtlichen Entscheidung, dies deshalb, weil mit dem Herausgabeantrag eine derartige Zustimmung nicht mehr gegeben sei. Andernfalls müsse das Kind in Obhut genommen werden. Eine Reaktion hierauf erfolgte nicht.
17
Mit Bescheid vom 2. Juni 2022, gerichtet an beide Antragsteller, nahm die Antragsgegnerin das Kind in Obhut und ordnete die sofortige Vollziehung des Bescheides an. Dies wurde damit begründet, es liege eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes vor, welche die Inobhutnahme erfordere. Das Kind habe zu den Pflegeeltern eine starke Bindung aufgebaut. Ein Bindungsaufbau hinsichtlich des Antragstellers zu 2) sei nicht erkennbar und werde vom Kind derzeit komplett abgelehnt. Hinsichtlich der Antragstellerin zu 1) zeige das Kind keinerlei Emotionen bzw. keine erkennbaren Bindungszeichen. Demgegenüber habe das Kind erstmals in seinem Leben eine starke Bindung zu den Bezugspersonen der Pflegefamilie aufgebaut, was ihm enorme Sicherheit gebe. Damit seien die Voraussetzungen des § 42 SGB VIII erfüllt. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung liege überwiegend im Interesse des Kindes. Eine Rückkehr in den Haushalt der Antragstellerin zu 1) bis zur Entscheidung über einen eventuellen Widerspruch liefe dem Kindeswohl zuwider; dieses sei gegenüber dem Elternrecht vorrangig. Ein Abbruch der Bindung zwischen dem Kind und den Pflegeeltern sei dem Kind nicht zumutbar. Vor allem durch die frühkindlichen Erfahrungen, Vernachlässigungen und Verwahrlosung sei das Kind für die Folgen eines weiteren Bindungsabbruches besonders sensibilisiert.
18
Zugleich widerrief die Antragsgegnerin den Bescheid über die Hilfegewährung vom 4. November 2021 ab dem 2. Juni 2022 mit Wirkung für die Zukunft.
19
Daraufhin erklärte die Bevollmächtigte der Antragstellerin zu 1) deren Einverständnis zum Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie bis zur familiengerichtlichen Klärung; die von der Antragsgegnerin erbetene schriftliche Einverständniserklärung ging jedoch nicht ein. Der Antragsteller zu 2) äußerte sich nicht.
20
Unter dem 2. Juni 2022 rief die Antragsgegnerin gemäß § 42 Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 1666 BGB das Amtsgericht - Familiengericht - B. N. an und führte aus, der Antragsteller zu 2) befinde sich aktuell noch in der Adaptionsphase nach einer mehrmonatigen Suchttherapie nach jahrelanger Alkoholabhängigkeit. Die Antragstellerin zu 1) habe sich von Ende Dezember bis Ende Februar auf ihrer zweiten bekannten Therapie aufgrund ihrer Alkoholabhängigkeit befunden. Durch den kurzen Beobachtungszeitraum lasse sich über die Stabilität der Abstinenz keine Aussage treffen. Ursprünglich sei die Rückführung des Kindes zur Antragstellerin zu 1) nach erfolgreichem Therapieabschluss angedacht gewesen, zuvor habe die Kontaktanbahnung durch regelmäßige Umgangskontakte erfolgen sollen, um die Mutter-Kind-Bindung kontinuierlich wiederaufzubauen. Das Kind habe sich von Anfang an nur auf den Umgang in Anwesenheit der Pflegemutter einlassen können. Der schrittweise Rückzug der Pflegemutter sei gescheitert. Die Umgänge hätten oftmals vorzeitig beendet werden müssen. Nach den Berichten des Pflegekinderfachdienstes und der Pflegefamilie habe sich das Kind nach den Umgängen über mehrere Tage massivst auffällig gezeigt und insbesondere Verlustängste zu erkennen gegeben. Der Antragsteller zu 2) habe gegenüber dem Kind eher übergriffig gewirkt, ein Bindungsaufbau sei nicht erkennbar und werde vom Kind derzeit komplett abgelehnt. Ein Abbruch des Bindungsprozesses zu der Pflegefamilie stelle aus sozialpädagogischer Sicht eine Kindeswohlgefährdung dar, weshalb eine Rückführung unter den aktuellen Entwicklungen nicht durchgeführt werden könne. Vielmehr sei eine Reduzierung der Anzahl der Umgangskontakte erforderlich gewesen.
21
Mit Beschluss vom 3. Juni 2022 erhob das Familiengericht Beweis über den Konsum von Betäubungsmitteln oder Alkohol durch die Antragsteller innerhalb der letzten sechs Monate.
22
Mit Beschluss vom 30. Juni 2022 erhob das Familiengericht auf der Grundlage eines Anhörungstermins am 28. Juni 2022 Beweis zur Frage der Bereitschaft und Fähigkeit der Antragstellerin zu 1) zur Versorgung und Erziehung des Kindes, zu entsprechenden Hilfs- und Unterstützungsangeboten und zu den Bindungen des Kindes zu den Pflegeeltern und dem Gewicht der Bindungen.
23
Am 30. Juni 2022 ließen die Antragsteller im Verfahren W 3 K 22.1107 Klage gegen den Bescheid vom 2. Juni 2022 erheben und im vorliegenden Verfahren zugleich sinngemäß beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren W 3 K 22.1107 gegen den Inobhutnahmebescheid der Antragsgegnerin vom 2. Juni 2022 wiederherzustellen.
