Titel:
Teilweise erfolgreicher Eilantrag auf halbtägige Förderung in einer Kindertageseinrichtung
Normenkette:
SGB VIII § 22, § 22a, § 24 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 1, Abs. 3, Abs. 4 S. 2
Leitsätze:
1. § 24 Abs. 3 S. 1 SGB VIII beinhaltet keinen Anspruch auf Betreuung auf einem Ganztagsplatz, sondern nur auf Förderung im Umfang von sechs zusammenhängenden Stunden von Montag bis Freitag. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Anwendung von § 24 Abs. 3 S. 3 SGB VIII sind ausschließlich die Bedürfnisse des zu betreuenden Kindes und nicht die Betreuungswünsche der Eltern maßgeblich (hier verneint). (Rn. 93) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kinder- und Jugendhilfe, Einstweilige Anordnung, teilweise erfolgreich, Rechtsanspruch ab der Vollendung des dritten Lebensjahres, Halbtägige Förderung in einer Kindertageseinrichtung, Förderung in der Kindertagespflege nur ausnahmsweise, Kindertageseinrichtung, Kita-Platz, halbtags, Kindertagespflege
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22878
Tenor
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 1. September 2022 bis zur Entscheidung des Antragsgegners über den Antrag des Antragstellers vom 3. Juni 2022 einen bedarfsgerechten und zumutbaren Betreuungsplatz in einer eigenen Kindertageseinrichtung zu verschaffen oder ihm einen solchen in einer Einrichtung eines anderen (freien) Trägers bzw. einer kreisangehörigen Gemeinde mit einer Betreuungszeit von täglich (Montag bis Freitag) durchgängig sechs Stunden nachzuweisen. Der zu verschaffende beziehungsweise nachzuweisende Tageseinrichtungsplatz muss vom Wohnsitz des Antragstellers in H. bei Nutzung eines Personenkraftwagens oder - sollte ein solcher nicht für die Beförderung des Antragstellers zur Verfügung stehen - öffentlicher Verkehrsmittel binnen 30 Minuten erreichbar sein. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller 1/3, der Antragsgegner 2/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antragsteller ist ein am ... 2018 geborenes Kind. Seine Eltern sind gemeinsam sorgeberechtigt, geschieden und leben getrennt. Der Antragsteller lebt beim Kindsvater, der diesen alleine erzieht.
2
Die Kindsmutter, die unbekannten Aufenthalts ist, hat den Kindsvater bevollmächtigt, unter anderem die elterliche Sorge im Bereich Kindergarten und Schule alleine auszuüben.
3
Der Kindsvater arbeitet derzeit 32 Stunden wöchentlich, mithin 80 Prozent der vollen wöchentlichen Arbeitszeit.
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Die Betreuung des Antragstellers wurde bis zu seinem dritten Geburtstag von einer Tagesmutter sichergestellt.
5
Ausweislich der Datumsangabe auf dem Bildungs- und Betreuungsvertrag schlossen die Eltern mit dem Sankt M. e.V. H. am 21. April 2020 einen Bildungs- und Betreuungsvertrag für den Antragsteller in der Kindertagesstätte „A.“ ab dem 1. Mai 2021 auf unbestimmte Zeit.
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Die dem Antragsteller zur Seite gestellte Fachkraft für Einzelintegration stellte bei diesem einen erhöhten sozial-emotionalen Förderbedarf fest.
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Am 7. April 2022 wandte sich die Kindertagesstätte „A.“ im Wege einer Überlastungsanzeige an den Sankt M. e.V. H. und teilte mit, dass von dem Antragsteller eine Gefährdung ausgehe. Sie forderte den Sankt M. e.V. H. auf, den Bildungs- und Betreuungsvertrag zum 31. Mai 2022 zu beenden.
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Mit Schreiben vom 27. April 2022 kündigte der Sankt M. e.V. H. den Kinderbetreuungsvertrag zum 31. Mai 2022 und mit Schreiben vom 2. Juni 2022 erneut zum 31. Juli 2022.
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Der Kindsvater wandte sich zwischenzeitlich an den Antragsgegner mit der Bitte um Vermittlung.
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Das daraus resultierende Angebot des Sankt M. e.V. H., einen neuen Bildungs- und Betreuungsvertrag vom 1. August 2022 bis zum 31. August 2022 bei einer Buchungszeit von täglich sechs Stunden zu schließen, lehnte der Kindsvater in Vertretung des Antragstellers ab.
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Am 3. Juni 2022 und am 5. Juli 2022 wandte sich der Kindsvater schriftlich an den Antragsgegner und bat ihn darum, die Bemühungen zur Vermittlung eines passenden Betreuungsplatzes zu forcieren.
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Mit Schreiben vom 12. Juli 2022 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller im Wesentlichen mit, dass der Antragsgegner über den üblichen Rahmen hinaus telefonisch wie schriftlich aktuell 16 Einrichtungen angefragt und um die Prüfung einer möglichen Aufnahme gebeten habe. Zudem seien die dem Antragsgegner zur Verfügung stehenden Kindertagespflegestellen ebenfalls auf Geeignetheit und Aufnahmemöglichkeit hin überprüft worden. Bislang habe es keine Zusage für eine Aufnahme des Antragstellers gegeben, sodass die Möglichkeit bestehe, dass es zum 1. September 2022 keinen Betreuungsplatz für den Antragsteller geben werde. Der Kindsvater sei mehrfach darauf hingewiesen worden, dass er für die Sicherstellung der Betreuung und Erziehung seines Sohnes die Verantwortung trage und gegebenenfalls bei nicht vorhandenem Betreuungsplatz seine berufliche Situation verändern müsse.
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Am 13. Juli 2022 wandte sich der Antragsteller an das Verwaltungsgericht Würzburg und beantragte den Erlass folgender einstweiliger Anordnung:
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Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 1. September 2022 entweder einen seinem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer eigenen Kindertageseinrichtung zu verschaffen oder ihm einen solchen in einer Einrichtung eines anderen (freien) Trägers bzw. einer kreisangehörigen Gemeinde oder in Kindertagespflege bei einem Tagesvater oder einer Tagesmutter, der/die bereit ist, den Antragsteller aufzunehmen, nachzuweisen und zwar im Umfang von Montag bis Donnerstag von 7:00 Uhr bis 16:00 Uhr zu je 9 Stunden täglich und Freitag von 7:00 Uhr bis 15:30 Uhr zu 8 Stunden und 30 Minuten, insgesamt 44 Stunden und 30 Minuten wöchentlicher Buchungszeit und einer durchschnittlichen täglichen Buchungszeit von 8 Stunden und 54 Minuten.
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Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die Sicherstellung der Betreuung für den Antragsteller und den Kindsvater existenziell wichtig sei. Der Kindsvater könne seine wöchentliche Arbeitszeit nicht weiter reduzieren. Ansonsten sehe er sich außerstande, den Unterhalt für sich und den Antragsteller sicherzustellen. Der Arbeitgeber des Kindsvaters habe bereits signalisiert, dass der Kindsvater seine Arbeitszeit nicht weiter reduzieren könne. Die Eltern des Kindsvaters könnten die Betreuung des Antragstellers ebenfalls nicht sicherstellen.
