Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 21.06.2022 – Au 6 K 22.50123
Titel:

Dublin-Überstellung nach Österreich 

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
Verordnung 604/2013/EU (Dublin III-VO)
Leitsätze:
1. Es ist nicht davon auszugehen, dass das österreichische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wären. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das österreichische Gesundheitssystem stellt eine angemessene Behandlung sicher. Das gilt auch für die Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung.  (Rn. 31 und 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Abschiebungsanordnung nach Österreich, Eurodac-Treffer, Kategorie 1, Keine systemischen Schwachstellen im österreichischen Asylverfahren, Keine besondere Schutzbedürftigkeit, Ambulante psychiatrische Behandlung einer mutmaßlichen PTBS auch in Österreich möglich, Rückkehr nach Österreich für erwachsenen Mann zumutbar, Kein Angewiesensein auf Nähe entfernter Verwandter in Deutschland, österreichisches Asylverfahren, posttraumatische Belastungsstörung, Dublin-Verfahren
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22654

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig und eine Abschiebungsanordnung nach Österreich.
2
Der Kläger ist nach eigenen Angaben türkischer Staatsangehöriger. Er reiste am 25. September 2021 aus Österreich entgegen einer bereits ausgesprochenen Einreiseverweigerung und ohne Personaldokumente unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein, wurde grenzpolizeilich aufgegriffen und stellte am selben Tag ein Asylgesuch und später einen Asylantrag.
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In der grenzpolizeilichen Vernehmung gab er an (BAMF-Akte Bl. 57 ff.), er habe niemanden in Österreich, könne daher dort nicht bleiben. Seine Familie (Onkel, Tante, Cousine, Nachbarn) sei in Deutschland und hier begehre er Asyl.
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Am 8. November 2021 richtete das Bundesamt ein Übernahmeersuchen an Österreich, das die österreichischen Behörden mit Schreiben vom 19. November 2021 akzeptierten.
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In seiner auf Türkisch geführten Dublin-Anhörung am 26. November 2021 gab der Kläger an (BAMF-Akte Bl. 115 ff.), er habe Onkel und Tante in Deutschland, sei aber nicht auf ihre Unterstützung angewiesen. Er sei auf dem Landweg über Österreich eingereist und habe sich 10-14 Tage in einem Lager bei Villach aufgehalten.
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In seiner auf Türkisch geführten Anhörung zur Zulässigkeit seines Asylantrags am 16. März 2021 gab der Kläger an (BAMF-Akte Bl. 164 ff.), er habe seine Identitätskarte verloren und wolle einen Familienregisterauszug per Mobiltelefon aus der Türkei besorgen. Er habe Atem- (wohl Polypen) und Kreislaufprobleme, sei aber weder in der Türkei noch in Deutschland in ärztlicher Behandlung gewesen. Er sei nach Deutschland gekommen, weil er Verwandte hier, aber nicht in Österreich habe. Nun spreche er etwas Deutsch, habe gemerkt, dass nicht viel Unterschied zwischen Deutschland und Österreich bestehe und glaube nicht, dass er in Österreich Schwierigkeiten bekommen werde.