24
Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII lägen nicht vor. Die Antragstellerin zu 1) sei wieder gesund und für ihr Kind präsent. Der weitere Verbleib des Kindes im Haushalt der Pflegeeltern sei nicht erforderlich. Eine Kindeswohlgefährdung könne nicht angenommen werden. Die Antragstellerin zu 1) könne die Versorgung, Pflege und Erziehung des Kindes sicherstellen. Sie sei alkoholabstinent und lebe in ordentlichen sozialen Verhältnissen. Die in Finnland lebende Mutter der Antragstellerin zu 1) sei bereit, unverzüglich die Antragstellerin zu 1) in Deutschland zu unterstützen. Der Wechsel des Kindes von den Pflegeeltern zur leiblichen Mutter entspreche dessen Wohl am besten. Der Wechsel in der Beziehung werde lediglich in der Anfangsphase zu Belastungen beim Kind führen, die jedoch nicht zwingend schädlich seien. Demgegenüber sei die Antragstellerin zu 1) dazu bereit und in der Lage, das Kind feinfühlig zu erziehen, so dass es die Pflegeeltern bereits nach wenigen Monaten komplett vergessen haben werde. Dies entspreche dem Kindeswohl mehr als ein dauerhafter Verbleib in der Pflegefamilie mit den entsprechenden dauerhaften Problemen. Die Antragsgegnerin sei bereits mehrfach außergerichtlich erfolglos zur Erstellung eines Rückführungskonzepts aufgefordert worden.
25
Die Antragsteller beantragten
zudem die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
26
Die Antragsgegnerin beantragte,
den Antrag abzulehnen.
27
Zur Begründung wurde ausgeführt, das Interesse des Kindes auf Verbleib bei den Pflegeeltern bis zum Abschluss des familiengerichtlichen Verfahrens sei als überwiegend anzusehen. Es liege eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes bei einer Rückkehrung zu den Antragstellern vor. Zwar habe die Antragstellerin zu 1) Ausführungen zu ihrer persönlichen Situation gemacht, sie sei im Rahmen des Rückführungsbegehrens jedoch nicht einmal ansatzweise auf die Bedeutung einer Rückführung für das Kind eingegangen. In den ersten Lebensmonaten habe das Kind keine emotional stabile und zuverlässige Bezugsperson gehabt. Möglicherweise sei die fehlende emotionale Zuwendung mit Essen und Trinken kompensiert worden. In der Herkunftsfamilie sei das Kind häufig massiv angstbesessenen Situationen ausgesetzt gewesen. In der Pflegefamilie habe es erstmals ein stabiles und sicheres Umfeld kennen gelernt. Hier seien Bindungen zur Pflegefamilie entstanden. Das Ergebnis des vom Familiengericht eingeholten Gutachtens sei abzuwarten. Aus derzeitiger Sicht bestehe die große Gefahr einer Traumatisierung des Kindes bei einer Rückkehr. Zudem erhalte das Kind nunmehr durch die Pflegeeltern erstmals eine verlässliche gesundheitliche Betreuung, dies speziell mit Blick auf die HIV- und Hepatitis-Erkrankungen der Antragstellerin zu 1). Ein Abbruch des Bindungsprozesses zu den Pflegeeltern stelle aus sozialpädagogischer Sicht eine Kindeswohlgefährdung dar, die gegenüber dem Elternrecht vorrangig verhindert werden müsse. Das Familiengericht habe bislang keine einstweilige Entscheidung hinsichtlich einer Verbleibensanordnung oder der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf eine externe Person getroffen, so dass die Inobhutnahme weiterhin notwendig sei.
28
Hätten Kleinkinder eine elementare Bindung zu denjenigen Personen aufgebaut, die die Elternfunktion tatsächlich wahrnähmen, bestehe eine besondere Trennungsempfindlichkeit. Im vorliegenden Fall werde dies durch die Vergangenheit des Kindes in der Herkunftsfamilie verstärkt.
29
Im Übrigen wird auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien, auf den Inhalt der Gerichtsakte W 3 K 22.1107 und auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten der Antragsgegnerin, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
II.
30
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist, wie die Auslegung des Begehrens der Antragsteller (§ 122, § 88 VwGO) ergibt, ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit den Ziel, die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren W 3 K 22.1107 gegen den Inobhutnahmebescheid der Antragsgegnerin vom 2. Juni 2022 wiederherzustellen.
31
1. Für ein Verfahren, mit welchem sich Eltern gegen die Inobhutnahme ihres Kindes wenden, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Dies ergibt sich zunächst aus § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 51 SGG, der Angelegenheiten der Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch nicht den Sozialgerichten zuweist. Es liegt auch keine anderweitige Sonderzuweisung an das Familiengericht vor. Denn die Vorschrift des § 42 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB VIII, wonach das Jugendamt unverzüglich eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohle des Kindes herbeizuführen hat, wenn ein Kind aufgrund des Vorliegens einer dringenden Gefahr für sein Wohl in Obhut genommen wird und die Personen- oder Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme widersprechen, stellt keine Sonderzuweisung von Streitigkeiten über Inobhutnahmen an die Familiengerichte dar. Die Familiengerichte entscheiden in diesem Rahmen lediglich über die dann erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Minderjährigen, nicht aber über die Rechtmäßigkeit der zurückliegenden Inobhutnahme. Denn die Inobhutnahme ist eine kurzfristige Maßnahme, die gerade durch die Gewährung von Hilfen abgelöst werden soll, die auf einer Entscheidung des Familiengerichts beruhen. Das familiengerichtliche Verfahren ist also allein darauf ausgerichtet, die notwendigen sorgerechtlichen Maßnahmen zu regeln, die sich an die Inobhutnahme anschließen. Dies bedeutet, dass es für die Frage, ob die Inobhutnahme rechtswidrig erfolgte, bei den Regelungen über das Widerspruchsverfahren nach den §§ 68 ff. VwGO verbleibt und auf der verwaltungsgerichtlichen Ebene die Rechtmäßigkeit der zurückliegenden Inobhutnahme zu beurteilen ist (Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VIII, 2. Aufl. 2018, Stand: 14.4.2022, § 42 Rn. 193 und Rn. 204 m.w.N.; OLG Frankfurt, B.v. 22.1.2019 - 4 WF 145/18 - juris; Kirchhoff, juris-PR-SozR 13/2019 Anm. 4; Brandenburgisches OLG, B.v 10.7.2019 - 13 UF 121/19 - juris Rn. 4; a.A.: Trenczek, JAmt 2010, 543, 544; differenzierend: Lauterbach, JAmt 2014, 10), dies im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gerade auch dann, wenn der Inobhutnahme-Verwaltungsakt deswegen weiterhin Auswirkungen hat, weil das Kind noch nicht auf der Grundlage der familiärengerichtlichen Entscheidung in eine andere Jugendhilfemaßnahme nach §§ 27 ff. SGB VIII überführt worden ist (werden konnte).