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Der Kindsvater habe bereits alle ihm bekannten Kindergärten im Umkreis von Hausen erfolglos abgefragt, ob der Antragsteller aufgenommen werden könne. Wenn der Antragsteller keinen Kindergartenplatz und keinen sonstigen Betreuungsplatz besuchen könne, werde dies durch die fehlenden Sozialkontakte und die nicht fachlich pädagogische Betreuung negativen Einfluss auf die Entwicklung des Antragstellers haben. Dies schädige das Kindeswohl. Der Kindsvater habe auch sofort nach der ersten Kündigung durch den Betreiber die entsprechende Fachstelle des Jugendamtes für den Kreis Miltenberg eingeschaltet und um Unterstützung gebeten. Er habe auf diesem Wege bislang kein für ihn tragfähiges Ergebnis erhalten.
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Am 3. Juni 2022 und am 5. Juli 2022 habe der Kindsvater den Antragsgegner schriftlich darum gebeten, die Bemühungen zu forcieren. Bis zum Zeitpunkt des Eingangs des vorliegenden Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei weder ein Platz in einer Tagestätte noch ein solcher in einer Alternativeinrichtung nachgewiesen worden. Der Anordnungsgrund sei evident.
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Es sei zulässig, die Hauptsache vorläufig vorwegzunehmen. So sei es völlig ausgeschlossen, bis zum 1. September 2022 eine Entscheidung in der Hauptsache herbeizuführen. Angesichts des vorliegenden Sachverhalts sei größte Eile geboten, um schwere Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. In Fällen dieser Art gelte das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache wegen des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz nicht.
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Hinzu komme, dass es bereits jetzt voraussehbar sei, dass ein Anordnungsanspruch bestehe. Der Antragsgegner habe als Träger der öffentlichen Jugendhilfe dem Antragsteller nach § 24 Abs. 2 SGB VIII in Verbindung mit § 27 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB I entweder einen Platz in einer eigenen Kindertageseinrichtung zu verschaffen oder in einer Einrichtung eines anderen, gegebenenfalls auch freien Trägers beziehungsweise einer kreisangehörigen Gemeinde oder in Kindertagespflege bei einem Tagesvater oder einer Tagesmutter nachzuweisen, der/die bereit sei, den Antragsteller aufzunehmen, sofern ein entsprechender Bedarf gemäß § 24 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII in Verbindung mit § 45a AGSG rechtzeitig geltend gemacht werde. Der Kindsvater habe diesen Bedarf rechtzeitig geltend gemacht. Den Antragsgegner treffe damit eine unbedingte Garantie und Gewährleistungshaftung, was dieser offensichtlich verkenne.
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Der Antragsgegner beantragte,
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Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Antragsteller in seiner wohnsitzeigenen Gemeinde einen alters- und bedarfsgerechten Ganztagesplatz gehabt habe, welcher mit der Kündigung nicht mehr zur Verfügung stehe. Der Kindsvater habe die damalige Kündigung akzeptiert. Erst im Nachgang sei der Fachdienst Kindertagesbetreuung des Antragsgegners informiert worden und habe noch darauf hinwirken können, dass mit dem Träger der Einrichtung eine Verlängerung der Betreuung bis zum 31. Juli 2022 sichergestellt werden habe können. Der Kindsvater sei von sich aus nicht selbst aktiv auf die Suche einer neuen möglichen Einrichtung gegangen und habe sich hinsichtlich eines neuen Betreuungsplatzes gänzlich auf die vollumfängliche Versorgung durch die Landkreisverwaltung fokussiert. Der Fachdienst Kindertagesbetreuung habe sich im Rahmen seines Auftrages nach § 24 Abs. 5 SGB VIII über das übliche Maß hinaus für eine Anschlusseinrichtung engagiert, bislang jedoch habe keine der infrage kommenden Einrichtungen, die sich alle in kommunaler oder freier Trägerschaft befänden, eine Aufnahme zum 1. September 2022 bestätigt. Als Träger der öffentlichen Jugendhilfe habe der Antragsgegner den sorgeberechtigten Kindesvater über das Platzangebot im örtlichen Einzugsbereich und darüber hinaus informiert. Ebenfalls sei der Kindsvater mit Blick auf den bestehenden Bedarf in der sozialemotionalen Entwicklung über die pädagogischen Konzepte und Besonderheiten im Zusammenhang auf die angebotenen Buchungszeiten beraten und informiert worden. Trotz der in Aussicht gestellten Ausnahmegenehmigungen zur bestehenden Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII durch eventuell entstehende Überbelegungen von Gruppen habe der Antragsgegner bis dato keinen Träger zur Aufnahme des Antragstellers bewegen können. Ferner habe der Antragsgegner neben der Unterbringung in einer Tageseinrichtung seine eigenen ergänzenden Möglichkeiten einer Betreuung geprüft. Die aktuell 15 berechtigten und qualifizierten Tagespflegepersonen des gesamten Landkreises seien durchweg belegt. Eine alters- und bedarfsgerechte Aufnahme des Antragstellers sei geprüft worden. Aufgrund des besonderen Förderbedarfs des Antragstellers und der geforderten Buchungszeit von 44 Stunden und 30 Minuten wöchentlich könne der Antragsteller weder voll noch ergänzend in der Kindertagespflege betreut und gefördert werden. Für die Suche nach einem dem Förderbedarf entsprechenden Betreuungsplatz für den Antragsteller sei eine dringende, hauptsächlich durch den Kindsvater veranlasste Klärung des Unterstützungs- und Förderbedarfs, insbesondere im sozial-emotionalen Bereich, erforderlich. Dies sei bislang jedoch nicht erfolgt.
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Der Kindergarten des Sankt M. e.V. H. hat vom 4. August 2022 bis zum 31. August 2022 geschlossen.
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Der Kindsvater hat zur Betreuung des Antragstellers Urlaub vom 8. August 2022 bis zum 31. August 2022.
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Im Übrigen wird auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Beteiligten sowie auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten des Antragsgegners, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
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Streitgegenstand des Verfahrens ist vorliegend das Begehren des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller ab 1. September 2022 im Umfang von Montag bis Donnerstag zu je neun Stunden von 7:00 Uhr bis 16:00 Uhr und Freitag zu acht Stunden und dreißig Minuten von 7:00 Uhr bis 15:30 Uhr entweder einen seinem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer eigenen Kindertageseinrichtung zu verschaffen oder ihm einen solchen in einer Einrichtung eines anderen, auch freien Trägers bzw. einer kreisangehörigen Gemeinde oder in Kindertagespflege bei einem Tagesvater oder einer Tagesmutter, der/die bereit ist, den Antragsteller aufzunehmen, nachzuweisen.
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Der Antragsteller hat mit seinem Begehren nur im tenorierten Umfang Erfolg.
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Der Antrag ist zulässig.