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In seiner auf Türkisch geführten Anhörung am 16. März 2021 gab der Kläger im Wesentlichen an (BAMF-Akte Bl. 169 ff.), er habe die letzten 4-5 Monate vor seiner Ausreise am neuen Flughafen in ... auf einer Baustelle illegal gearbeitet und gelebt und davor offiziell in einem Dorf in ... in der Provinz ... gelebt (ebenda Bl. 170). Sieben seiner Geschwister und seine Eltern sowie die Großfamilie lebten dort noch, einer seiner Brüder sei 2015 in die Berge gegangen. Der Kläger habe acht Jahre lang die Schule besucht, eigenes Vieh der Familie als Hirte gehütet und zuletzt auf einer Baustelle in Istanbul gearbeitet. Einer seiner Brüder seien die Berge zu kämpfen gegangen; das habe der Staat zwei Jahre später erfahren und danach hätten sie ihr Haus gestürmt. Wehrdienst habe er nicht geleistet (ebenda Bl. 172). Ab dann seien die Soldaten alle zwei Monate in ihr Haus gekommen, hätten seine Eltern beschimpft, seinen Vater mit auf die Wache genommen und nach dem Verbleib des Bruders gefragt. Sein Vater habe Angst um den Kläger bekommen und ihm geraten, nach Deutschland zum Onkel zu gehen, damit ihm nichts passiere (ebenda Bl. 172). Von ihrer Familie seien insgesamt fünf Personen in die Berge gegangen und vor drei Monaten sei ein Cousin von ihm umgekommen. Bei einer Polizeikontrolle sei der Kläger in eine Ecke gezogen, beschimpft und angeschrien worden wegen seinen Cousins und seinen Familienangehörigen, er sei bedroht, getreten und geschlagen worden und sie hätten gesagt, sie würden ihn töten, wenn er nicht verraten würde, wo sie seien, sie würden ihm Hände und Füße abschneiden; der Druck sei stärker und stärker geworden und er habe das nicht mehr ausgehalten und sei daher hierher geflüchtet (ebenda Bl. 173). Der Kläger habe sich weder gegen die Leute wehren können bei den Polizeikontrollen, noch habe er in die Berge gehen und kämpfen wollen, er sei neutral und habe keine Partei ergriffen (ebenda Bl. 173). Die Familienangehörigen seien in die Berge gegangen, weil sie politisch aktiv seien, der Kläger hingegen wolle niemanden töten und niemandem schaden und habe sich nie politisch betätigt, sondern auf das Brotverdienen konzentriert; seine drei jüngeren Brüder seien noch minderjährig und lebten bei den Eltern (ebenda Bl. 173). Gegen den Kläger liege kein Haftbefehl, keine Anklage oder ein Urteil vor, aber er werde wegen der in die Berge gegangenen Familienangehörigen bedroht, habe Angst bekommen und sei deswegen geflüchtet (ebenda Bl. 174). Als er freitags nicht bei der Arbeit, sondern in der Moschee gewesen sei, hätten Freunde auf der Baustelle ihm gesagt, er solle nicht zur Baustelle zurückkommen, da ihn die Polizei suchen würde (ebenda Bl. 175). Die Polizei sei auch bei ihnen zweimal zu Hause gewesen und habe nach ihm gefragt, alles durchsucht und sei dann wieder gegangen, seine Eltern hätten gesagt, sie wüssten nicht, wo er sich aufhalte (ebenda Bl. 174).
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Auf dem Kontrollbogen bestätigte der Kläger, es habe bei der in türkischer Sprache durchgeführten Anhörung keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben, das rückübersetzte Protokoll entspreche seinen Angaben und diese seien vollständig und entsprächen der Wahrheit (ebenda Bl. 177).
9
Er begehrte eine Umverteilung zum Onkel nach, da er nur 85 Euro Taschengeld erhalte, damit nichts finanzieren könne und wenn er finanzielle Hilfe bräuchte, könne ihm der Onkel helfen (ebenda Bl. 191).
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Die Beklagte berechnete die Überstellungsfrist mit Fristbeginn am 19. November 2022 und Fristende am 19. Mai 2022.
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Mit Bescheid vom 7. April 2022 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids). Nr. 2 des Bescheides bestimmt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. In Nr. 3 des Bescheides wurde die Abschiebung nach Österreich angeordnet. Nr. 4 des Bescheides setzt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung fest.
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Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 21. April 2022 Klage gegen den ihm am 14. April 2022 zugestellten (BAMF-Akte Bl. 241) Bescheid erheben und beantragen lassen,
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den Bescheid vom 7. April 2022 aufzuheben.
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Der Bescheid sei rechtswidrig. Der Kläger habe offenbar ein psychisches Handicap auf Grund einer massiven Bedrohung durch türkisches Militär bei einer Straßenkontrolle im Herkunftsstaat und sei deswegen auf enge Unterstützung seiner Familie in ... angewiesen, wohin er habe reisen wollen. Deswegen könne er nicht nach Österreich abgeschoben werden. Er legte dazu noch vor:
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-, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Attest vom 28. April 2022:
Diagnose: Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung (PTBS - ICD 10 F 43.1).