32
2. Der Antrag ist zulässig.
33
Die am 2. Juni 2022 begonnene Inobhutnahme dauert derzeit, wie die Antragsgegnerin selbst ausgeführt hat, noch fort; sie wurde bislang nicht durch eine vollstationäre Maßnahme gemäß § 27, § 33 bzw. § 34 SGB VIII abgelöst. Damit können die Antragsteller im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO erreichen, dass das Gericht die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Inobhutnahme wiederherstellt.
34
3. Der Antrag hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
35
Vorliegend handelt es sich um einen Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alternative VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 30. Juni 2022 gegen den die Antragsteller belastenden Inobhutnahmebescheid (vgl. Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, Kommentar, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 67) der Antragsgegnerin vom 2. Juni 2022 in Verbindung mit der Anordnung von dessen sofortiger Vollziehung.
36
Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen belastenden Verwaltungsakt grundsätzlich aufschiebende Wirkung; gesetzlich festgelegte Ausnahmen von diesem Grundsatz sind in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 VwGO enthalten. Von deren Tatbeständen wird jedoch eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII nicht umfasst, sodass eine Anfechtungsklage zunächst eine aufschiebende Wirkung entfaltet (VG Würzburg, B.v. 5.6.2018 - W 3 S 18.745 - juris; B.v. 28.7.2020 - W 3 S 20.894 - juris; VG Neustadt an der W.straße, B.v. 22.2.2017 - 4 L 165/17 - BeckRS Nr. 4; Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VIII, 2. Aufl. 2018, Stand: 14.4.2022, § 42 Rn. 146).
37
Deshalb hat die Antragsgegnerin im Bescheid vom 2. Juni 2022 gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO dessen sofortige Vollziehung angeordnet, sodass sich der vorliegende Antrag im Rahmen der Auslegung (§ 122, § 88 VwGO) als solcher auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 30. Juni 2022 gegen den Bescheid vom 2. Juni 2022 erweist.
38
Ordnet die Behörde gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung eines Bescheides an, hinsichtlich dessen eine erhobene Klage die aufschiebende Wirkung entfaltet, so kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alternative VwGO die aufschiebende Wirkung auf Antrag ganz oder teilweise wiederherstellen.
39
In einem derartigen Verfahren prüft das Gericht, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind und trifft im Übrigen eine eigene Abwägungsentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts oder von dessen Rechtswidrigkeit und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen. Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 - 1 BvR 165/09 - NVwZ 2009, 581; BayVGH, B.v. 17.9.1987 - 26 CS 87.01144 - BayVBl. 1988, 369; Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 85 bis 94 m.w.N.).
40
a) Im Rahmen dieser Abwägungsentscheidung des Gerichts ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Klage gegen den Inobhutnahmebescheid wenig Aussicht auf Erfolg haben wird.
41
Dies ergibt sich aus Folgendem:
42
Die am 30. Juni 2022 erhobene Klage gegen den am 2. Juni 2022 erlassenen Inobhutnahmebescheid ist voraussichtlich zulässig, aber unbegründet.
43
Gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.
44
In diesem Zusammenhang ist der Gefahrenbegriff nach dem Maßstab des § 1666 BGB zu verstehen. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift geht es um die Frage, ob das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet wird und seine Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (B.v. 6.2.2019 - XII ZB 408/18 - juris Rn. 18) besteht eine derartige Gefährdung des Kindeswohls, wenn bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.
45
Dringend im Sinne der Vorschrift ist eine Gefahr dann, wenn im Zeitpunkt des behördlichen Vorgehens die Prognose getroffen werden kann, dass bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens der Eintritt des Schadens hinreichend wahrscheinlich ist. Bloße Zweifel beispielsweise an der Erziehungsfähigkeit der Eltern genügen nicht. Vielmehr ist Voraussetzung, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht, wobei allerdings nicht der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen darf (Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VIII, 2. Aufl. 2018, Stand: 14.4.2022, § 42 Rn. 78; Trenczek in Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 Rn. 17).
46
An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt. Die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit muss auf konkreten Verdachtsmomenten beruhen (BGH, a.a.O. Rn. 19).
47
Die dringende Gefahr muss darüber hinaus stets eine konkrete Gefahr sein; aus konkreten Tatsachen muss erkennbar sein, dass bei einer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist. Dringend im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist die Gefahr also dann, wenn damit zu rechnen ist, dass der Schaden in naher Zukunft eintritt, wenn ihre Beseitigung also bereits vor einer möglichen familiengerichtlichen Entscheidung erforderlich ist (Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VIII, 2. Aufl. 2018, Stand: 14.4.2022, § 42 Rn.79 und 82; Trenczek in Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 Rn. 18).
48
Unerheblich ist die Ursache für die Gefahr für das Wohl des Kindes (VGH BW, B.v. 4.11.2021 - 12 S 3125/21 - juris Rn. 28).
49
Neben dem Vorliegen einer dringenden Gefahr setzt § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII die Erforderlichkeit der Inobhutnahme voraus. Diese ist nur dann gegeben, wenn allein die Inobhutnahme das Kindeswohl sichern kann und andere, weniger einschneidende Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen. Dies wäre z.B. auch dann der Fall, wenn das Jugendamt in der Lage ist, die Gefährdung dadurch abzuwenden, dass es sich rechtzeitig durch das Familiengericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht als Ergänzungspfleger übertragen lässt (Kirchhoff, a.a.O., Rn. 87 und 91).
50
Im vorliegenden Fall spricht im Rahmen der summarischen Prüfung viel dafür, dass im Zeitpunkt der Inobhutnahme am 2. Juni 2022 eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes bestand und die Inobhutnahme erforderlich war.