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Der Zulässigkeit steht insbesondere nicht entgegen, dass der Antragsteller, vertreten durch den Kindsvater, den im Anschluss an die trägerseits zum 31. Juli 2022 erfolgte Kündigung neu angebotenen Bildungs- und Betreuungsvertrag vom 20. Mai 2022 abgelehnt hat. Der Antragsteller hat dadurch sein Rechtsschutzbedürfnis nicht verloren.
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So fehlt das Rechtsschutzbedürfnis immer dann, wenn der Antragsteller sein Ziel auf anderem Wege schneller und einfacher erreichen hätte können (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 34, Wöckel in Eyermann, VwGO, Vorbem. §§ 40 - 53 Rn. 11 m.w.N.).
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Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 dieses Vertrages war dessen Laufzeit bis zum 31. August 2022 befristet. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 dieses Vertrages verlängert sich der Vertrag automatisch um ein Jahr, sofern er nicht mit einer Frist von drei Monaten zum 31. August 2022 bzw. zum 31. August des Folgejahres gekündigt wird.
31
Der angebotene Bildungs- und Betreuungsvertrag vom 20. Mai 2022 hätte daher nicht zwangsläufig zum 31. August 2022 ohne weiteres Zutun der Vertragsparteien automatisch geendet.
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Daher wäre es möglich gewesen, die Betreuung des Antragstellers jedenfalls im Umfang von sechs Stunden täglich von Montag bis Freitag für die Zeit ab dem 1. September 2022 zu sichern.
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Allerdings hätte der Antragsteller auf diese Weise nicht sein Ziel erreichen können (vergleiche für den Fall, dass ein zumutbares Betreuungsangebot nicht angenommen wurde etwa: VG Augsburg, B.v. 19.2.2020 - Au 3 E 19.2161 - BeckRS 2020, 3478 Rn. 17 m.w.N.).
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Denn es stand bereits im Zeitpunkt des Zugangs des Vertragsangebots beim Antragsteller bzw. beim Kindsvater zweifelsfrei fest, dass der angebotene Vertrag über den 31. August 2022 keinen Bestand gehabt hätte.
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Davon ist vorliegend auszugehen. Zunächst ist festzustellen, dass dem Gericht zwar keine entsprechende Erklärung des Trägers der betreffenden Kindertagesstätte an den Kindsvater vorliegt. Aus der Verwaltungsakte des Antragsgegners, insbesondere aus der Überlastungsanzeige der Kindertagesstätte an deren Trägerschaft vom 7. April 2022, ergibt sich allerdings das Bestreben der Kindertagesstätte, den Bildungs- und Betreuungsvertrag vom 21. April 2020 zeitnah aufzulösen.
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Die Kündigungen vom 27. April 2022 und vom 2. Juni 2022 beziehen sich ebenfalls ausschließlich auf den Bildungs- und Betreuungsvertrag vom 21. April 2020, der zum 31. Juli 2022 endete. Für das Gericht ist insbesondere nicht ersichtlich, dass diese Kündigungen auch eine Regelungswirkung auf den am 20. Mai 2022 angebotenen Vertrag haben könnten.
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Aus einer E-Mail des Fachdienst Kindertagesbetreuung - Fachberatung Kindertageseinrichtungen beim Antragsgegner an die betreffende Kindertagesstätte sowie deren Träger geht jedoch der Wille hervor, den Antragsteller (nur) noch bis zum 31. August 2022 zu betreuen.
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Dies deckt sich mit den Angaben des Antragstellers und des Antragsgegners, die diese unabhängig voneinander auf Nachfrage des Gerichts gemacht haben. Insbesondere hat der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 2. August 2022 erklärt, dass am 1. August 2022 nochmals Rücksprache mit dem Träger der betreffenden Kindertageseinrichtung gehalten worden ist. Dabei sei zum Ausdruck gebracht worden, dass zwischen dem Kindsvater und dem Personal der Kindertageseinrichtung kein ausreichendes Vertrauensverhältnis mehr bestehe. Eine Verlängerung des angebotenen Bildungs- und Betreuungsvertrages wäre daher selbst dann nicht erfolgt, wenn der Kindsvater diesen Vertrag angenommen hätte.
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Nach alledem gelangt das Gericht daher zu der Überzeugung, dass seitens des Trägers bereits im Zeitpunkt des Angebots des Vertrags die Absicht bestanden hat, diesen zum 31. August 2022 definitiv zu beenden und ihn nicht darüber hinaus fortzuführen.
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Der Antragsteller hat daher für seinen Antrag das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
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Der Antrag ist in der Sache nur teilweise begründet.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung - vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen - um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gefahr zu verhindern oder aus anderen Gründen notwendig erscheint (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Der Antragsteller hat sowohl die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, den sog. Anordnungsgrund, als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts, den sog. Anordnungsanspruch, glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
43
Der Antragsteller konnte seinen Anordnungsanspruch nur im tenorierten Umfang glaubhaft machen.
44
Dies ergibt sich aus Folgendem:
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Der Anordnungsanspruch ist der materielle Anspruch, den der Antragsteller als Kläger im Hauptsacheverfahren geltend macht. Gegenstand der Prüfung des Anordnungsanspruchs ist damit die Frage, ob der Antragsteller im Klageverfahren voraussichtlich obsiegen wird. Der maßgebliche Zeitpunkt für das Bestehen des Anordnungsanspruchs bestimmt sich nach denselben Grundsätzen wie für das Hauptsacheverfahren. Da es sich im Hauptsacheverfahren nicht um eine Anfechtungsklage handeln kann, ist nach Maßgabe des materiellen Rechts regelmäßig der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich. Die Prüfung des Anordnungsanspruchs erfolgt auf Grundlage des glaubhaft gemachten bzw. ermittelten Sachverhalts. Wird der materielle Anspruch aus einer Ermessensvorschrift abgeleitet, ist ein auf Vornahme gerichteter Anordnungsanspruch grds. nur gegeben, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt (Buchheister in Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 123 Rn. 16 ff.).
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Zunächst ist festzustellen, dass der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch aus § 24 Abs. 2 Satz 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch vom 11. September 2012 (BGBl. I, S. 2022), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Juni 2022 (BGBl. I S. 959) - SGB VIII herleiten kann.
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Danach hat ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Der Antragsteller ist am 27. April 2018 geboren und hat damit das dritte Lebensjahr vollendet. Er kann folglich entgegen der Auffassung des Antragstellerbevollmächtigten aus der Antragsschrift vom 13. Juli 2022 aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII keinen Anordnungsanspruch herleiten, da dieser ausschließlich Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres aktivlegitimiert.
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Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch im tenorierten Umfang aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII glaubhaft gemacht.
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Nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das das dritte Lebensjahr vollendet hat, bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung.