Anamnese: Erstvorstellung am 28. April 2022, Albträume, Wiedererleben, Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, weitere Termine zur Sicherung der Diagnose wären wünschenswert. Eine traumaspezifische Therapie sei dringend indiziert. Retraumatisierungen seien unter allen Umständen zu vermeiden, insbesondere sei von rückführenden Maßnahmen auch nach Österreich Abstand zu nehmen, da sonst mit überwiegender Wahrscheinlichkeit mit einer akuten Verschlechterung einschließlich akuter Suizidalität zu rechnen sei. Wichtig wäre der Verbleib des Klägers in der als Sicherung erlebten Umgebung bei Onkel und Tante und weiteren Verwandten; aus fachärztlicher Sicht wäre ein Wechsel nach Reutlingen für die weitere Genesung sehr hilfreich, auch die Behandlung könnte hier fortgeführt werden. In Österreich habe der traumatisierte Kläger weder Behandler noch Verwandte und dort wäre auch eine weitere Verschlechterung und Retraumatisierung zu befürchten.
Der Kläger zeige auch des Lebens überdrüssige Gedanken bei Gedanken an die Türkei und wolle dort nicht mehr leben, vereinzelt habe er auch schon Gedanken, sich das Leben zu nehmen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf Ihre Nachfrage beim österreichischen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, wonach sich Asylbewerber, auch im Dublin-Verfahren zurückgeführte Asylbewerber, in Österreich wegen PTBS behandeln lassen könnten, da sie in Österreich krankenversichert seien. Um eine umgehende Behandlung sicherzustellen, werde um rechtzeitige Mitteilung vor der Rückführung gebeten.
19
Mit Beschluss vom 2. Mai 2022 hat die Kammer den Rechtsstreit in der Hauptsache zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen. Einen parallelen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung lehnte der Einzelrichter ab (VG Augsburg, B.v. 2.5.2022 - Au 6 S 22.50124).
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegte Behördenakte sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

21
Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
22
1. Vorliegend ist davon auszugehen, dass Österreich im auch für die Anwendung der Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 - 1 C 24.15 - juris Rn. 8) für die Behandlung des Asylgesuchs des Klägers zuständig ist. Denn er hat Fingerabdrücke in Österreich abgegeben und in Österreich einen Asylantrag gestellt. Da Österreich das Übernahmeersuchen des Bundesamts akzeptiert hat, ist es verpflichtet, den Kläger aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für seine Ankunft zu treffen (vgl. Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO).
23
Das erforderliche Wiederaufnahmeverfahren hat die Beklagte ordnungsgemäß durchgeführt. Das Wiederaufnahmegesuch an Österreich wurde am 8. November 2021 innerhalb der zweimonatigen Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 643/2013/EU gestellt, die mit der erkennungsdienstlichen Behandlung und dem EURODAC-Abgleich zu laufen begonnen hat. Somit ist kein Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 VO 643/2013/EU eingetreten. Österreich ist somit gemäß Art. 13 Abs. 1 VO 643/2013/EU gehalten, den Kläger wiederaufzunehmen; die dortigen Behörden haben das Wiederaufnahmegesuch auch ausdrücklich mit Schreiben vom 19. November 2021 angenommen (Art. 25 Abs. 1 VO 643/2013/EU).
24
2. Die Abschiebung des Klägers nach Österreich kann auch durchgeführt werden, da ihr keine systemischen Mängel in Österreich entgegenstehen. Gründe, von einer Überstellung gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 2 VO 643/2013/EU abzusehen, sind nicht ersichtlich.
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Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO setzt voraus, dass es sich als unmöglich erweist, einen Ausländer an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedsstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Ausländer in diesem Mitgliedsstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCharta) mit sich bringen. Den nationalen Gerichten obliegt die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedsstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Ausländer führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedsstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-493/10 - juris). An die Feststellung solcher systemischen Schwachstellen sind hohe Anforderungen zu stellen. Von derartigen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im betreffenden Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6/14 - NVwZ 2014,1039).
26
a) Systemische Mängel, die möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht bzw. eine entsprechende Pflicht der Beklagte nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere ist nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht davon auszugehen, dass das österreichische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer die dorthin rücküberstellten Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtscharta ausgesetzt wären.
Im Gegenteil ist bei einer Rückkehr nach Österreich binnen der sechsmonatigen Überstellungsfrist davon auszugehen, dass Kläger ihr Asylverfahren fortsetzen können, soweit dieses noch anhängig ist. In Österreich existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit, wovon Kläger gegebenenfalls Gebrauch machen könnten. Es besteht zudem die Möglichkeit, einen Asylfolgeantrag zu stellen. Österreich gewährleistet des Weiteren eine kostenlose medizinische Versorgung, zu der Asylbewerber und Dublin-Rückkehrer in gleicher Weise Zugang haben wie österreichische Staatsbürger. Die Gesundheitsfürsorge in Österreich ist umfassend und auf hohem Niveau. Asylbewerber haben in Österreich darüber hinaus einen Anspruch auf Grundversorgung und erhalten eine Unterkunft (vgl. dazu etwa VG Köln, B.v. 14.3.2022 - 6 L 13/22.A - juris Rn. 16; VG Würzburg, B.v. 5.12.2019 - W 8 S 19.50805 - juris Rn. 14 ff.). Die Ausführungen der Beklagte zum Asylsystem in Österreich sind sachlich zutreffend und zeitlich aktuell.