51
Es spricht auch viel dafür, dass diese dringende Gefahr für das Wohl des Kindes derzeit fortbesteht.
52
aa) Eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes kann nicht schon deshalb verneint werden, weil sich das Kind im Zeitpunkt der Inobhutnahme und derzeit nicht bei den Antragstellern, sondern bei der Pflegefamilie R. aufhielt und aufhält. Eindeutig erkennbar bestand und besteht keine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes allein aufgrund des Aufenthalts in der Pflegefamilie. Vielmehr liegt auf der Hand, dass ihm dort die erforderliche materielle und emotionale Zuwendung mit der notwendigen Kontinuität, Intensität und Verlässlichkeit zuteil wird. Allerdings verfolgen die Antragsteller ihr Personensorgerecht für das Kind. Dieses umfasst gemäß § 1631 Abs. 1 BGB u.a. auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Dieses haben sie, wie sich aus der Antragsschrift vom 16. Mai 2022 an das Amtsgericht - Familiengericht - B. N. ergibt, gegenüber dem Jugendamt der Antragsgegnerin geltend gemacht und mitgeteilt, das Jugendamt weigere sich, für das Kind „ein Rückführungskonzept zur Verfügung zu stellen“, wodurch das Kind gegen den Willen der Antragsteller an der Rückkehr gehindert werde. Da ihnen das Kind nicht übergeben worden ist, haben die Antragsteller im Verfahren 001 F … beim Amtsgericht - Familiengericht - B. N. gemäß § 1632 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 BGB einen Antrag gegen die Pflegeeltern auf Herausgabe des Kindes gestellt. Dem haben die Pflegeeltern widersprochen und beantragt, den Verbleib des Kindes in ihrem Haushalt anzuordnen, so dass es sich beim Verfahren 001 F … um ein solches nach § 1632 Abs. 4 BGB handelt. Über dieses Verfahren ist noch nicht entschieden worden und das Amtsgericht - Familiengericht - B. N. hat in diesem Rahmen bislang nicht gemäß § 1632 Abs. 4 BGB geprüft, ob das Wohl des Kindes durch die Wegnahme aus der Pflegefamilie gefährdet ist. Maßstab hierfür ist derjenige des § 1666 BGB (Grüneberg, BGB, Kommentar, 81. Aufl. 2022, § 1632 Rn. 14). Deshalb besteht das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Antragsteller hinsichtlich des Kindes derzeit uneingeschränkt fort. Demgegenüber ist die Vorenthaltung des Kindes durch die Pflegeeltern auf der Grundlage von § 1631 Abs. 1, § 1632 Abs. 1 BGB widerrechtlich, da aufgrund des Herausgabeantrags der Antragsteller deren Zustimmung zur Unterbringung des Kindes in einer vollstationären Maßnahme erloschen ist. Hieraus ergibt sich das Erfordernis, für die Pflegeeltern rechtliche Klarheit - insbesondere auch in strafrechtlicher Hinsicht - zu schaffen.
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Auf der Grundlage dieser Ausführungen kann das Bestehen einer dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes nicht deshalb verneint werden, weil es sich nicht bei den Antragstellern, sondern widerrechtlich bei den Pflegeeltern aufhält. Vielmehr ist es erforderlich, mittels einer Entscheidung durch die Antragsgegnerin vorläufig Rechtsklarheit zu schaffen, bis das Amtsgericht - Familiengericht - B. N. im Verfahren nach § 1632 Abs. 4 BGB entschieden hat. Hierbei handelt es sich um eine Parallele zum Verhältnis zwischen einem Verfahren nach § 1666 BGB vor dem Familiengericht und einem Inobhutnahmebescheid, der ebenfalls der Überbrückung bis zu einer Entscheidung durch das Familiengericht dienen soll (vgl. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII).
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bb) Unabhängig hiervon besteht aller Voraussicht nach bei einer rechtlich jederzeit möglichen unmittelbaren und abrupten Rückführung des Kindes in den Haushalt der Antragstellerin zu 1), wie von den Antragstellern begehrt, eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes.
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Das Kind lebte seit seiner Geburt im vom Streit und (gewalttätigen) Auseinandersetzungen geprägten Umfeld der Antragsteller; in diesem Zusammenhang kam es immer wieder zu einem unangemessenen Umgang insbesondere des Antragstellers zu 2) mit dem Kind. Im März 2020 wurde aufgrund der Gewalttätigkeit des Antragstellers zu 2) eine Aufnahme der Antragstellerin zu 1) mit dem Kind in einem Frauenhaus erforderlich, zudem im April 2021 ein Verfahren nach § 1 und § 2 GewSchG mit zeitweiligem Annäherungsverbot zu Lasten des Antragstellers zu 2). Zudem war eine dauerhafte Begleitung der Familie durch eine Mitarbeiterin der Caritas B. N., Migrationsbegleitung, erforderlich, um diese bei Haushaltsführung und Erziehung des Kindes zu unterstützen. Hinzu kam ein kurzzeitiger Umzug der Antragstellerin zu 1) mit dem Kind im Dezember 2020. Diese im Hinblick auf die emotionale, materielle und gesundheitliche Versorgung defizitäre Situation eskalierte am 31. Juli 2021, als die Antragstellerin zu 1) aufgrund von Trunkenheit nicht einmal mehr ansatzweise in der Lage war, für die elementarsten Bedürfnisse des Kindes zu sorgen. Dies macht deutlich, dass es dem Kind verwehrt war, von seiner Geburt am 22. Februar 2020 bis zur Inobhutnahme am 31. Juli 2021 eine stabile, von kindlichem Grundvertrauen getragene Beziehung zu den Antragstellern aufzubauen. Dies gilt im besonderen Maße für den Antragsteller zu 2), der aufgrund des zeitweisen Annäherungsverbots keinerlei Kontakte mehr zum Kind hatte und im Übrigen oftmals unangemessen mit dem Kind umging.
