Titel:
Unwirksame öffentliche Zustellung nach fehlgeschlagener EU-Zustellung, Heilung und Wiedereinsetzung
Normenketten:
ZPO § 185, § 189, § 234 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
EuZVO Art. 1 Abs. 2, Art. 8 Abs. 1, Abs. 5 (idF bis zum 30.6.2022)
Leitsätze:
1. Auch im Rahmen einer internationalen Zustellung im Rechtshilfeweg ist das Gericht verpflichtet, Unklarheiten bei der Zustellung eines Schriftstücks durch Nachfrage bei der ausländischen Behörde zu klären. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch wenn die Europäische Zustellungsverordnung auf Zustellungen, die im Rechtshilfeweg nach dieser Verordnung vorgenommen müssen, gem. Art. 1 Abs. 2 EuZVO auf öffentliche Zustellungen nicht anwendbar ist, sind die Standards der Verordnung zu beachten und heilt die Übersendung eines Scans der Ausfertigung des deutschsprachigen Versäumnisurteils an die Beklagtenpartei eine unwirksame öffentliche Zustellung gem. § 189 ZPO nicht, wenn die Übersendung keine Belehrung nach Art. 8 Abs. 1 und 5 EuZVO enthält, wonach die Beklagtenpartei die Zustellung verweigern darf, wenn das Dokument nicht in einer Landessprache des Bestimmungslandes oder in einer Sprache, die der Empfänger versteht, abgefasst ist. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
3. Wird die unwirksame öffentliche Zustellung eines Versäumnisurteils gem. § 189 ZPO geheilt, fällt bei der Berechnung der Wiedereinsetzungsfrist gem. § 234 Abs. 1 S. 1 ZPO das für die Einhaltung der Frist bestehende Hindernis gem. § 234 Abs. 2 ZPO nicht bereits mit der Kenntnis des Versäumnisurteils weg, sondern bei beantragter Akteneinsicht erst nach Übersendung der Akte und Ablauf einer angemessenen Bearbeitungszeit (Abgrenzung zu BGH BeckRS 2002, 910). (Rn. 51 – 66) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
EU-Zustellung, öffentliche Zustellung, Auskunftsersuchen an ausländische Behörde, Heilung, klägerische Nachforschungspflicht, Wiedereinsetzungsfrist, Wegfall des Hindernisses, Belehrung über Annahmeverweigerungsrecht, VO (EG) 1393/2007
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 20.04.2020 – 12 HK O 21624/16
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22631
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 20.04.2020, Az. 12 HK O 21624/16, aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, an das Landgericht zurückverwiesen.
2. Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist gewährt.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Entscheidungsgründe
1
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Rechtmäßigkeit der Verwerfung des Einspruchs der Beklagten gegen ein öffentlich zugestelltes Versäumnisurteil als unzulässig bei gleichzeitiger Versagung der Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist nach ebenfalls öffentlich zugestellter Klage.
2
In der Sache begehrt die Klägerin von der Beklagten - der Lieferantin der Klägerin - Geldzahlung über insgesamt 159.416,17 € aus einer sog. Offenen-Posten-Rechnung (86.312,41 €), aus Credit Notes (17.963,24 €) und wegen Marketing- bzw. Werbungskostenzuschüssen (55.141,06 €).
3
Vorgerichtlicher geschäftlicher Schriftverkehr aus der Rechtsbeziehung zwischen den Parteien wurde (zumindest auch) über Personen unter der Adresse ..., M. abgewickelt (vgl. Anlage K3). Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Beklagte an dieser Anschrift eine Niederlassung innehat oder ob es sich ausschließlich um den Sitz der H. C. W. GmbH handelt.
4
Mit Schriftsatz vom 20.12.2016 erhob die Klägerin Klage über den Hauptsachebetrag nebst gestaffelten Zinsen. Nach mehreren Hinweisen des Gerichts beantragte die Klägerin mit Schriftsatz vom 23.05.2017 (Bl. 30 d.A.):
Die Beklagtenpartei wird verurteilt an die Klägerin Euro 159.416,71 nebst Zinsen in Höhe von 8-Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu bezahlen.
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Zwei Zustellversuche im Rechtshilfeweg gemäß Kapitel II Abschnitt 1 der Europäischen Zustellungsverordnung (EuZVO) unter der von der Klägerin in der Klageschrift angegebenen, schon damals veralteten i. Adresse: ... blieben erfolglos. Mit Schriftsatz vom 28.08.2017 (Bl. 37 d.A.) teilte die Klägerin die ihr aus Schriftwechseln bekannte (Anlage K9) aktuellere Anschrift ... mit. Das Landgericht unternahm einen erneuten Zustellungsversuch mittels Einschreiben mit Rückschein. In den Rücklauf des Landgerichts gelangte am 02.10.2017 der Briefumschlag, auf dem die i. Post die Annahmeverweigerung („Refused“) vermerkt hatte, die seitens des Zustellungsempfängers nicht ausgefüllte Belehrung über das Annahmeverweigerungsrecht gemäß Art. 8 EuZVO mit dem deutschsprachigen Anschreiben des Landgerichts, nicht aber der sonstige Inhalt des Umschlags. Einige Tage später, am 10.10.2017, gelangte der nur mit Unterschrift, aber ohne Datum versehene Rückschein in den Posteingang. Zu näheren Einzelheiten wird auf Rechtshilfeheft 152/18 (355/17) Bezug genommen. Das Landgericht ging wegen der widersprüchlichen Angaben nicht von einer wirksamen Zustellung aus und ordnete erneut das schriftliche Vorverfahren mit einer Notfrist zur Verteidigungsanzeige von einem Monat nebst Zustellung im Rechtshilfeweg an (Verfügung vom 19.12.2017, Bl. 42ff. d.A.). Auch diese blieb erfolglos (“gone away“). Das Anschreiben der i. Behörde weist als Adresse allerdings die ... aus. Zu näheren Einzelheiten wird auf das Rechtshilfeheft 152/18 Bezug genommen.
6
Die Klägerin beantragte daraufhin öffentliche Zustellung. Die Klägerin teilte mit, dass ihr weitere Anschriften nicht bekannt seien. Die vormalige Homepage der Beklagten sei nicht mehr erreichbar. Alle verfügbaren Auskunftsdatenbanken wiesen nur eine der bereits erfolglos versuchten Zustellanschriften aus. Die Klägerin habe versucht, über andere Konzerngesellschaften, Kontakt aufzunehmen. Auch dort sei die Beklagte „von heute auf morgen“ verschwunden. Auf den Schriftsatz vom 17.07.2018 (Bl. 53ff. d.A.) wird Bezug genommen.