50
Dabei handelt es sich um einen zwingenden und klar formulierten Rechtsanspruch des Antragstellers gegen den zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Nach dem Wortlaut der Norm hat der Antragsgegner hierbei auch keinen Ermessensspielraum. Durch die Verwendung des Indikativs in § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII und der Regelung, dass ein betreffendes Kind bis zum Schuleintritt den Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung „hat“, steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Gesetzgeber den zuständigen Behörden auch bei atypischen Fallgestaltungen keinen Ermessensspielraum einräumen wollte. Der Anspruch ist ebenfalls unabhängig davon, ob anderweitige Betreuungsmöglichkeit bestehen. Es handelt sich dabei um ein subjektives öffentliches Recht des Antragstellers, das dieser im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch durchsetzen kann (Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 2 Rn. 6, 7 m.w.N.; Kaiser in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 24 Rn. 29, 30; Beckmann in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 24 Rn. 45; OVG Saarl, B.v. 8.10.2020 - 2 B 270/20 - BeckRS 2020, 26949 Rn. 11).
51
Der örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe hat diesen gesetzlichen Anspruch auf den Besuch einer Tageseinrichtung im Rahmen einer Gewährleistungspflicht zu erfüllen. Diese Amtspflicht ist nicht auf die vorhandenen Kapazitäten begrenzt. Vielmehr trifft den gesamtverantwortlichen Jugendhilfeträger die unbedingte Pflicht, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte - freie Träger der Jugendhilfe, Kommunen oder Tagespflegepersonen - bereitzustellen (Beckmann in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 24 Rn. 45; BVerfG, U.v. 21.11.2017 - 2 BvR 2177/16 - NVwZ, 140 - 156 (153); NdsOVG, B.v. 20.6.2019 - 10 ME 134/19 - BeckRS 2019, 12120 Rn. 5 m.w.N.).
52
Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut der Norm beinhaltet der Anspruch aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII allein die Betreuung in einer Kindertagesstätte und nicht die Inanspruchnahme der Betreuung in der Kindertagespflege. Dies ergibt sich bereits daraus, dass § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII im Wortlaut ausdrücklich auf die Tageseinrichtung abstellt. Nach § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII kann die Betreuung in der Kindertagespflege bei besonderem Bedarf oder ergänzend erfolgen. Der Gesetzgeber stellt damit klar, dass es sich bei der Kindertagesstätte im Rahmen des § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII um ein Aliud zur Kindertagespflege handelt. Diese Annahme wird durch den Umkehrschluss aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII bestätigt, nach dem die frühkindliche Förderung sowohl in der Kindertageseinrichtung als auch in der Kindertagespflege erfolgen kann. Das dem Antragsteller nach § 5 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII eingeräumte Wahlrecht besteht damit nur bei den unterschiedlichen Kindertageseinrichtungen (OVG Berlin-Bbg, B.v. 28.9.2015 - OVG 6 S 41.15 - BeckRS 2015, 52892 Rn. 4; Struck/Schweigler in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 24 Rn. 69; Winkler in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 65. Edition, Stand 1. März 2022, § 24 Rn. 45).
53
Nach der Überzeugung des Gerichts beinhaltet § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII nicht den Anspruch auf Betreuung auf einem Ganztagsplatz, sondern nur auf Förderung im Umfang von sechs zusammenhängenden Stunden von Montag bis Freitag.
54
So ist festzustellen, dass sich in § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII selbst keine zeitlichen Angaben zum Umfang des Anspruchs auf Förderung in der Kindertageseinrichtung finden.
55
Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Tageseinrichtungen Einrichtungen, in denen sich Kinder für einen Teil des Tages oder ganztägig aufhalten und in Gruppen gefördert werden. Danach wäre dem Grunde nach auch eine ganztägige Betreuung möglich.
56
Allerdings regelt § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe darauf hinzuwirken haben, dass für Kinder, die das dritte Lebensjahr vollendet haben, bis zu deren Schuleintritt ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen zur Verfügung steht.
57
Dies lässt den Schluss zu, dass der Gesetzgeber dadurch den Anspruch auf Förderung von Kindern ab der Vollendung des dritten Lebensjahres auf lediglich einen Teil des Tages beschränken wollte.
58
Dieses Ergebnis ergibt sich auch aus der Gegenüberstellung von § 24 Abs. 3 SGB VIII mit § 24 Abs. 2 SGB VIII. Der Umfang der täglichen Förderung aus dem Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII richtet sich gemäß § 24 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII i.V.m. § 24 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII nach dem individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes und seiner personensorgeberechtigten Eltern. Danach ist auch eine Ganztagsbetreuung des anspruchsberechtigten Kindes möglich (BayVGH, U.v. 22.7.2016 - 12 BV 15.719 - BeckRS 2016, 49986 Rn. 45). Eine § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII entsprechende Regelung, mit der der Gesetzgeber zwischen der nicht näher definierten Betreuungsform aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII und der in § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII geregelten Ganztagsbetreuung differenziert, fehlt dabei in § 24 Abs. 2 SGB VIII. Der Gesetzgeber hat folglich die Ganztagsbetreuung in § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII im Gegensatz zu § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII gesondert geregelt. Infolgedessen kann § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII keinen Anspruch auf Ganztagsbetreuung beinhalten.
59
Überdies fehlt in § 24 Abs. 3 SGB VIII ein entsprechender Verweis auf § 24 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass der zeitliche Umfang des Betreuungsanspruchs aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sich nicht mehr am individuellen Bedarf wie der Anspruch aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII orientiert. Dieser beinhaltet - wie bereits dargelegt - auch den Anspruch auf Ganztagsbetreuung, sofern dies nötig ist, um dem individuellen Bedarf des Kindes und seiner personensorgeberechtigten Eltern gerecht zu werden. Im Umkehrschluss bringt der Gesetzgeber damit den Willen zum Ausdruck, dass der Anspruch aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII gerade nicht so umfassend ist wie der Anspruch aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII. Auch dies spricht gegen einen subjektiv-rechtlichen Anspruch auf Ganztagsbetreuung aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII.
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Darüber hinaus und unabhängig davon ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Bereitstellung von Ganztagsplätzen lediglich eine objektivrechtliche Pflicht begründet hat (BVerwG, U.v. 14.11.2002 - 5 C 57/01 - juris - Rn. 21 m.w.N.). Diese Hinwirkungspflicht aus § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII wäre sinnlos, wenn auf eine Ganztagsbetreuung bereits ein subjektiv-rechtlicher Anspruch bestünde (NdsOVG, B.v. 15.12.2021 - 10 ME 170/21 - BeckRS 2021, 38769 Rn. 9; NdsOVG, B.v. 24.7.2019 - 10 ME 154/19 - BeckRS 2019, 15408 Rn, 4; NdsOVG, B.v. 10 ME 395/18 - BeckRS 2018, 33033 Rn. 4; VGH BW, B.v. 21.7.2020 - VGH 12 S 1545/20 - BeckRS 2020, 19166 Rn. 16).
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Nach alledem verschafft § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII dem Antragsteller einen Anspruch auf Betreuung, allerdings keinen Anspruch auf Ganztagsbetreuung, ohne jedoch eine konkrete Aussage über den zeitlichen Umfang dieses Anspruchs zu treffen (zustimmend: Kaiser in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 24 Rn. 34, 35; Winkler in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 65. Edition, Stand 1. März 2022, § 24 Rn. 43 m.w.N.; Beckmann in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 24 Rn. 47 ff.).