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Vom 31. Juli 2021 bis zum 22. Oktober 2021 hielt sich das Kind in der Pflegefamilie M. auf. Dies bedeutete zunächst einen abrupten Abbruch seiner - problematischen - Beziehung zur Antragstellerin zu 1) und sodann den Aufbau einer neuen Beziehung, die mit dem Wechsel am 22. Oktober 2021 zur Pflegefamilie R. erneut abgebrochen wurde.
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In der Pflegefamilie R. hat das Kind seit dem 22. Oktober 2021 erstmals über einen längeren Zeitraum hinweg eine von umfassender emotionaler, materieller und medizinischer Versorgung geprägte positive Beziehung aufbauen können. Dies hatte zur Folge, dass sich sein zunächst vorhandenes problematisches Verhalten änderte, das Kind eine positive Entwicklung nahm und Entwicklungsverzögerungen aufholte. Auch das Ess-Verhalten normalisierte sich.
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Schon die dargestellte Belastung des Kindes in seiner Entwicklung für sich genommen lässt deutlich werden, dass ein erneuter abrupter Beziehungsabbruch zu großen Problemen führen würde. Das Kind würde erneut die Erfahrung machen, dass keinerlei Verlässlichkeit in Bezug auf die eingegangenen Bindungen besteht. Dies würde umso schwerer wiegen, als es nun erstmals eine verlässliche positive Bindung zu Bezugspersonen aufbauen konnte. Ein Abbruch dieser erstmals positiven Beziehung würde für das Kind eine erhebliche dauerhafte emotionale Belastung bedeuten. Aus derartigen Situationen der Vernachlässigung und der Bindungsabbrüche können sich zudem frühkindliche Bindungsstörungen mit entsprechenden negativen Konsequenzen für die weitere Entwicklung des Kindes ergeben. Hierbei geht es um Abweichungen in der sozialen Funktionsfähigkeit und bei sozialen Beziehungsmustern. Hierbei spielen Furchtsamkeit, eingeschränkte soziale Interaktion mit Gleichaltrigen, Aggressionen und Unglücklichsein eine Rolle (vgl. ICD-10 F 94).
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Verstärkt wird die Gefahr für das Kind dadurch, dass es zu beiden Antragstellern im Rahmen der Umgangskontakte keinerlei positiven Ansätze einer Bindung aufbauen konnte. Wie sich aus den verschiedenen Berichten der Antragsgegnerin und der Pflegeeltern ergibt, wuchs durch die Umgänge eher eine Abwehrhaltung des Kindes. Dies gilt vor allem hinsichtlich des Antragstellers zu 2), welchen das Kind vollständig ablehnt. Aber auch die Antragstellerin zu 1) hat keine positive Bindung zum Kind aufbauen können. Dies beruht schon auf der Sprachbarriere. Die russischsprachige Antragstellerin zu 1) spricht nur unzureichend die deutsche Sprache, während das Kind nicht einmal ansatzweise der russischen Sprache mächtig ist und sein kann. Eine gelingende Kommunikation ist unter diesen Voraussetzungen nur sehr schwer möglich. Zudem wird aus den Behördenakten deutlich, dass die Antragstellerin zu 1) den geplanten Deutschkurs immer wieder verschoben hat, zuletzt auf November 2022. Dies zeigt, dass ihr nicht hinreichend daran gelegen ist, zu Gunsten einer gelingenden Kommunikation mit dem Kind ihre Deutschkenntnisse nachhaltig zu verbessern. Hinzu kommt die mangelnde Fähigkeit der Antragstellerin zu 1), so positiv auf das Kind zuzugehen, dass - auch nur oberflächlich - Vertrauen wachsen könnte. Vielmehr waren die Umgänge nur in Begleitung einer Pflegemutter möglich, die für das Kind den sicheren Rückzugsort bildete. Dies gilt für alle Umgänge, unabhängig davon, ob sie im Haushalt der Pflegeeltern, im Haushalt der Antragstellerin zu 1) oder anderwärts stattfanden. Verschiedene an den Umgängen beteiligte Personen haben zudem davon berichtet, wie emotional anstrengend die Umgänge für das Kind sind. Dies macht deutlich, dass zumindest aus derzeitiger Sicht keinerlei Ansätze einer positiven Bindung zwischen der Antragstellerin zu 1) und dem Kind bestehen bzw. gewachsen sind, die einen Bindungsabbruch zu den Pflegeeltern erträglicher machen könnten.
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Demgegenüber ist vielmehr festzustellen, dass die (von den Pflegeeltern begleiteten) Umgänge jeweils zu einer hohen emotionalen Belastung für das Kind geführt haben. Dies zeigt sich entsprechend den Berichten der Pflegeeltern und des Jugendamtes an starken Schlafstörungen, Albträumen und Trennungsängsten hinsichtlich der Trennung von den Pflegeeltern (Verweigerung des Kita-Besuchs). Hieraus ergibt sich, dass zusätzlich zum Abbruch der Bindung zu den Pflegeeltern bei einer Rückkehr in den Haushalt der Antragstellerin zu 1) eine sehr hohe emotionale Belastung für das Kind aufgrund des Kontakts zur Antragstellerin zu 1) entstehen würde.
61
Hinzu kommt, dass der Antragsteller zu 2) nach Auslaufen der entsprechenden Anordnungen des Amtsgerichts - Familiengericht - B. N. nach § 1 und § 2 GewSchG nunmehr wieder dauerhaft Kontakt zur Antragstellerin zu 1) und zum Kind haben darf. Dies hat zur Folge, dass er bei einer Rückkehr des Kindes in den Haushalt der Antragstellerin zu 1) dort jederzeit Kontakt mit dem Kind aufnehmen könnte. Dies würde zu einer nochmals deutlich erhöhten Belastung für das Kind führen, welches den Antragsteller zu 2) aufgrund dessen unangemessenen Umgangs mit ihm vollständig ablehnt.
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Zudem ist nicht erkennbar, dass die Antragsteller nunmehr tatsächlich dauerhaft alkohol- und drogenabstinent leben und es nicht zu unkontrollierten und unvorhersehbaren Rückfällen kommen wird, die als solche zu einer dringenden Gefahr für das Kind werden können (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, Kommentar, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 11a m.w.N.).