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Das Landgericht ordnete mit Beschluss vom 23.07.2018 die öffentliche Zustellung der Verfügung zum schriftlichen Vorverfahren vom 19.12.2017 an (Bl. 56 d.A.). Die Bekanntmachung wurde an der Gerichtstafel am 24.07.2018 angeheftet und von ihr am 27.08.2018 abgenommen (hinter Bl. 58 d.A.). Am 30.08.2018 erging über € 159.416,71 € nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 10.10.2017 (durch die Referatsvertreterin) begründetes Versäumnisurteil. Die Einspruchsfrist wurde in den Urteilsgründen auf einen Monat festgesetzt (die Rechtsbehelfsbelehrungnennt allerdings die Frist von zwei Wochen). Die öffentliche Zustellung des Versäumnisurteils wurde durch Beschluss vom selben Tag angeordnet. Der Aushang an der Gerichtstafel erfolgte am 31.08.2018; abgenommen wurde er am 04.10.2018.
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Die Schwestergesellschaft der Klägerin übersandte am 13.05.2019 dem Geschäftsführer der Beklagten, Herrn ..., per E-Mail in englischer Sprache (hinter Bl. 140 d.A.) einen Scan der (deutschsprachigen) vollstreckbaren Ausfertigung des Versäumnisurteils.
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Mit Schriftsatz vom 07.06.2019 meldete sich der Beklagtenvertreter unter Vorlage einer Vollmacht vom selben Tag wegen „Beratung“, die zugleich eine Vollmacht zur Prozessführung beinhaltete, bei Gericht (Bl. 77 d.A.), bestellte sich zum Prozessvertreter, teilte mit, dass ihm seine Mandantschaft eine Kopie der vollstreckbaren Ausfertigung eines Versäumnisurteils überreicht habe, nach deren Auskunft aber dort weder ein solches Urteil noch die Klage nebst Anlagen zugegangen seien. Diese Frage abzuklären sei Hintergrund des Schreibens. Das Landgericht wertete das Schreiben als Akteneinsichtsgesuch, übersandte die Akte mit Verfügung vom 11.07.2019 und bat um Rückgabe bis 25.07.2019. Die Akte ging beim Beklagtenvertreter am 16.07.2019 ein, wurde aber vorzeitig zurückgefordert. Die Rückleitung erfolgte nebst Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 22.07.2019, der per Fax am selben Tag bei Gericht einging. In dem Schriftsatz monierte der Beklagtenvertreter, dass eine öffentliche Zustellung nicht hätte angeordnet werden dürfen, weil hinreichende Nachforschungen nach einer Adresse etwa in L. und in M. unterblieben seien, das Verfahren unter dermaßen starken Mängeln leide, dass das Versäumnisurteil keinen Verfahrensabschluss gebracht und irgendwelche prozessualen Fristen, insbesondere Notfristen, nicht ausgelöst worden seien. Nach Auffassung des Beklagtenvertreters sei nicht einmal eine Wiedereinsetzung erforderlich (Seite 5, Bl. 83 d.A.). Er „erwäge“ zu beantragen (Seite 6, Bl. 84 d.A.), das Erkenntnisverfahren werde fortgesetzt und die Einstellung der Zwangsvollstreckung angeordnet. Nur aus Gründen äußerster anwaltlicher Vorsorge, für den Fall, dass das Gericht seiner Auffassung nicht folge, dass das Verfahren überhaupt erst noch durchzuführen sei, „beantragt“ der Unterzeichner „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Einstellung der Zwangsvollstreckung ohne Sicherheitsleistung“ und begründet dies damit, dass die Beklagte aus Gründen, die nicht sie, sondern die Klägerin zu vertreten habe, nicht in die Lage versetzt worden sei, sich gegen die klägerische Forderung und die klägerischen Rechtsauffassungen zu verteidigen. Verletzung eines Grundrechts - gemeint ist das rechtliche Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG - werde gerügt. Mit Schreiben vom 13.09.2019 (Bl. 102 d.A.) wird, wiederum „aus Gründen äußerster Vorsorge“ für den Fall der Gewährung von Wiedereinsetzung Einspruch gegen das Versäumnisurteil eingelegt und Antrag auf Abweisung der Klage gestellt.
10
In der Sache rügt die Beklagte (ua) die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts, wehrt sich (wiederum ua) mit dem Argument, sie schulde allenfalls eine Verrechnung der geltend gemachten Beträge, nicht aber Zahlung und erhebt die Einrede der Verjährung (Schriftsatz vom 09.09.2019, S. 9, Bl. 100 d.A.).
11
Durch Beschluss vom 29.11.2019 (Bl. 125 d.A.) wies das Landgericht den (Hilfs-)Antrag der Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück. Auf die sofortige Beschwerde des Beklagten hob der Senat, nachdem das Landgericht mit Beschluss vom 21.02.2020 (Bl. 151 ff. d.A.) der Beschwerde nicht abgeholfen hatte, mit Beschluss vom 05.03.2020 (Bl. 158ff. d.A.) die Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf und verwies das Verfahren in der Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht München I zurück, da die Entscheidung über die Wiedereinsetzung nicht im Wege des Beschlusses, sondern gemäß § 238 Abs. 2 Satz 1, § 341 ZPO in Urteilsform hätte ergehen müssen.
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Mit Endurteil vom 20.04.2020 ohne mündliche Verhandlung gemäß § 341 Abs. 2 ZPO, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe ergänzend Bezug genommen wird (§ 540 Abs. 1 ZPO), wies das Landgericht den Antrag der Beklagten auf Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist zurück und verwarf den Einspruch als unzulässig. Zur Begründung führte es aus: die Zustellung des Versäumnisurteils sei durch Aushang an der Gerichtstafel am 04.10.2018 erfolgt. Jedenfalls am 07.06.2018 (richtig: 2019) habe der Beklagtenvertreter von dem Versäumnisurteil Kenntnis erlangt. Der Antrag auf Wiedereinsetzung sei jedoch erst am 26.07.2019 und damit außerhalb der 2-wöchigen Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 ZPOeingegangen. Auch habe der Wiedereinsetzungsantrag nicht die versäumte Prozesshandlung, nämlich den Einspruch, enthalten. Dieser sei erst mit Schriftsatz vom 13.09.2010 (richtig: 2019) eingegangen. Folglich sei auch der Einspruch gegen das Versäumnisurteil als unzulässig zu verwerfen.