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Bei der Bestimmung des zeitlichen Umfangs wäre es zunächst denkbar, diesen flexibel anhand des jeweiligen Einzelfalles festzustellen. Ausgangspunkt wäre dabei eine Betreuungszeit von vier bis Stunden täglich, sodass jedenfalls ein Teil des Tages abgedeckt wäre (Rixen in Schlegel/Voelzke; jurisPK SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 24 Rn. 21).
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Hiergegen spricht jedoch, dass sich der Gesetzgeber in § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII durch den unterbliebenen Verweis auf § 24 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII dazu entschieden hat, nicht mehr auf den individuellen Betreuungsbedarf der einzelnen Person abzustellen. In der Folge wäre daher eine Feststellung der zustehenden Betreuungszeiten anhand des individuellen Einzelfalles ein Verstoß gegen den insoweit eindeutig geäußerten gesetzgeberischen Willen. Der Gesetzgeber hat durch die Konzeption des § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass der zustehende Betreuungsanspruch pauschaliert für alle Anspruchsinhaber im gleichen Umfang bestehen soll, dies unabhängig vom individuellen Betreuungsbedarf.
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Nach einem Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung umfasst der Anspruch aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII die Betreuung an fünf Tagen in der Woche zu je fünf Stunden täglich. Ausgangspunkt der Beurteilung ist dabei § 3 Satz 1 ArbZG. Danach darf die reguläre tägliche Arbeitszeit in Vollzeit acht Stunden nicht überschreiten. Für eine Halbtagstätigkeit wären daher vier Stunden täglich zu veranschlagen. Für die Fahrt von der Kindertageseinrichtung nach Hause, nachdem das Kind dort zur Betreuung abgegeben worden ist, werden dreißig Minuten Fahrtzeit angesetzt. Entsprechendes gilt für die Fahrt von der Wohnung zur Kindertageseinrichtung, um das Kind nach dem Ende der täglichen Betreuungszeit wieder abzuholen (VG Stuttgart, B.v. 2.9.2021 - 9 K 3324/21 - BeckRS 2021, 40849 Rn. 42; HessVGH, B.v. 19.5.2020 - 10 B 1084/20 - BeckRS 2020, 55364; VG Darmstadt, B.v. 26.10.2021 - 2 L 1953/21.DA, 10 B 2295/21 - BeckRS 2021, 46961, Rn. 7 - 9).
65
Diesbezüglich ist jedoch festzustellen, dass eine Betreuungszeit von fünf Stunden täglich nicht der Zielrichtung des Gesetzgebers entspricht. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte die Verlässlichkeit der nicht-elterlichen Kinderbetreuung gestärkt werden. Dabei war ein hoher Grad an Verlässlichkeit gewünscht, um eine stabile und verlässliche Kinderbetreuung zu gewährleisten. Es sollte insbesondere eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben erfolgen (vgl. BT-Drs. 16/9299 S. 1). So gibt § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII ausdrücklich vor, dass Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege den Eltern dabei helfen sollen, Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und familiäre Pflege besser miteinander vereinbaren zu können.
66
Der überwiegende Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung sieht diese Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und familiärer Pflege erst ab einer Betreuung im Umfang von sechs Stunden täglich an fünf Tagen unter der Woche (OVG Saarl, B.v. 6.5.2022 - 2 B 60/22 - BeckRS 2022, 9839, Rn. 13; NdsOVG, B.v. 15.12.2021 - 10 ME 170/21 - BeckRS 2021, 38769, Leitsatz 2, Rn. 14; VG München, B.v. 6.8.2019 - M 18 E 19.3248 - BeckRS 2019, 41598 Rn. 26; VG München, B.v. 6.4.2021 - M 18 E 21.1289 - BeckRS 2021, 7704 Rn. 25; Kaiser in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 24 Rn. 34; Beckmann in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 24 Rn. 49; Struck/Schweigler in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 24 Rn. 63 m.w.N.).
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Im bayerischen Landesrecht, welches nach § 24 Abs. 6 SGB VIII unberührt bleibt, soweit es die in § 23 SGB VIII getroffenen Regelungen übersteigt, findet sich ebenfalls keine Konkretisierung des Betreuungsanspruchs. Allerdings legt das Bayerische Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz (BayKiBiG) vom 8. Juli 2005 (GVBl. S. 236, BayRS 2231-1-A), zuletzt geändert durch § 1 Gesetz vom 23. Dezember 2021 (GVBl. S. 671) in Art. 21 Abs. 3 Satz 1 BayKiBiG fest, dass der Basiswert für den Umfang des Förderanspruchs der jeweiligen Einrichtung gegenüber den Gemeinden in Höhe von einer drei- bis vierstündigen Bildung ausgeht. Nach Art. 19 Nr. 4 BayKiBiG bedarf es für eine Förderung durch die jeweiligen Gemeinden einer Mindestöffnungszeit von vier Tagen und mindestens 20 Stunden in der Woche. Art. 21 Abs. 4 Satz 5 BayKiBiG erlaubt es dem Träger sogar, Mindestbuchungszeiten von 20 Stunden pro Woche beziehungsweise 4 Stunden pro Tag festzulegen.
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In der Konsequenz spricht daher vieles dafür, von einer täglichen Betreuungszeit im Hinblick auf eine mögliche Erwerbstätigkeit im Umfang von vier Stunden täglich auszugehen. Dies deckt sich auch mit dem Verständnis der Arbeitszeit einer Halbtagsstelle aus § 3 Satz 1 ArbZG.
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Allerdings greift die Annahme einer einfachen Fahrtdauer von der Kindertagesstätte nach Hause und wieder zurück von je 30 Minuten zu kurz. Diesbezüglich ist festzustellen, dass für die maximal zumutbare Entfernung der Kindertagesstätte vom Wohnort eine einfache Fahrtzeit von 30 Minuten angesetzt wird (BayVGH, U.v. 22.7.2016 - 12 BV 15.719 - BeckRS 2016, 49986 Rn. 46 ff.). So bleibt dabei die Möglichkeit unberücksichtigt, dass die Arbeitsstätte von der Kindertagesstätte aus nicht innerhalb von 30 Minuten einfacher Fahrtzeit erreichbar sein könnte. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitsort auf den Wohnort bezogen in entgegengesetzter Richtung zur Kindertagesstätte liegt. Für die Entfernung des Arbeitsortes zum Wohnort setzt die Kammer ebenfalls 30 Minuten einfache Fahrtzeit an. Pro einfacher Fahrt sind damit 60 Minuten anzusetzen.
70
Überdies ist festzustellen, dass die in der Rechtsprechung angesetzte Fahrtzeit optimale Bedingungen zugrunde legt. Es ist gerichtsbekannt, dass die für das Zurücklegen von Fahrtstrecken notwendige Fahrtzeit häufig starken Schwankungen unterworfen ist. Mit einer Erhöhung der einfachen Fahrtzeit kann einerseits Störungen im Verkehrsfluss und andererseits weiteren nicht vorhersehbaren Verzögerungen gleichermaßen Rechnung getragen werden. Dies deckt sich mit den Grundsätzen der Förderung aus § 22 Abs. 2 Satz 1 Nummer 3 SGB VIII, wonach die Tageseinrichtungen für Kinder den Eltern dabei helfen sollen, Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und familiäre Pflege besser miteinander vereinbaren zu können.