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Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass die Antragstellerin zu 1) überhaupt in der Lage wäre, das Kind mit der erforderlichen Zuverlässigkeit in materieller und emotionaler Hinsicht zu versorgen. Seit der Geburt des Kindes bis zur Inobhutnahme am 31. Juli 2021 war sie hierzu allein nicht fähig und benötigte die tägliche intensive Unterstützung durch die Mitarbeiterin der Caritas. Warum dies nun anders sein sollte, ist nicht erkennbar. Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass die Antragstellerin zu 1) die erforderliche Stabilität im Hinblick auf ihr Suchtverhalten aufweist. Vielmehr war sie bereits zumindest zwei Mal in einer Entziehungsmaßnahme; ob die zuletzt durchgeführte Entziehungsmaßnahme zu einem dauerhaften Erfolg führt, kann derzeit aufgrund des geringen Zeitabstands noch nicht erkennbar sein. Hinzu kommt die Gefahr, dass der Antragsteller zu 2) bei nun wieder erlaubten Aufenthalten bei der Antragstellerin zu 1) und dem Kind mit diesem erneut unangemessen umgehen könnte, dies deshalb, weil im Rahmen der begleiteten Umgänge deutlich geworden ist, dass der Antragsteller zu 2) nicht einmal ansatzweise die Fähigkeit dazu besitzt, einfühlsam mit dem Kind umzugehen.
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Auch die Umgänge mit dem Kind haben gezeigt, dass die Antragstellerin zu 1) derzeit nicht in der Lage ist, die Grundbedürfnisse des Kindes im erforderlichen Maße zu erkennen und zu erfüllen. Dies gilt beispielsweise für durchweichte Windeln und nasse Hosen.
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Alledem hat die Antragstellerin zu 1) entgegengesetzt, sie sei nun alkoholabstinent und könne die Versorgung des Kindes sicherstellen. Ein Wechsel in der Beziehung belaste das Kind lediglich in der Anfangsphase.
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Dies macht deutlich, dass die Antragstellerin zu 1) nicht dazu in der Lage ist, sich in das Kind hinein zu versetzen und die Belastungen zu erkennen, die mit einem derartigen Wechsel von den Pflegeeltern zu ihr verbunden wären. Weder thematisiert sie überhaupt die diesbezügliche emotionale Belastung für das Kind noch erkennt sie die Gefahr langfristiger psychischer Defekte beim Kind im Falle eines derartigen abrupten Wechsels. Dies zeigt, dass die Antragstellerin zu 1) zumindest derzeit nicht dazu in der Lage wäre, einen Wechsel des Kindes von der Pflegefamilie zu ihr selbst so hinreichend einfühlsam zu gestalten, dass dieser für das Kind erträglich werden könnte.
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Aus alledem wird deutlich, dass ein abrupter Wechsel des Kindes von den Pflegeeltern zur Antragstellerin zu 1) ohne langfristige positiv gestaltete Annäherung im Rahmen von Umgangskontakten zu einer dringenden Gefahr für das Kind führen wird, dies aufgrund einer akuten emotionalen Extrembelastung, einer akuten unzureichenden Versorgung des Kindes und vor allem aufgrund der hohen Gefahr deutlicher psychischer (Dauer-)Schäden. Es liegt auf der Hand, dass die direkte emotionale Extrembelastung aufgrund des Beziehungswechsels mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Denn es ist offensichtlich, dass ein zweieinhalbjähriges Kind unter der zwangsweisen Aufgabe der ersten positiv gestalteten Beziehung zu erwachsenen Personen mit Elternfunktion und dem Wechsel hin zu Personen, mit denen es bislang vorwiegend negative Erfahrungen gemacht hat, sehr deutlich leiden wird. Auch die Gefahr einer unzureichenden Versorgung des Kindes wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit realisieren, dies deshalb, weil derzeit erkennbar keine Unterstützung von dritter Seite zur Verfügung steht und die Antragstellerin zu 1) bereits seit der Geburt des Kindes bis zur ersten Inobhutnahme am 31. Juli 2021 nicht in der Lage gewesen ist, eine sachgerechte Versorgung des Kindes ohne entsprechende Unterstützung sicherzustellen. Auch die Gefahr deutlicher psychischer (Dauer-)Schäden ist nicht von der Hand zu weisen. Da es sich hierbei um gravierende Schäden handelt, die das ganze weitere Leben des Kindes beeinflussen können, ist es nicht erforderlich, dass sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eintreten würden. Demgegenüber machen die sich immer weiter verstärkenden und zeitlich sich ausdehnenden negativen Reaktionen des Kindes nach den Umgängen deutlich, dass die Gefahr des Schadenseintritts so hinreichend wahrscheinlich ist, dass das Vorliegen einer konkreten dringenden Gefahr bejaht werden muss. Diese würde unmittelbar durch den Beziehungsabbruch und den Wechsel zur Antragstellerin zu 1) eintreten.
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Dies kann nicht durch den Eindruck einer Mitarbeiterin der Antragsgegnerin am 19. April 2021, wonach die Bindung des Kindes zur Antragstellerin zu 1) zu passen scheine, relativiert werden. Zum einen ist unklar, wie verlässlich dieser Eindruck gewesen ist, zum anderen hat sich die Sachlage seitdem durch verschiedene negative Erfahrungen bis zur Inobhutnahme und die Veränderungen in den Beziehungen des Kindes hernach verändert. Der geschilderte Eindruck mag allenfalls ein Hinweis darauf sein, dass langfristig eine positive Kontaktanbahnung zwischen der Antragstellerin zu 1) und dem Kind nicht von vornherein als unmöglich erscheint.
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Festzuhalten ist zudem, dass das Amtsgericht - Familiengericht - B. N. ebenfalls eine entsprechende Gefahr für das Kind für so hinreichend wahrscheinlich hält, dass es die Beweisbeschlüsse vom 3. Juni 2022 und vom 30. Juni 2022 erlassen hat und nicht vor der Erstellung der hiermit in Auftrag gegebenen Gutachten eine vorläufige Regelung zugunsten der Antragsteller getroffen hat.