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Gegen das ihr am 04.05.2018 zugestellte Urteil legte die Beklagte mit Schriftsatz vom 23.05.2020 Berufung ein und begründete diese - nach gewährter Fristverlängerung - mit Schriftsatz vom 04.08.2020, beim Berufungsgericht am selben Tag per Fax eingegangen. Unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags beantragt die Beklagte,
das mit der Berufung angegriffene Endurteil des LG München I vom 20.04.2020 aufzuheben und die Sache zur erneuten bzw. weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen,
für den Fall der Entscheidungsreife: das landgerichtliche Urteil abzuändern und das Versäumnisurteil des LG München I vom 30.08.2019 [sic] nach gewährter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf dem [sic] Einspruch hin aufzuheben und die Klage als unzulässig zurückzuweisen.
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Die Klägerin beantragt
die Zurückweisung der Berufung.
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Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
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Mit Verfügung vom 10.11.2021 (Bl. 264, 268 d.A.) hat der Senat einen Hinweis erteilt. Über die Berufung hat er am 06.07.2022 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift sowie die gewechselten Schriftsätze wird ergänzend Bezug genommen.
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Die Berufung der Beklagten hat Erfolg und führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung an das Landgericht.
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Anders als das Landgericht meint, war die Anordnung der öffentlichen Zustellung des Versäumnisurteils nach § 185 ZPO für das Gericht (aber auch für die Klägerin) erkennbar fehlerhaft, löste folglich die Zustellfiktion des § 188 ZPO nicht aus und setzte dementsprechend keine Fristen in Lauf (dazu unter 1.). Jedoch trat am 07.06.2019 mit der Bestellung des Beklagtenvertreters, dem zuvor ein Scan des Versäumnisurteils übermittelt worden war, zum Prozessvertreter Heilung nach § 189 ZPO ein (dazu unter 2.). Der (konkludente) Einspruch im Schriftsatz vom 22.07.2019 war somit verfristet (dazu unter 3.). Der Beklagten ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (dazu unter 4.).
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Verteidigungsanzeige und damit gesetzwidrig ergangenen) Versäumnisurteils erfolgte für das Gericht (aber auch für die Klägerin) erkennbar fehlerhaft, löst somit die Zustellfiktion nach § 188 ZPO nicht aus und setzte keine Fristen in Lauf (stRspr; BGH, Urteile vom 19.12.2001 - VIII ZR 282/00; vom 06.10.2006 - V ZR 282/05, juris-Rn. 12f.; vom 04.07.201 - XII ZR 94/10, juris-Rn. 17, 19; vom 06.12.2012 - VII ZR 74/12, juris-Rn. 16, 21; vom 31.10.2018 - I ZR 20/18, juris-Rn. 11).
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1.1. Die öffentliche Zustellung kann nicht auf § 185 Nr. 2 ZPO gestützt werden. Dabei kann dahinstellen, ob die Beklagte in M. tatsächlich eine Niederlassung unterhält und ob diese zum deutschen Handelsregister anzumelden gewesen wäre. Die M. Adresse - unterstellt, sie ermöglicht eine Zustellung - war der Klägerin nämlich bekannt. Eine Zustellungsversuch dort erfolgte jedoch nicht.
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1.2. Die öffentliche Zustellung kann auch nicht darauf gestützt werden, dass die Beklagte unbekannten Aufenthalts (gewesen) sei. Zwar sieht für diesen Fall § 185 Nr. 1 ZPO die Möglichkeit einer öffentlichen Zustellung vor; Unionsrecht findet auf die öffentliche Zustellung bei unbekanntem Aufenthalt keine Anwendung, Art. 1 Abs. 2 EuZVO. Im Erkenntnisverfahren darf eine öffentliche Zustellung nach § 185 Nr. 1 ZPO jedoch nur angeordnet werden, wenn die begünstigte Partei alle der Sache nach geeigneten und ihr zumutbaren Nachforschungen angestellt hat, um eine öffentliche Zustellung zu vermeiden, und ihre ergebnislosen Bemühungen gegenüber dem Gericht dargelegt hat (vgl BGH, Beschluss vom 06.12.2012 - VII ZR 74/12; vgl. auch EuGH, Urteil vom 15.03.2012 - C-292/10, juris-Rn. 59).
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Insofern ist zwar nicht zu beanstanden, dass bei Anordnung der öffentlichen Zustellung des Versäumnisurteils ca. einen Monat nach Anordnung der öffentlichen Zustellung der Klageschrift nicht erneut geprüft wurde, ob die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung immer noch vorliegen. Jedoch hätte schon die öffentliche Zustellung der Klageschrift nicht bewilligt werden dürfen.
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1.2.1. Unbedenklich ist, dass das Landgericht eine Zustellung in I. - und nicht in L. - versucht hat. Es handelt sich nämlich um eine im dortigen Handelsregister eingetragene Niederlassung der Beklagten; unter der i. Adresse kommunizierte der Geschäftsführer der Beklagten mit der Klägerin (Anlage B5). Daran muss sich die Beklagte festhalten lassen, mag sie dort, wie sie behauptet, nur ein großes Lager unterhalten haben.
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1.2.2. Die ersten zwei Zustellversuche per Ersuchen im Rechtshilfeweg (RH 69/17; RH 255/17) erfolgten an eine klägerseits angegebene, bereits damals veraltete Anschrift obwohl aus der geschäftlichen Korrespondenz die (damals) aktuelle Anschrift der Klägerin bekannt war (vgl. Anlage K9: ...; Anlage B5), und blieben folgerichtig ohne Erfolg.
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Zur Aktenführung sei angemerkt, dass die Rechtshilfebände völlig bzw. weitgehendzerfallen sind; zum Rechtshilfeband 69/17 wurden überdies die Anlagen K10-16, die im eigentlich dafür vorgesehenen Anlagenband fehlen, nebst einer beglaubigten Abschrift des zu diesen Anlagen gehörenden klägerischen Schriftsatzes vom 17.07.2018 genommen, der zeitlich erst weit nach Abschluss dieses Zustellungsversuchs einging.