27
b) Österreich ist außerdem als Mitgliedstaat der Europäischen Union ein sicherer Drittstaat im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a AsylG. Hinderungsgründe für eine Abschiebung in einen derartigen sicheren Drittstaat ergeben sich nur ausnahmsweise dann, wenn der Asylsuchende individuelle konkrete Gefährdungstatbestände geltend macht, die ihren Eigenarten nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts der normativen Vergewisserung von Verfassungs- und Gesetzes wegen berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich herausgesetzt sind. Dies ist - bezogen auf die Verhältnisse im Abschiebezielstaat - etwa dann der Fall, wenn sich die für die Qualifizierung des Drittstaats als sicher maßgebenden Verhältnisse schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung darauf noch aussteht oder wenn der Aufnahmestaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung zu greifen droht und hierdurch zum Verfolgerstaat wird. An die Darlegung eines solchen Sonderfalles sind allerdings hohe Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - BVerfGE 94,49). Die Sonderfälle in diesem Sinne entsprechen inhaltlich den systemischen Mängeln, die zu einer Gefahr für unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Asylsuchenden führen. Solche Sonderfälle liegen bezogen auf den Abschiebezielstaat Österreich wie dargelegt nicht vor.
28
Gegenteiliges hat auch der Kläger nicht substantiiert vorgebracht.
29
c) Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die ein Selbsteintrittsrecht der Beklagte nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO begründen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich, insbesondere bestehen keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote.
30
Krankheitsbedingte Gefahren können ausnahmsweise die Voraussetzungen des Art. 3 EMRK erfüllen. Solche Ausnahmefälle können vorliegen, wenn eine schwerkranke Person durch die Aufenthaltsbeendigung auch ohne eine unmittelbare Gefahr für ihr Leben schon wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Aufnahmeland oder weil sie dazu keinen Zugang hat, tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wird, dass sich ihr Gesundheitszustand schwerwiegend, schnell und irreversibel verschlechtert mit der Folge intensiven Leids oder einer erheblichen Herabsetzung der Lebenserwartung (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 183). Solche Gesundheitsgefahren muss der Ausländer allerdings mit ernst zu nehmenden Gründen geltend machen und daraufhin der Konventionsstaat sie in einem angemessenen Verfahren sorgfältig prüfen, wobei die Behörden und Gerichte des Konventionsstaats die vorhersehbaren Folgen für den Betroffenen im Zielstaat, die dortige allgemeine Situation und seine besondere Lage berücksichtigen müssen, ggf. unter Heranziehung allgemeiner Quellen wie von Berichten der Weltgesundheitsorganisation oder angesehener Nichtregierungsorganisationen sowie ärztlicher Bescheinigungen über den Ausländer (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 186 f. m.w.N.). Dies mündet in eine Vergleichsbetrachtung der Folgen einer Abschiebung für den Betroffenen durch einen Vergleich seines Gesundheitszustands vor der Abschiebung mit dem, den er nach Abschiebung in das Bestimmungsland haben würde. Maßgeblich ist eine nur ausreichende Behandlung, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu verhindern, nicht, ob die medizinische Versorgung im Zielstaat der medizinischen Versorgung im Konventionsstaat mindestens gleichwertig ist, denn Art. 3 EMRK garantiert kein Recht, im Zielstaat eine besondere Behandlung zu erhalten, welche der Bevölkerung nicht zur Verfügung steht (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 188 f. m.w.N.).