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cc) Die Inobhutnahme mit Bescheid vom 2. Juni 2022 war zudem auch deshalb erforderlich, weil kein milderes Mittel zur Verfügung stand. Insbesondere ist das mildere Mittel der Einbeziehung weiterer Familienmitglieder der Kindseltern aus derzeitiger Sicht nicht möglich. Zwar haben die Antragsteller im vorliegenden Verfahren vortragen lassen, die in Finnland lebende Mutter der Antragstellerin zu 1) könne kurzfristig nach Deutschland kommen, um diese bei der Erziehung des Kindes zu unterstützen. Allerdings ist nicht einmal plausibel dargelegt worden, dass die Mutter der Antragstellerin zu 1) hierzu willens und kurzfristig in der Lage wäre. Zudem ist nicht erkennbar, dass die Anwesenheit der Mutter der Antragstellerin zu 1), welche dem Kind nicht einmal ansatzweise bekannt ist, die Problematik des Beziehungsabbruches zu den Pflegeeltern in irgendeiner Weise kompensieren könnte. Auch hier wird wiederum die Haltung der Antragsteller erkennbar, es komme allein darauf an, dass die Versorgung des Kindes in ihrem Haushalt sichergestellt sei. Der Blick auf die emotionale Befindlichkeit des Kindes im Rahmen eines derartigen Beziehungswechsels fehlt auch hier bei den Antragstellern zur Gänze.
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Auch das mildere Mittel einer Herbeiführung einer Entscheidung des Familiengerichts im Verfahren nach § 1632 Abs. 4 BGB (Az.: 001 F …*) ist nicht gegeben. Das Amtsgericht - Familiengericht - B. N. hat in diesem Verfahren bislang keine Entscheidung getroffen, so dass auf die Inobhutnahme nicht verzichtet werden konnte und weiterhin nicht verzichtet werden kann.
72
Auch das mildere Mittel der Gewährung einer Jugendhilfemaßnahme gemäß § 27 ff. SGB VIII war für die Antragsgegnerin mangels entsprechender Anträge der Kindseltern nicht gegeben. Vielmehr haben die Antragsteller ihre Zustimmung zur vollstationären Unterbringung des Kindes mit ihrem Antrag auf Herausgabe des Kindes gemäß § 1632 BGB zurückgezogen. Zwar hat die Antragstellerin zu 1) am 2. Juni 2022 ihr Einvernehmen zum Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie bis zu einer Entscheidung des Familiengerichts im Verfahren 001 F … erklärt, der Antragsteller zu 2) hat sich hierzu jedoch nicht geäußert. Bei gemeinsamer elterlicher Sorge - wie im vorliegenden Fall - ist jedoch das Einverständnis beider Elternteile erforderlich (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, Kommentar, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 14 m.w.N.).
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dd) Da somit - wie sich aus der summarischen Überprüfung im vorliegenden Verfahren ergibt - ab dem 16. Mai 2022, dem Zeitpunkt der Einreichung des Antrags im Verfahren 001 F … und fortlaufend darüber hinaus eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes die Inobhutnahme erforderte, keine milderen Mittel erkennbar sind und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden konnte, war die Antragsgegnerin nach derzeitigem Kenntnisstand berechtigt und verpflichtet, das Kind in seine Obhut zu nehmen. Dies bedeutet, dass die Erfolgsaussichten der Klage im Verfahren W 3 K 22.1107 voraussichtlich sehr gering sind, dies jedoch unter dem Vorbehalt möglicher weiterer, im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht möglicher Sachaufklärung. Dies betrifft insbesondere die Ergebnisse der vom Amtsgericht - Familiengericht - B. N. mit Beweisbeschlüssen vom 3. Juni 2022 und vom 30. Juni 2022 eingeholten Gutachten, die möglicherweise neue Erkenntnisse erbringen könnten, die auch im Hauptsacheverfahren W 3 K 22.1107 verwertbar wären.
74
b) Da sich demnach die angegriffene Inobhutnahme nicht als offensichtlich, sondern lediglich als voraussichtlich rechtmäßig erweist, hat das Gericht eine eigene Interessenabwägung unter Berücksichtigung der geringen, jedoch nicht gänzlich fehlenden Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage vorzunehmen (Hoppe in Eyermann, VwGO, Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 90 bis 93 m.w.N.).
75
Im vorliegenden Fall sind zunächst die Interessen der Antragsteller in den Blick zu nehmen. Diese können sich auf Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG berufen, wonach Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht sind. Dieses grundgesetzlich geschützte Recht ist mit sehr hohem Gewicht in die Abwägung des Gerichts einzustellen, dies umso mehr, als es sich im vorliegenden Fall um ein Kleinkind handelt. Hinzu kommt, dass gerade im Kleinkindalter schnell tiefe persönlich-emotionale Bindungen zwischen Eltern und Kind aufgebaut werden können, was in fortgeschrittnerem Alter des Kindes nicht mehr auf diese Art und Weise möglich ist.
76
Dem ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Inobhutnahme gegenüberzustellen. Hierbei steht das Grundrecht des neugeborenen Kindes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auf Leben und körperliche Unversehrtheit im Vordergrund. Das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG fließende öffentliche Interesse am Schutz des Rechts auf Leben und körperlicher Unversehrtheit ist extrem hoch zu gewichten. Hierbei ist zu beachten, dass das Kind nicht nur hinsichtlich der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit aufgrund mangelnder physischer Versorgung in Gefahr ist, sondern dass auch psychische Verletzungen in diesem Zusammenhang zu beachten sind. Wie oben ausgeführt, besteht bei einer abrupten Rückführung des Kindes in den Haushalt der Antragstellerin zu 1) die dringende Gefahr, dass das Kind unter den damit verbundenen Beziehungsabbrüchen erhebliche psychische Leiden erfährt und es zudem zu Bindungsstörungen mit gravierenden negativen langfristigen psychischen Folgen für das Kind kommen kann. All dies rechtfertigt die extrem hohe Gewichtung des öffentlichen Interesses.