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Mit Schriftsatz vom 28.08.2017 teilte die Klägerin die (damals) aktuelle Adresse mit. Der dritte Zustellversuch der Klageschrift an diese Adresse - offenbar ohne die späteren Schriftsätze und auch ohne den letzten Antrag der Klageseite - erfolgte durch Einschreiben Rückschein (RH 355/17, für den allerdings kein eigenes Rechtshilfeheft angelegt wurde, die Unterlagen befinden sich im Rechtshilfeheft 152/18). In den Rücklauf gelangte, wie im Tatbestand beschrieben, am 02.10.2017 der Umschlag mit dem Vermerk der i. Post „Refused“ (verweigert) vom 21.09.2017 sowie die von Seiten des Landgerichts fehlerhaft vorausgefüllte Belehrung über das Recht auf Annahmeverweigerung (es hätte die Adresse des Landgerichts angegeben werden müssen, nicht die des Zustelladressaten), das vom Empfänger allerdings überhaupt nicht ausgefüllt worden war, mit dem deutschsprachigen Anschreiben des Landgerichts. Erst am 10.10.2017 gelangte der Rückschein, der mit nicht identifizierter Unterschrift, aber ohne Datum versehen war, in den Rücklauf. Dieser wurde an die Belehrung getackert, obwohl beide nicht zeitgleich eingegangen sein können.
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Es bedarf keiner näheren Ausführung, dass die vom Beklagtenvertreter im Rahmen der Akteneinsicht zu Recht beanstandete Aktenführung in den Rechtshilfebänden schwerlich als ordnungsgemäß bezeichnet werden kann, gerade weil es um den Nachweis von verfahrenswesentlichen Förmlichkeiten geht; ein zuverlässiger Rückschluss, wie die Dokumente in den Rücklauf gelangten, ist so nicht möglich.
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Vor diesem Hintergrund kann sich der Senat schon nicht die Überzeugung verschaffen, dass dem Schreiben tatsächlich englischsprachige Übersetzung der Unterlagen beigefügt waren. Zwar hat die zuständige Rechtspflegerin auf Bl. 38 d.A. „inkl. Übersetzungen“ vermerkt, auf dem Rückschein fehlt jedoch ein Hinweis auf Übersetzungen. In der Zusammenschau aller Umstände (die Annahme wurde wegen angeblich fehlender Übersetzungen gegenüber der Post verweigert; kein Hinweis auf Übersetzungen auf dem Rückschein; fehlerhaftes Ausfüllen der Belehrung; Unzuträglichkeiten bei der Aktenführung) hält der Senat ein versehentliches Unterbleiben der Beifügung der Übersetzung für nicht ausgeschlossen.
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Entscheidend aber ist, dass die Angaben der i. Post widersprüchlich sind: Einerseits soll die Annahme (am 21.09.2017) verweigert worden sein. Gleichzeitig soll ausweislich des Rückscheins eine ordnungsgemäße Zustellung erfolgt sein. Auch dieser Nachweis bleibt jedoch unvollständig, insb. fehlt das Datum und damit die Beurkundung (im untechnischen Sinne) eines wesentlichen Elements des Zustellvorgangs. Beide durch die i. Post bescheinigten Angaben sind nicht bruchlos in Einklang zu bringen. Bei einer Annahmeverweigerung unmittelbar gegenüber der Post wäre zu erwarten, dass auch der Inhalt des Umschlags in den Rücklauf gelangt wäre, außerdem dass der - möglicherweise vor einer Annahmeverweigerung zunächst tatsächlich ausgefüllte - Rückschein nicht kommentarlos und getrennt, noch dazu deutlich später, zurückgesandt würde.
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An einen Nachweis ordnungsgemäßer Zustellung sind strenge Anforderungen zu stellen (so auch EuGH, Urteil vom 02.03.2017 - C-354/15, juris-Rn. 90), da ein Abschneiden rechtlichen Gehörs droht. Zu Recht ist das Landgericht daher davon ausgegangen, dass bei einer derart unklaren, sogar widersprüchlichen Aktenlage ein Zustellnachweis nicht vorliegt.
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Folgerichtig ordnete das Landgericht die erneute Zustellung im Rechtshilfeweg an (RH 152/18). Das Ersuchen gelangte mit dem Vermerk verzogen (“gone away“) in den Rücklauf. Allerdings ist auf dem beigefügten Anschreiben der i. Justizbehörden die alte Anschrift vermerkt. Unter welcher Adresse der Zustellversuch tatsächlich stattgefunden hat, ist ungeklärt.
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1.2.3. Bei der von der Rechtsprechung verlangten sorgfältigen Prüfung der Akte (BGH, Urteile vom 06.10.2006 - V ZR 282/05, juris-Rn. 12; vom 31.10.2018 - I ZR 20/18, juris-Rn. 11) hätte das Landgericht schon vor dem gerade geschilderten Hintergrund die öffentliche Zustellung nicht anordnen dürfen. Das Landgericht durfte nicht davon ausgehen, dass die Beklagte von der angegebenen Anschrift weggezogen und damit unbekannten Aufenthalts war, es hätte vielmehr aufklären müssen, ob unter der nunmehr angegebenen Adresse wirklich ein Zustellversuch stattgefunden hatte, woran - objektiv betrachtet - Zweifel veranlasst waren. Dies galt umso mehr, als die Beklagte beim vorangegangenen (dritten) Zustellversuch an der Anschrift offenbar noch anzutreffen war. Dies hätte das Landgericht aufklären müssen, bevor es die öffentliche Zustellung hätte bewilligen dürfen (vgl. BGH, Urteil vom 06.10.2006 - V ZR 282/05, juris-Rn. 22). Irrelevant ist - anders als das Landgericht im Nicht-Abhilfebeschluss meint -, ob der (potentielle) Fehler außerhalb des Verantwortungsbereichs deutscher Behörden geschehen ist. Der Beklagten darf nicht deshalb rechtliches Gehör versagt bleiben, weil i. Behörden ein Fehler passiert ist. Auch erscheint eine entsprechende Nachfrage bei den i. Behörden keineswegs aussichtslos. Damit (oder mit einem weiteren Zustellversuch) hätte sich vielmehr klären lassen, ob die Beklagte wirklich unbekannten Aufenthalts war und ob überhaupt die Voraussetzungen des § 185 Nr. 1 ZPO vorlagen.
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1.2.4. Dessen ungeachtet hat die Klägerin für das Gericht erkennbar ihre Informationsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft, als sie die öffentliche Zustellung beantragte (vgl. Schriftsatz vom 17.07.2018, Bl. 53ff. d.A.). Die öffentliche Zustellung hätte auch deshalb nicht angeordnet werden dürfen (BGH, aaO).
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1.2.4.1. Die Klägerin hat ersichtlich das i. Handelsregister nicht ausgeschöpft. Sie hat dem Gericht auch nicht mitgeteilt, dass sie dies getan hätte. Das Landgericht wäre daher gehalten gewesen, nach dieser - naheliegenden - Erkenntnismöglichkeit zu fragen, bevor es die öffentliche Zustellung anordnete.