71
Nach alledem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die tatsächlich notwendige Fahrtzeit entsprechend angepasst werden muss. Hier erscheint es angemessen, von einer einfachen Fahrtzeit von einer Stunde, also zwei Stunden täglich, auszugehen.
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Insgesamt ist daher von einem zeitlichen Umfang der täglichen Betreuung gemäß § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII von sechs Stunden täglich auszugehen.
73
Auf den Fall übertragen bedeutet dies, dass der Antragsteller allein aufgrund der Tatsache, dass er das dritte Lebensjahr vollendet hat, den Anspruch im tenorierten Umfang innehat.
74
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist die Sicherstellung der Betreuung des Antragstellers im tenorierten Umfang gerade nicht der Eigenverantwortung des Kindsvaters überlassen.
75
Da dieser Anspruch unabhängig von den tatsächlich vorhandenen Plätzen in den Kindertageseinrichtungen besteht und den Träger der öffentlichen Jugendhilfe damit eine Gewährleistungspflicht trifft, kann sich der Antragsgegner nicht mit Erfolg darauf berufen, nicht genügend Betreuungsplätze zu haben. Vielmehr ist der Antragsgegner dazu verpflichtet, im Bedarfsfall neue Betreuungskapazitäten zu schaffen.
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Auch ist es unschädlich, dass der Antragsteller beziehungsweise der Kindsvater nicht zivilrechtlich gegen die Kündigungen vom 27. April 2022 und vom 2. Juni 2022 vorgegangen ist (Winkler in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 65. Edition, Stand 1. März 2022, § 24 Rn. 38, 39 m.w.N.).
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Die zulässige maximale Entfernung des nachzuweisenden Betreuungsplatzes ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung der für § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII aufgestellten Grundsätze und beträgt 30 Minuten einfache Fahrtzeit vom Wohnort (BayVGH, U.v. 22.7.2016 - 12 BV 15.719 - BeckRS 2016, 49986 Rn. 46 ff.). Hieraus ergibt sich die erfolgte Tenorierung.
78
Nach alledem hat der Antragsteller vorliegend einen Anspruch auf Betreuung im Umfang von sechs Stunden an fünf Tagen aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII glaubhaft gemacht.
79
Weitergehende bzw. ergänzende Ansprüche konnte der Antragsteller hingegen nicht glaubhaft machen. Dies ergibt sich aus Folgendem:
80
Der Antragsteller kann den Anordnungsanspruch im begehrten Umfang nicht nach § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII glaubhaft machen. So handelt es sich dabei unter Bezugnahme auf die obigen Ausführungen um eine objektiv-rechtliche Verpflichtung zulasten der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, die dem Antragsteller kein subjektiv-öffentliches Recht einräumt (Beckmann in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 24 Rn. 48, 51; Kaiser in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 24 Rn. 35).
81
Auch aus § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII kann der Antragsteller den begehrten Anordnungsanspruch nicht herleiten beziehungsweise glaubhaft machen.
82
Danach kann das Kind bei besonderem Bedarf oder ergänzend in der Kindertagespflege gefördert werden. Was darunter im Einzelnen zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber jedoch nicht ausdrücklich geregelt.
83
Nach der Kommentarliteratur soll ein besonderer Bedarf im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 1 Alt. 3 SGB VIII jedenfalls dann vorliegen, wenn eine Förderung in der Kindertageseinrichtung aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht möglich ist. Teilweise wird auch gefordert, dass dieser besondere Bedarf durch eine spezifische ärztliche Bescheinigung, aus der hervorgeht, aufgrund welcher Diagnose ein solcher besonderer Bedarf besteht, der die Förderung in einer Tageseinrichtung unzumutbar macht, nachgewiesen wird (Brackmann/Beckmann, Rechtsprechungsübersicht Tagesbetreuung (2017-2019), JAmt 118-123 (120); Beckmann in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 24 Rn. 55 ff.; Struck/Schweigler in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 24 Rn. 69).
84
Eine ergänzende Förderung im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 3 Alt. 2 SGB VIII soll hingegen die quantitative, zeitlich ergänzende Betreuung vor oder nach den täglichen Betreuungszeiten in der Tageseinrichtung im Fall eines über den Rechtsanspruch hinausgehenden Bedarfs an Ganztagsbetreuung umfassen. Danach ist die Betreuung in der Tagespflege möglich, wenn das betreffende Kind daneben eine Tageseinrichtung besucht (Beckmann in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 24 Rn. 53 m.w.N.).
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Nach der Auffassung der Kammer sind bei der Anwendung von § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII die folgenden Maßstäbe anzuwenden:
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Zunächst ist festzustellen, dass die Betreuung in der Kindertageseinrichtung nach dem Willen des Gesetzgebers die Regel und die Betreuung in der Kindertagespflege die Ausnahme darstellt. Wie bereits erörtert ergibt sich dies aus dem eindeutigen Wortlaut des § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sowie im Umkehrschluss aus § 24 Abs. 2 SGB VIII, bei dem beide Betreuungsformen gleichwertig sind und der Anspruchsinhaber dort zwischen diesen nach § 5 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII wählen kann. Der Gesetzgeber ist damit der fachlichen Forderung gefolgt, für Kinder ab dem dritten Lebensjahr die Tageseinrichtung zur primären Förderungsform auszubauen (Struck/Schweigler in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 24 Rn. 69).
87
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist für die Bestimmung des Bedarfs im Rahmen des § 24 SGB VIII generell auf den subjektiven Betreuungswunsch der Eltern und damit auf deren subjektive Bewertung des Betreuungsbedarfs abzustellen (BVerwG, U.v. 23.10.2018 - 5 C 15/17 - juris Rn. 23).
88
Dies würde bedeuten, dass sich die Auslegung der Voraussetzungen des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII an den subjektiven Betreuungswünschen der Eltern zu orientieren hätte.
89
Aus den Entscheidungsgründen der zuvor zitierten Entscheidung geht jedoch hervor, dass sich dieser aufgestellte Grundsatz lediglich auf Ansprüche aus dem Achten Buch Sozialgesetzbuch bezieht, die wie § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII und § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII über die Erfüllung einer Altersgrenze hinaus keinerlei weitere Voraussetzungen haben, insbesondere weder einen spezifischen Hilfe- oder Förderbedarf des Kindes noch eine objektiv festzustellende Betreuungsnotwendigkeit fordern (BVerwG, U.v. 23.10.2018 - 5 C 15/17 - juris Rn. 26, 27).
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Hinzu kommt, dass sich diese Rechtsprechung mit dem Begriff des „Bedarfs“ auseinandersetzt und jedenfalls § 24 Abs. 3 Satz 3 Alt. 1 SGB VIII einen „besonderen Bedarf“ voraussetzt.