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Demgegenüber ist aber auch das öffentliche Interesse daran zu beachten, die Familie besonders zu schützen (vgl. Art. 6 Abs. 1 GG). Es besteht ein sehr hoch zu gewichtendes Interesse daran, Familien wo immer möglich nicht auseinanderzureißen und ihnen ein gemeinsames Leben zu ermöglichen. Allerdings hat die staatliche Gemeinschaft gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auch ein Wächteramt hinsichtlich des Rechtes und der Pflicht der Eltern bezüglich Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Dieses konkretisiert sich auch in der Tätigkeit des Jugendamts.
78
Unter Abwägung der voraussichtlichen Erfolgslosigkeit des Hauptsacheverfahrens, der sehr hoch zu gewichtenden Interessen der Antragsteller, des extrem hoch zu gewichtenden öffentlichen Interesses an körperlicher, seelischer und psychischer Unversehrtheit des Kindes und des als sehr hoch zu gewichtenden öffentlichen Interesses am Schutz der Familie gelangt das Gericht zum Ergebnis, dass dem öffentlichen Interesse zugunsten des Kindes ein Vorrang vor den privaten Interessen der Antragsteller einzuräumen ist. In diesem Zusammenhang ist dem Gericht bewusst, dass der Entzug des Kindes für die Antragsteller, hier insbesondere für die Antragstellerin zu 1), emotional belastend ist; das Gericht nimmt dies jedoch in Kauf, um dem Kind ein Leben zu ermöglichen, bei welchem keine akute und unmittelbare Gefahr für die körperliche Unversehrtheit und die emotionale Entwicklung besteht. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die Antragsteller sich bislang nicht hinreichend darum bemüht haben, angemessen der deutschen Sprache mächtig zu werden. Insbesondere die Antragstellerin zu 1) hat entsprechende Deutschkurse immer wieder verschoben. Der Antragsteller zu 2) hat nicht deutlich gemacht, dass er überhaupt beabsichtigt, die deutsche Sprache zu lernen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass beide Antragsteller in der Vergangenheit alkoholabhängig waren. Die Antragstellerin zu 1) hat in den Raum gestellt, sie sei nunmehr alkoholabstinent; allerdings hat sie dies lediglich behauptet und hierfür keine weiteren Belege vorgelegt. Der Antragsteller zu 2) hat nicht einmal behauptet, nunmehr dauerhaft alkoholabstinent zu sein.
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Aus diesen Gründen haben die Antragsteller die schwerwiegenden Folgen der Inobhutnahme, die zu einer Fortdauer der Trennung vom Kind in den kleinkindlichen Lebensphasen, welche zu späteren Zeitpunkten nicht mehr erlebbar sind, führt, hinzunehmen und damit den Schutz des Kindes zu gewährleisten.
80
c) Im vorliegenden Fall ist auch die formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung des Sofortvollzugs im Bescheid der Antragsgegnerin vom 2. Juni 2022 gegeben (zur Prüfungsreihenfolge vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 98).
81
Insbesondere hat die Antragsgegnerin die Anordnung der sofortigen Vollziehung in ausreichender Weise gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO begründet.
82
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung muss mit einer auf den konkreten Fall abstellenden und nicht lediglich formelhaften schriftlichen Begründung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes versehen werden (W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 27. Aufl. 2021, § 80 Rn. 84). Aus der besonderen Begründung für den Sofortvollzug muss hinreichend deutlich hervorgehen, dass und warum die Behörde aus Gründen des zu entscheidenden Einzelfalls eine sofortige Vollziehung ausnahmsweise für geboten hält (BayVGH, B.v. 15.12.2010 - 6 CS 10.2697 - juris). In diesem Sinn ist eine bloße Wiederholung des Gesetzeswortlauts nicht ausreichend. Allerdings dürfen andererseits nicht allzu hohe Anforderungen an die Begründung gestellt werden (Hoppe in Eyermann, VwGO, Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 55). Die Begründungspflicht soll unter anderem der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollzugsanordnung vor Augen führen und sie veranlassen, mit besonderer Sorgfalt zu prüfen („Warnfunktion“), ob tatsächlich ein besonderes Interesse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert (BayVGH, B.v. 24.3.1999 - 10 CS 99.27 - BayVBl. 1999, 465).
83
Die Antragsgegnerin hat im Bescheid vom 2. Juni 2022, in welchem auch die sofortige Vollziehung der Inobhutnahme angeordnet worden ist, als Begründung hierfür ausgeführt, diese liege überwiegend im Interesse des Kindes. Eine Rückkehr in den Haushalt der Antragstellerin zu 1), bis über einen eventuellen Widerspruch entschieden worden sei, liefe dem Kindeswohl zuwider. Dieses sei gegenüber dem Elternrecht vorrangig. Ein Abbruch der Bindung zwischen dem Kind und den Pflegeeltern sei dem Kind nicht zumutbar. Vor allem durch die frühkindlichen Erfahrungen, Vernachlässigungen und Verwahrlosung sei das Kind für die Folgen eines weiteren Bindungsabbruches besonders sensibilisiert.
84
Diese Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt den vorgenannten lediglich formellen Anforderungen (Hoppe in Eyermann, VwGO, Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 55 m.w.N.; VGH Mannheim, B.v. 9.8.1994 - 10 S 17676/94 - NVwZ-RR 1995, 174). Sie zeigt, dass sich die Antragsgegnerin des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst war und sie enthält die Erwägungen, die sie für die Anordnung als maßgeblich angesehen hat.
85
Damit bleibt der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage im Verfahren W 3 K 22.1107 gegen den Bescheid vom 2. Juni 2022 erfolglos.
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4. Der vorliegende Antrag war damit abzulehnen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 188 Satz 2 VwGO.
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5. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war schon deshalb abzulehnen, weil die Antragsteller die erforderlichen Unterlagen zu ihren wirtschaftlichen Verhältnissen nicht eingereicht haben.