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Die klägerseits - allerdings erst mit Schriftsatz vom 16.08.2019, dort Anlage 3 - vorgelegten Unterlagen zeigen, dass sich aus dem Register weitere Erkenntnismöglichkeiten ergeben hätten. Zwar trifft zu, dass die Beklagt - pflichtwidrig (vgl. Section 1302 (3) (c) Companies Act 2014 der Republik I.) - versäumt hat, dort ihre aktuelle Anschrift zu hinterlegen. Dies rechtfertigt jedoch nicht, eine öffentliche Zustellung anzuordnen. Denn es ergibt sich aus dem vorgelegten Ausdruck des Companies Registration Office, dass die Klägerin einen echten Registerauszug (Company’s Printout) hätte anfordern können. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass bei Auslandsfirmen (External Companies, wie der Beklagten) - statt der Geschäftsleitung - Zustellungsbevollmächtigte angegeben sind („instead […] the person responsible to accept service of process are listed“, vgl. Section 1302 (2) (g) (i) Companies Act 2014). Ist aber ein Zustellungsbevollmächtigter benannt, kommt einer veralteten Adressangabe eine untergeordnete, jedenfalls keine eine öffentliche Zustellung rechtfertigende Bedeutung zu (vgl. auch Companies Registration Form F12, Anlage zu Bl. 233/235, in dem ein Zustellungsbevollmächtigter benannt ist). Dorthin hätte ein Zustellversuch unternommen werden müssen.
36
Zum anderen ergibt sich aus dem Ausdruck, dass es sich um eine bloße Niederlassung in I. handelt („Company (External)“) und die Gesellschaft ihren Hauptsitz im Großherzogtum L. („Parent Country“) hat. Dazu passt die französischsprachige Abkürzung der Gesellschaftsform sarl (societe a responsabilite limitee). Über die dortigen Register hätte die Klägerin eine Adresse ermitteln können, dies jedenfalls versuchen müssen.
37
Derselbe Ausdruck des i. Companies Registration Office lag im Übrigen dem Landgericht vor seiner Entscheidung über die öffentliche Zustellung vor. An beide rückgeleiteten Umschlägen aus dem ersten und zweiten Zustellversuch (RH 69/17 und 255/17) ist der Ausdruck - offenbar seitens der i. Behörden - angetackert.
38
1.2.4.2. Des Weiteren haben es Klägerin und Gericht verabsäumt, eine Zustellung in M. zu versuchen. Aus der Anlage K7 (Seite 2), bereits vorgelegt mit Schriftsatz vom 20.01.2017, ist ersichtlich, dass die Beklagte jedenfalls in einzelnen Fällen (und nicht nur die H. C. W. GmbH) unter der Adresse ... fimierte. Ebenso war aus der Anlage K3 ersichtlich, dass wesentlicher Schriftverkehr betreffend die Beklagteüber diese Adresse abgewickelt worden war. Von dort stammte die streitgegenständliche Offene-Posten-Liste über 86.312,41 €. Der klägerseits benannte Zeuge S. (Klageschrift, S. 6) stammte ebenfalls von dort. Jedenfalls einer Nachfrage dort hätte es bedurft, ob eine Zustellung in M. möglich war bzw. unter welcher Adresse eine Zustellung erfolgen könne.
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1.2.4.3. Im Übrigen genügt auch die durch nichts belegte Behauptung einer Nachfrage bei anderen Konzerngesellschaften (namentlich in I.) nicht, um das Fehlen einer Zustelladresse dem Gericht hinreichend darzutun.
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Dahinstehen lässt der Senat, ob es wirklich glaubhaft ist, dass die vormalige Homepage der Beklagten nicht mehr erreichbar sei. Jedenfalls dann, wenn die Adresse exakt so wie im Schriftsatz eingegeben wurde, wäre das Ergebnis schlicht dem Umstand geschuldet, dass die Adresse infolge der Eingabe eines Leerzeichens vor dem Firmennamen einen Tippfehler enthält. Dessen ungeachtet fehlt jede Angabe dazu, wann und wie oft ein Abfrageversuch stattgefunden hat. Eine einmalige Störung genügt sicher nicht, um fehlende Erreichbarkeit zu belegen und entbindet im Übrigen nicht von einer Nutzung der oben beschriebenen Erkenntnismöglichkeiten.
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1.2.4.4. Ebenso wenig wurde versucht, auf informellem Wege Kontakt zur Beklagten - etwa über E-Mail-Adresse und formlose Schreiben - aufzunehmen, um eine zustellfähige Adresse zu ermitteln (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 03.12.2008 - 19 U 120/08, juris-Rn. 14). Dass die Klägerin hierzu in der Lage gewesen wäre, zeigt sich daran, dass sie vor der Klageerhebung den Geschäftsführer der Beklagten, ..., kontaktierte und von ihm auch eine Antwort erhielt (Anlage B5). Ebenso war es einer Schwestergesellschaft der Klägerin offenbar problemlos möglich, einen Scan der vollstreckbaren Ausfertigung des durch öffentliche Zustellung (fehlerhaft) erwirkten Versäumnisurteils dem Geschäftsführer der Beklagten per E-Mail (am 13.05.2019) zu übersenden.
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1.2.4.5. Der Senat hält im Übrigen auch dafür - ohne dass es hierauf noch entscheidend ankäme -, dass es erforderlich ist, parallel zur förmlichen öffentlichen Zustellung der Klageschrift eine Beklagte, soweit möglich, auf informellem Wege über die Klageerhebung in Kenntnis zu setzen, um das rechtliche Gehör zu wahren (ebenso: Hans. OLG Hamburg, Urteil vom 21.02.2019 - 3 U 35/15, juris-Rn. 93ff.; offen gelassen von BGH, Urteil vom 31.10.2018 - I ZR 20/18, juris-Rn. 21).
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2. Heilung trat erst mit der Bestellung des Beklagtenvertreters zum Prozessbevollmächtigten ein, nicht jedoch bereits mit Übersendung eines Scans des Versäumisurteils an den Geschäftsführer der Beklagten.öffentlichen Zustellung möglich (Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl., § 185 Rn. 5; Häublein/Müller, MüKo ZPO, 6. Aufl., § 186 Rn. 10).