91
Nach alledem wäre es nach der Überzeugung des Gerichts zu kurz gegriffen, im Rahmen des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII lediglich auf den subjektiven Betreuungswunsch der Eltern abzustellen.
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Die Auslegung der beiden Alternativen des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII hat daher nach der Auffassung des Gerichts normbezogen unter Beachtung der Grundsätze des Achten Buches Sozialgesetzbuch zu erfolgen.
93
Danach sind bei Anwendung von § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII ausschließlich die Bedürfnisse des zu betreuenden Kindes und nicht die Betreuungswünsche der Eltern maßgeblich.
94
Dafür spricht bereits die Überschrift des Dritten Abschnitts im Zweiten Kapitel des Achten Buches Sozialgesetzbuch. Sie lautet „Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege“.
95
Ebenfalls ist das jeweilige Kind nach dem klaren Wortlaut des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII Anspruchsinhaber. Ausdrücklich nicht Anspruchsinhaber sind dagegen die jeweiligen Eltern der zu betreuenden Kinder, sodass dies ebenfalls dagegen spricht, bei der Auslegung auf deren Belange bzw. Betreuungswünsche abzustellen.
96
Nach dem Wortlaut des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII sollen die Kinder in der Kindertagespflege „gefördert“ werden. Dies bedeutet, dass sich die Förderung nach dem daraus erkennbaren Willen des Gesetzgebers an den Bedürfnissen des Kindes orientiert. Ein ausschließliches Abstellen bzw. ein Miteinbeziehen der elterlichen Bedürfnisse wäre keine Förderung des Kindes, sondern eine Förderung der Eltern. Dies wäre damit vom Förderauftrag des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII nicht umfasst.
97
Dieses Ergebnis wird in Hinblick auf § 22 Abs. 3 SGB VIII bestätigt. Danach umfasst der Förderauftrag die Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes und bezieht sich auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes. Er schließt die Vermittlung orientierender Werte und Regeln ein. Die Förderung soll sich am Alter und Entwicklungsstand, den sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten, der Lebenssituation sowie den Interessen und Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren und seine ethnische Herkunft berücksichtigen. Im Ergebnis orientiert sich auch nach § 22 Abs. 3 SGB VIII der Förderauftrag klar und deutlich an den jeweiligen Bedürfnissen des Kindes.
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Ebenfalls nicht im Widerspruch dazu steht § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII, wonach die Tageseinrichtungen und die Kindertagespflege den Eltern dabei helfen sollen, Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und familiäre Pflege besser miteinander vereinbaren zu können. Danach erscheint der Schluss zunächst naheliegend, dass die subjektiven Betreuungswünsche der Eltern ebenfalls bei der Auslegung des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII zu berücksichtigen sind. Allerdings stellt § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII klar, dass die „Leistungserbringung für das Kind“ erfolgt und damit nicht für die Eltern. Das Einbeziehen des elterlichen Bedarfs bei der Auslegung von § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII würde damit eine Leistungserbringung auch an die Eltern bedeuten, was nicht vom normierten Förderauftrag erfasst ist.
99
Einer Einbeziehung der Betreuungswünsche der Eltern im Rahmen des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII steht ebenfalls § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII entgegen. Wie bereits dargelegt hat der Gesetzgeber damit klargestellt, dass nach § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII kein Anspruch auf Ganztagsbetreuung gewährleistet wird. Würde man im Wege des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII unter Einbeziehung der Betreuungswünsche der Eltern jedoch wieder die Möglichkeit einer Ganztagsbetreuung schaffen, wäre der gesetzgeberische Wille aus § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII dahingehend konterkariert. § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII entfaltet daher nach der Überzeugung des Gerichts eine Sperrwirkung gegen die Einbeziehung der Betreuungswünsche der Eltern im Rahmen des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII.
100
Dieses Ergebnis wird auch dadurch getragen, dass in § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII ein Verweis auf § 24 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII fehlt, wie er sich in § 24 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII und § 24 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII findet. Nach § 24 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII richtet sich der Umfang der täglichen Förderung nach dem individuellen Bedarf des Kindes und der personensorgeberechtigten Eltern (BayVGH, U.v. 22.7.2016 - 12 BV 15.719 - BeckRS 2016, 49986 Rn. 45 ff.). Durch das Fehlen dieses Verweises ist im Rahmen des § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII ein diesbezüglicher Rückgriff verwehrt, sodass auf diesen zur Auslegung der Norm nicht zurückgegriffen werden kann.
101
Nach alledem sind damit im Rahmen der Prüfung, ob ein besonderer Bedarf im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 3 Alt. 1 SGB VIII vorliegt oder die Betreuung in der Kindertagespflege ergänzend im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 3 Alt. 2 SGB VIII erfolgt, ausschließlich die Belange des zu betreuenden Kindes maßgeblich.
102
Dies zugrunde gelegt hat der Antragsteller vorliegend weder glaubhaft gemacht, dass ein besonderer Bedarf vorliegt, aufgrund dessen er nicht in einer Regeleinrichtung betreut werden könnte noch auf ihn bezogene Gründe dafür vorliegen, nach denen eine ergänzende Förderung in der Kindertagespflege stattfinden müsste.
103
Bereits aus der Antragsschrift vom 13. Juli 2022 selbst geht hervor, dass der Antragsteller beziehungsweise der Kindsvater davon ausgeht, dass es keine Gründe gibt, die einer Betreuung in der Kindertageseinrichtung entgegenstehen. Er beantragt unter anderem vielmehr, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm einen solchen Betreuungsplatz zuzuweisen beziehungsweise nachzuweisen. Dies deckt sich auch mit den Angaben aus der Verwaltungsakte des Antragsgegners, wonach eine Betreuung in der Kindertageseinrichtung ebenfalls für möglich gehalten wird, wenn auch unter Zuhilfenahme eines Integrationshelfers bzw. einer Einzelintegrationsfachkraft. Damit hat der Antragsteller keinen Ausnahmefall glaubhaft gemacht, wonach seine Betreuung in der Regeleinrichtung ausnahmsweise unmöglich sein könnte.
104
In der Person des Antragstellers liegende Gründe, die eine ergänzende Betreuung in der Kindertagespflege erforderlich machen, hat er ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Die diesbezüglichen Ausführungen des Antragstellerbevollmächtigten sind ausschließlich auf die Erwerbstätigkeit des Kindsvaters bezogen und daher nach den obigen Darstellungen nicht relevant. Eine existentielle Bedrohung für den Antragsteller selbst und die seitens des Antragstellerbevollmächtigten geltend gemachte Gefahr der Verarmung des Antragstellers ist für das Gericht nicht glaubhaft gemacht, sondern wurde lediglich pauschal vorgetragen.
105
Nach alledem kann der Antragsteller aus § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII keinen weiteren Anordnungsanspruch glaubhaft machen.
106
Es verbleibt daher bei dem aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII glaubhaft gemachten Anordnungsanspruch. Darüber hinaus hat der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch.
107
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund für den Anordnungsanspruch im tenorierten Umfang glaubhaft gemacht.