31
Soweit der Kläger von einer Bedrohung in der Türkei berichtet, ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass ihm eine solche im Falle einer Rücküberstellung nach Österreich drohen würde. Vielmehr ist auch davon auszugehen, dass das österreichische Gesundheitssystem eine angemessene Behandlung des Klägers - seine Behandlungsbedürftigkeit vorliegend unterstellt - sicherstellen würde. Hierzu gehört auch eine ggf. erforderliche psychosoziale Betreuung. Ein Angewiesensein auf die Nähe seiner Verwandten als sein ursprüngliches Reiseziel rechtfertigt hingegen nicht, von der innergemeinschaftlichen Zuständigkeitsverteilung abzusehen oder eine Verpflichtung zum Selbsteintritt anzunehmen. Dies gilt umso mehr, als zwar das fachärztlicher Attest einerseits von der Gefahr einer Retraumatisierung bei einer Rückführung nach Österreich ausgeht, andererseits aber der Kläger selbst ausgeführt hat, er sei weder in der Türkei noch in Deutschland in ärztlicher Behandlung gewesen. Er sei nach Deutschland gekommen, weil er Verwandte hier, aber nicht in Österreich habe. Nun spreche er etwas Deutsch, habe gemerkt, dass nicht viel Unterschied zwischen Deutschland und Österreich bestehe und glaube nicht, dass er in Österreich Schwierigkeiten bekommen werde. Weiter hat er die Umverteilung zum Onkel aus finanziellen Gründen beantragt. Soweit der Facharzt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von einer akuten Verschlechterung der Erkrankung einschließlich akuter Suizidalität ausgeht, diese aber allein darauf stützt, beim Gedanken an die Türkei wolle der Kläger nicht mehr leben, vereinzelt habe er auch schon Gedanken gehabt, sich das Leben zu nehmen, ist nach gegenwärtigem Stand nicht von einer konkreten Gefahr einer Suizidalität auszugehen. Weder die Anamnese des Facharztes noch die eigenen Ausführungen des Klägers tragen die Schlussfolgerung des Facharztes. Darüber hinaus wäre es Aufgabe der Ausländerbehörde, durch geeignete Vorkehrungen zu sichern, dass vor, während und unmittelbar nach der Rückführung nach Österreich kein Suizidversuch unternommen wird.
32
Die Behandelbarkeit von PTBS ist in Österreich tatsächlich und finanziell durch die Krankenversicherung für Asylbewerber gesichert, wie die Beklagte nochmals recherchiert hat.
33
d) Die Abschiebung nach Österreich ist auch durchführbar. Ihr stehen weder zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote noch inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse entgegen.
34
Solche Abschiebungshindernisse sind im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ausnahmsweise von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Beklagte auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 - 2 BvR 732/14 2017- AuAS 2014, 244), da die Abschiebung nur durchgeführt werden darf, wenn sie rechtlich und tatsächlich möglich ist. Dies ist hier der Fall; Gegenteiliges ist weder ersichtlich noch vorgetragen.
35
Die österreichischen Behörden haben das Wiederaufnahmegesuch auch akzeptiert.
36
3. Auch ist die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 VO 604/2013/EU noch nicht abgelaufen, worauf sich der Kläger berufen könnte (vgl. EuGH, U.v. 25.10.2017 - C-201/16 - DVBl 2017, 1486/1487 f. Rn. 30, 40, 44 ff.). Vielmehr läuft die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 VO 604/2013/EU von sechs Monaten seit der Annahme des Überstellungsgesuchs durch Österreich am 19, November 2021 (BAMF-Akte Bl. 221) nicht nur bis zum 19. Mai 2022, weil hier ein erneuter Fristanlauf durch eine Überprüfung der Überstellungsentscheidung mit aufschiebender Wirkung nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. a) und b) VO 604/2013/EU i.V.m. § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG erfolgt, in deren Anschluss die Überstellungsfrist neu zu laufen beginnt (vgl. EuGH, U.v. 25.10.2017 - C-201/16 - DVBl 2017, 1486 Rn. 27).
37
4. Auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots erweist sich mangels Bleibeinteressen des Klägers im Bundesgebiet als rechtmäßig.
38
Er ist nicht auf die Unterstützung seiner Verwandten in Deutschland angewiesen, sondern lebt als Erwachsener selbständig. Seinen Umverteilungsantrag hat er u.a. mit dem Wunsch nach finanzieller Unterstützung durch seine Verwandten begründet. Diese kann aber auch durch Überweisungen in Österreich geleistet werden.
39
5. Nach allem erweist sich der angefochtene Bescheid des Bundesamtes als rechtmäßig und war die Klage demnach mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V. m. § 83b AsylG abzuweisen. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.