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2.2. Heilung tritt in dem Zeitpunkt ein, in dem der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist, § 189 ZPO. Solange sich ein Prozessvertreter noch nicht bestellt hat, ist dies der Geschäftsführer der Beklagten, ... Die Übersendung des deutschsprachigen Scans des Urteils durch eine Schwestergesellschaft der Klägerin genügte vorliegend gleichwohl nicht, weil dies mit den Wertungen der Europäischen Zustellungsverordnung nicht im Einklang stünde (dazu unter 2.2.2). Heilung ist erst mit der Bestellung des Beklagtenvertreters zum Prozessbevollmächtigten am 07.06.2019 eingetreten, weil dieser den Scan des Versäumnisurteils bereits erhalten hatte (dazu unter 2.2.3).
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2.2.1. Nach der Rechtsprechung des BGH ist allerdings unschädlich, dass ... nicht eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Versäumnisurteils zuging, sondern ein Scan desselben (BGH, Beschlüsse vom 12.03.2020 - I ZB 64/19, juris-Rn. 25; vom 07.10.2020 - XII ZB 167/20, juris-Rn. 12). Ebenso ist unschädlich, dass die Übersendung nicht durch die Geschäftsstelle des Landgerichts, sondern durch den Verfahrensgegner bzw. - was dem aus Sicht des Senats gleichsteht - eine mit diesem verbundene Gesellschaft erfolgte (vgl. BGH, Beschluss vom 07.10.2020 - XII ZB 167/20, juris-Rn. 13).
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2.2.2. Eine Heilung kann aber nur angenommen werden, wenn dies im Einklang mit den Vorschriften der Europäischen Zustellungsverordnung (EuZVO) steht. Zwar findet diese, wie ausgeführt, auf öffentliche Zustellungen grundsätzlich keine Anwendung (Art. 1 Abs. 2 EuZVO). Geht es aber um die Heilung einer öffentlichen Zustellung, die an die Stelle einer grundsätzlich nach der Europäischen Zustellungsverordnung zu bewirkenden Zustellung tritt, darf die Annahme der Heilung die Standards nicht unterlaufen, die nach dieser Verordnung einzuhalten gewesen wären. Daran fehlt es bei der Übersendung der deutschsprachigen Ausfertigung des Versäumnisurteils schon deshalb, weil die Übersendung keine Belehrung nach Art. 8 Abs. 1 und 5 EuZVO (in der 2019 geltenden Fassung) enthielt, wonach der Geschäftsführer die Zustellung hätte verweigern dürfen, wenn das Dokument nicht in einer Landessprache des Bestimmungslandes oder in einer Sprache, die der Empfänger versteht, abgefasst ist. Die Belehrung ist nach der Rechtsprechung des Unionsgerichtshofs stets und ohne Ausnahme zu erteilen; auf eine Kenntnis des Verweigerungsrechts kommt es nicht an (EuGH, Urteil vom 16.09.2015 - C-519/13, juris-Rn. 58; Beschluss vom 28.04.2016 - C-384/14, juris-Rn. 59, 66, 70; Urteil vom 02.03.2017 - C-354/15, juris-Rn. 55, 57, 65). Gegebenenfalls ist die Belehrung nachträglich zu erteilen. Erst die Nachholung kann die fehlerhafte Zustellung heilen (EuGH, Urteil vom 16.09.2015 - C-519/13, juris-Rn. 72f.; Beschluss vom 28.04.2016 - C-384/14, juris-Rn. 71, 87, 89; Urteil vom 02.03.2017 - C-354/15, juris-Rn. 65; Stadler in Musielak/Voit, ZPO, 18. Aufl., Art. 8 EuZustVO Rn. 2; Rauscher in MüKo ZPO, 5. Aufl., Art. 8 EG-ZustellVO Rn. 5; Okonska in Geimer/Schütze Int. Rechtsverkehr, Art. 8 VO (EG) 1393/2007 Rn. 59, 61; gegen ein Laufen der Einspruchsfrist beim Europäischen Zahlungsbefehl: EuGH, Urteil vom 06.09.2018 - C-21/17juris-Rn. 57). Daran aber fehlt es vorliegend. Auch wenn es für den Senat hierauf nicht tragend ankommt, hält er ergänzend fest: ist zu seiner Überzeugung auch nicht (hinreichend) der deutschen Sprache mächtig, so dass er die Annahme hätte verweigern dürfen. Die Beklagte hat hinreichende Deutschkenntnisse in Abrede gestellt (und - unwidersprochen - vorgetragen, dass die eidesstattliche Versicherung durch ... ihm vor der Unterzeichnung auf deutsch in englischer Sprache vorgelegt worden war). Auch die Klägerin hat sich vorgerichtlich an ... in englischer Sprache gewandt; auf englisch hat er geantwortet (Anlage B5). Die Zuleitungsmail (hinter Bl. 140 d.A.) dokumentiert ebenfalls, dass ... nicht über hinreichende Deutschkenntnisse verfügte, denn dort heißt es: „Please find attached copies of the court rulings; these are in the German language but trust you have internal resources that can assist with a translation.“ Ob sich ... ggf. Personals in M. - sei es eigenes oder das seines Dienstleisters - hätte bedienen können, ist irrelevant, wenn die Klägerin eine Zustellung in I. wählt. Auf deutschsprachiges Personal im Ausland kann sie nicht vertrauen.
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2.2.3. Eine Heilung trat danach erst mit der Übermittlung des Scans an den Prozessvertreter und seiner Bevollmächtigung als solcher ein (vgl. BGH, Urteile vom 22.11.1988 - VI ZR 226/87 Rn. 21 und vom 29.03.2017 - VIII ZR 11/16, juris-Rn. 44; vgl. auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 16.07.2019 - 20 W 59/19, juris-Rn. 27). Ab einer Bestellung als Prozessbevollmächtigter sind Zustellungen an ihn zu richten. Die erneute Zustellung an ihn wäre aber eine bloße Förmelei, wenn er das Dokument bereits in den Händen hält. Diese Voraussetzungen lagen (erst) am 07.06.2019 vor.
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3. Mit der Heilung der Zustellung wurde der Lauf der vom Gesetzgeber (vorbehaltlich der Anordnung einer längeren Frist durch das Gericht) angeordneten einmonatigen Einspruchsfrist (§ 339 Abs. 2 Satz 1 ZPO) ausgelöst. Die Frist endete folglich mit Ablauf des 09.07.2019 (eines Montags). Zu diesem Zeitpunkt lag kein Einspruch vor.