108
Der Anordnungsgrund ist das Typische der einstweiligen Anordnung, eben ihr „Grund“. Er bezeichnet - etwas vergröbert ausgedrückt - die Dringlichkeit der Sache. Aus dem Anordnungsgrund heraus werden das Verfahren als solches und seine Besonderheiten im Einzelnen verständlich; auch die gerichtliche Entscheidung nach § 123 Abs. 3 VwGO, § 938 Abs. 1 ZPO wird entscheidend durch das Maß der Dringlichkeit der Sache beeinflusst.
109
Der Anordnungsgrund ist gegeben, wenn die in § 123 Abs. 1 VwGO für die beiden Arten der einstweiligen Anordnung normierten Voraussetzungen vorliegen. Sagt die Behörde zu, sich einstweilen bis zur abschließenden Klärung im gewünschten Sinn zu verhalten, so gibt es keinen Anordnungsgrund. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anordnungsgrundes ist in jeder Lage des Verfahrens, insbesondere also auch noch im Beschwerdeverfahren, der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 123 Rn. 53, 54 m.w.N.).
110
Teilweise wird vertreten, den Anordnungsgrund aufgrund der generellen Irreversibilität der unterbliebenen Förderung für das jeweilige Kind zu bejahen. So erledigt sich der Anspruch auf frühkindliche Förderung im Sinne des § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII mit jedem Tag, an dem der Antragsgegner seiner Gewährleistungspflicht nicht nachkommt. Das jeweilige Kind muss sich auf Sekundäransprüche wegen Nichterfüllung verweisen lassen. Dabei kann es, vertreten durch die personensorgeberechtigten Eltern, einen Aufwendungsersatzanspruch wegen selbst beschaffter Sozialleistung in analoger Anwendung von § 36a Abs. 3 SGB VIII geltend machen. Die geschuldete Betreuungsleistung an sich kann dabei nicht mehr nachgeholt werden (Beckmann in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 24 Rn. 69, 71 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 7.6.2017 - 4 B 100/17 BeckRS 2017, 113056).
111
Andererseits wird vertreten, dass die irreversible Unerfüllbarkeit des streitigen Betreuungsanspruchs allein nicht ausreichend ist. Ob ein Anordnungsgrund vorliegt, ist hiernach im Einzelfall unter Einbeziehung zusätzlicher Umstände beim antragstellenden Kind oder dem Personensorgeberechtigten zu entscheiden. Er besteht, wenn die Zuweisung des Betreuungsplatzes so dringlich ist, dass ein Abwarten unzumutbar wäre (Winkler in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 65. Edition Stand: 1.3.2022, § 24 Rn. 32 m.w.N.).
112
Vorliegend ist ein Anordnungsgrund für den zuvor dargelegten Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden.
113
Stellt man allein auf die irreversible Unerfüllbarkeit des Anordnungsanspruchs aus § 24 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ab, ist ein Anordnungsanspruch danach bereits gegeben, ohne dass es auf die persönliche Situation des Antragstellers ankäme.
114
Selbst wenn man auf den Antragsteller selbst und dessen persönliche Situation abstellt, ist festzustellen, dass dieser einen erheblichen sozial-emotionalen Förderbedarf hat. Dies ergibt sich für das Gericht aus den Ausführungen der Fachkraft für Einzelintegration aus ihrem nicht näher datierten Abschlussbericht aus der Verwaltungsakte des Antragsgegners und dem Aktenvermerk des Antragsgegners über dessen Telefonat mit der Kinderärztin des Antragstellers vom 30. Juni 2022. So wird darin empfohlen, ihm Unterstützung in Form eines Integrationsbegleiters beziehungsweise einer Fachkraft für Einzelintegration zur Seite zu stellen. Aufgrund dessen bedarf der Antragsteller einer diesbezüglichen Förderung, um ihm einen guten Übergang in die Schule zu sichern (vgl. § 22a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII). Die lückenlose Fortführung dieser Förderung erscheint für die weitere sozial-emotionale Entwicklung des Antragstellers daher auch unter Gesichtspunkten des Kindeswohls als dringend erforderlich, sodass auch deswegen ein Anordnungsgrund zu bejahen ist.
115
Ob sich aus der individuellen Situation der Personensorgeberechtigten selbst, insbesondere des Kindsvaters, ein Anordnungsgrund ergeben könnte, bedarf nach alledem keiner Entscheidung mehr.
116
Dass der Antragsteller, vertreten durch seinen Vater, den im Anschluss an die trägerseits erfolgte Kündigung zum 31. Juli 2022 neu angebotenen Bildungs- und Betreuungsvertrag vom 20. Mai 2022 mit verringerten Buchungszeiten abgelehnt hat, steht der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes unter Bezugnahme auf die obigen Ausführungen zum Rechtsschutzbedürfnis nicht entgegen (VGH BW, B.v. 17.8.2020 - VGH 12 S 1671/20 - BeckRS 2020, 23912, Rn. 11).
117
Nach alledem hat der Antragsteller seinen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht.
118
Soweit die Entscheidung in der Hauptsache durch den vorliegenden Beschluss im tenorierten Umfang vorweggenommen wird, ist dies im vorliegenden Fall ausnahmsweise zulässig.
119
Gemäß Art. 19 Abs. 4 GG darf die Entscheidung in der Hauptsache vorläufig dann vorweggenommen werden, wenn andernfalls für den Antragsteller schwere und unzumutbare Nachteile drohen, die selbst bei einem Erfolg in der Hauptsache nicht mehr zu beseitigen sind und der Antragsteller mit seinem Rechtsbehelf in der Hauptsache sehr hohe Erfolgsaussichten hat (Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 42. EL Februar 2022, § 123 Rn. 145).
120
So verhält es sich hier. Durch die irreversible Nichterfüllung seines unaufschiebbaren Anspruchs auf Förderung in einer Kindertageseinrichtung drohen dem Antragsteller schwere und unzumutbarer Nachteile. Dieser Anspruch auf Förderung erledigt sich irreversibel mit jedem Tag, an dem der Antragsteller keine Förderung erhält. Der Antragsteller muss sich für die vergangene Zeit auf Sekundäransprüche gegenüber dem Antragsgegner verweisen lassen, selbst wenn er in der Hauptsache - was vorliegend nach den obigen Ausführungen zum Anordnungsanspruch sehr wahrscheinlich ist - obsiegt (Winkler in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 65. Edition Stand: 1.3.2022, § 24 Rn. 46a m.w.N.; SächsOVG, B.v. 7.6.2017 - 4 B 112/17 - BeckRS 2017, 113062 Rn. 18; siehe auch OVG Saarl, B.v. 8.10.2020 - 2 B 270/20 - BeckRS 2020, 26949, Leitsatz 4, 12).
121
Nach alledem war dem Antrag im tenorierten Umfang stattzugeben und im Übrigen der Antrag abzulehnen.
122
Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu einem Drittel und der Antragsgegner zu zwei Dritteln zu tragen. Dies folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
123
Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens ergibt sich aus § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.