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4. Der Beklagten ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, § 233 Satz 1 ZPO, da die Beklagte die Formalien des Wiedereinsetzungsantrags gewahrt hat (dazu unter 4.1 bis 4.4) und sie an der Versäumung der Einspruchsfrist, einer Notfrist nach § 339 Abs. 1 ZPO, kein Verschulden - auch kein ihr zuzurechnendes Verschulden ihres Rechtsanwalts, § 85 Abs. 2 ZPO - trifft (dazu unter 4.5). Angesichts der (groben) Verletzung ihres rechtlichen Gehörs, Art. 103 Abs. 1 GG, durch das bisherige Verfahren durfte sich die Beklagte zunächst durch Akteneinsicht einen Überblick über den Sach- und Streitstand verschaffen, bevor sie Einspruch einlegte. Die Entscheidung über die Wiedereinsetzung trifft im Falle der Anfechtung des den Einspruch verwerfenden Endurteils, weil das Ausgangsgericht die Gewährung der Wiedereinsetzung verweigert hat (§§ 237, 238 Abs. 1 Satz 1 ZPO), das Berufungsgericht im Rahmen des Berufungsverfahrens (§ 238 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 ZPO), wobei die Gewährung der Wiedereinsetzung - anders als deren Ablehnung - keiner Anfechtung unterliegt (§ 238 Abs. 3 ZPO; vgl. Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl., § 238 Rn. 14f.; Greger in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 238 Rn. 6f.).
50
4.2. Einen Wiedereinsetzungsantrag hat die Beklagte am 22.07.2019 gestellt. Der Schriftsatz ging - anders als das Landgericht meint - nicht erst am 26.07.2019 bei Gericht ein, sondern per Fax noch am 22.07.2019. Zwar führt die Beklagte im Schriftsatz primär aus, das Verfahren sei erst noch durchzuführen, weil es bislang nicht ordnungsgemäß in Gang gesetzt bzw. abgeschlossen sei. Vorsorglich wird jedoch explizit ein Wiedereinsetzungsantrag gestellt. Dieser bezieht sich ersichtlich zumindest auch auf das Versäumnisurteil, hinsichtlich dessen zugleich die Aussetzung der Vollziehung beantragt wird.
51
4.3. Der Wiedereinsetzungsantrag wurde fristgerecht innerhalb von zwei Wochen (§ 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO) nach Wegfall des Hindernisses (§ 234 Abs. 2 ZPO) gestellt.
52
Ein Wegfall des Hindernisses trat nicht bereits mit der Kenntnis der Beklagten vom Versäumnisurteil durch den Prozessbevollmächtigten der Beklagten ein, sondern erst nach Gewährung der unverzüglich - hier noch am selben Tag - und jedenfalls innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist beantragten Auskunft, die das Landgericht in nicht zu beanstandender Weise als Akteneinsichtsgesuch behandelt hat. Da die Akten beim Beklagtenvertreter erst am 16.07.2019 eingingen, ist der bereits am 22.07.2019 gestellte Wiedereinsetzungsantrag in jedem Falle fristgemäß, ohne dass der Senat entscheiden müsste, welche Bearbeitungsfrist einem Rechtsanwalt einzuräumen ist.
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4.3.1. Zwar trifft zu, dass bereits die Kenntnis vom Versäumnisurteil die Beklagte in den Stand gesetzt hätte, Einspruch einzulegen. Sie hätte dies jedoch tun müssen, ohne in der Lage zu sein, valide abzuschätzen, ob eine Rechtsverteidigung erfolgreich sein kann. Allein die Kenntnis der Gründe im Versäumnisurteil - das wegen der Auslandszustellung ausnahmsweise begründet war, § 313b Abs. 2 ZPO - genügt hierfür nicht. Es bedarf vielmehr umfassender Kenntnis des gesamten Sach- und Streitstandes, auch des prozessualen Streitstandes, um die Rechtsverteidigung abschließend beurteilen zu können. Dass dies auch gerade für den vorliegenden Fall galt, mag an zwei Punkten exemplifiziert werden:
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Möglicherweise kann die Beklagte die Offene-Posten-Liste allein anhand des Datums zuordnen und prüfen. Schon für die im Versäumnisurteil genannten „Gutschriften“ über 17.963,24 € fehlte es an zureichenden Angaben, die das erlauben würden. Erst recht bleibt unklar, wie sich der Betrag von 55.141,06 € für Marketing- und Werbekostenzuschüsse zusammensetzt.
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Viel bedeutsamer ist: Der Eintritt der Zustellfiktion nach § 188 ZPO bemisst sich danach, ob die öffentliche Zustellung der Klage (erkennbar) fehlerhaft war. Das lässt sich nur anhand der Akte feststellen. Davon aber wiederum hängt ab, ob die Klage rechtshängig geworden ist und ob sie die Verjährung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB hemmt (vgl. BGH, Urteil vom 03.05.2016 - II ZR 311/14, juris-Rn. 33f.). Ansprüche aus den Jahren bis 2015 wären ohne Hemmung 2019 bereits verjährt.
56
4.3.2. Aus Sicht des Senats geht es nicht an, einer Partei, deren rechtliches Gehör durch die fehlerhafte öffentliche Zustellung der Klageschrift verletzt ist und die deshalb nicht in der Lage ist, ihre prozessuale Situation einzuschätzen, zuzumuten, gleichsam vorsorglich einen Rechtsbehelf einzulegen. Vielmehr ist ihr zuzubilligen, sich zunächst die notwendige Kenntnis vom Sach- und Streitstand zu verschaffen, bevor sie über die Einlegung eines Rechtsbehelfs entscheidet. Denn erst die Verschaffung der Kenntnis vom Sach- und Streitstand heilt den Verstoß gegen das rechtliche Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG.
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4.3.3. Kein durchschlagendes Gegenargument ist, dass der Einspruch für sich genommen regelmäßig noch keine Kosten auslöst (sondern erst der auf den Einspruch angesetzte Termin). Schon das gilt aber nicht ausnahmslos. So löst etwa ein nach Einlegung des Einspruchs seitens des Klägervertreters, also von der Gegenseite, initiiertes Gespräch mit dem Ziel der Erledigung eine 1,2-Terminsgebühr aus (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 09.05.2008 - 13 W 31/08 unter Hinweis auf Vorbem. 3 Abs. 3 VV-RVG Nr. 3100ff.; zum Sonderfall eines Einspruchs nach mehr als 2 Jahren: BGH, Beschluss vom 16.11.2017 - V ZB 152/16). Die grundsätzliche Kostenfreiheit des Einspruchs ändert nichts daran, dass es einer natürlichen Reihenfolge entspricht, dass eine Partei zunächst die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels prüft und erst dann über die Einlegung entscheidet. Dies gilt erst recht für Naturalparteien (etwa beim Amtsgericht), denen die Feinheiten des Kostenrechts nicht vertraut sind. Anwaltlich vertretene Parteien sollten nicht schlechter stehen. Ginge es um ein anderes kostenpflichtiges Rechtsmittel - etwa in Verfahrensordnungen, die kein Versäumnisurteil kennen -, würde man der Partei ebenfalls eine Prüfungsmöglichkeit einräumen, bevor man ihre zumutete, über die Einlegung zu entscheiden. Es ist nicht einzusehen, einen (potentiellen) Einspruchsführer schlechter zu behandeln, nur weil der Einspruch - für Rechtsbehelfe untypisch - für sich genommen kostenfrei ist.
58
Die Zubilligung einer Prüfungsfrist erscheint umso mehr angezeigt, weil schon der Umstand der Rechtsmitteleinlegung die Verhandlungsposition gegenüber der Gegenseite - etwa wenn später über Stundungen oder Ratenzahlungen verhandelt werden soll - verschlechtern kann, selbst wenn die Einspruchseinlegung zunächst nur vorsorglich erfolgt. Sie löst bei der Gegenseite regelmäßig Verärgerung aus, weil der Beklagte als (zunächst) zahlungsunwillig erscheint.
59
Umgekehrt tritt im Rahmen der öffentlichen Zustellung - anders als bei sonstigen Zustellungen - der Aspekt der schnellen Klarheit über die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung weitgehend zurück. Die Zustellfiktion und die daran anknüpfende Rechtsmittelfrist beendet das Verfahren im Regelfall nur scheinbar. Erfährt die Gegenseite von der Entscheidung schließt sich regelmäßig das Verfahren der Wiedereinsetzung an, so dass dem Vertrauen in den endgültigen Bestand einer Entscheidung von vornherein nur ein vermindertes Maß an Vertrauen zukommen kann.
60
4.3.4. Der Senat setzt sich mit seiner Entscheidung nicht in Widerspruch zu der Rechtsprechung im Haftungsrecht der Rechtsanwälte, wonach diese gegenüber Mandanten aus Gründen der anwaltlichen Vorsicht gehalten sind, vorsorglich zum Einspruch zu raten, ohne Akteneinsicht abzuwarten. Die Bejahung einer solchen Pflicht besagt nicht, dass auch der Mandant gehalten wäre, im Verhältnis zu Gericht und Gegner diesen Weg einzuschlagen, erst recht nicht wenn diese - erkennbar - sein rechtlicher Gehör verletzt haben.
61
4.3.5. Der Senat hält seine Rechtsauffassung für von der Ratio der grundlegenden Entscheidung des BGH zur Unwirksamkeit erkennbar fehlerhafter öffentlicher Zustellungen gedeckt (BGH, Urteil vom 19.12.2001 - VIII ZR 282/00).
62
4.3.5.1. Im dortigen Fall war - unter der Geltung des Zustellrechts vor der Reform 2001 (mit Wirkung zum 01.07.2002) - nach fehlerhafter öffentlicher Zustellung des Versäumnisurteils am 09.03.1998 dem dortigen Beklagten am 10.06.1999 von der Gegenseite eine Kopie der vollstreckbaren Ausfertigung zugegangen. Der daraufhin bestellte anwaltliche Vertreter beantragte am 15.06.1999 Akteneinsicht, erhielt sie am 22.06.1999 und legte am 06.07.1999 Einspruch, verbunden mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, ein.
63
Der BGH führte aus, dass nach der bisherigen Rechtsprechung (BGH, Urteil vom 15.03.1977 - VI ZR 104/76), die keine Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung kannte, der Antrag auf Wiedereinsetzung verfristet gewesen wäre, weil die Wiedereinsetzungsfrist an die Kenntnis der öffentlichen Zustellung des Versäumnisurteils, nicht an eine Akteneinsicht geknüpft gewesen sei (juris-Rn. 25).
64
In Änderung der bisherigen Rechtsprechung nahm der BGH an, eine jedenfalls für das Gericht erkennbar fehlerhafte öffentliche Zustellung die Einspruchsfrist nicht auslöse (juris-Rn. 33). Das Recht der Wiedereinsetzung passe für derartige Fallgestaltungen nicht. Dies gelte einerseits hinsichtlich der Ausschlussfrist nach § 234 Abs. 3 ZPO. Selbst wenn jedoch eine Nichtanwendung der gesetzlichen Ausschlussfrist in Fällen der vorliegenden Art aus verfassungsrechtlichen Gründen zu rechtfertigen wäre, bietet das Wiedereinsetzungsverfahren bei unzulässiger öffentlicher Zustellung eines Versäumnisurteils wegen seiner weiteren Voraussetzungen, unter denen Wiedereinsetzung nur gewährt werden kann, keine ausreichende Möglichkeit, um zu der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Sachentscheidung über die mit dem Einspruch erhobenen Einwendungen zu gelangen. Das Wiedereinsetzungsverfahren dient der Folgenbeseitigung unverschuldeter Fristversäumungen innerhalb eines als ordnungsgemäß vorausgesetzten Verfahrens. Durch die Versagung von Wiedereinsetzung soll eine Nachlässigkeit in der Prozessführung „bestraft“ werden. Darin liegt der Grund sowohl für das Erfordernis fehlenden Verschuldens bei der Fristversäumung (§ 233 ZPO) als auch für die zweiwöchige Antragsfrist (§ 234 Abs. 1 und 2 ZPO). Diese starre Frist ist zu knapp bemessen, um bei einer - nur geringen - Überschreitung die Sanktion zu rechtfertigen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die unzulässige öffentliche Zustellung eines Versäumnisurteils aufrecht erhalten bleibt und nicht mehr geheilt werden kann. Die Bestimmungen über das Wiedereinsetzungsverfahren gehen davon aus und setzen voraus, dass das gerichtliche Verfahren, innerhalb dessen eine Frist versäumt wurde, prozessordnungsgemäß - erst recht verfassungsgemäß - war. Daran fehlt es. Die Fristversäumung bezüglich des Einspruchs gegen ein unzulässigerweise öffentlich zugestelltes Versäumnisurteil beruht weder auf einer nachlässigen Prozessführung der Partei noch auf sonstigen Umständen, die außerhalb des Gerichtsverfahrens liegen. Die entscheidende Ursache der Fristversäumung liegt vielmehr in der Fehlerhaftigkeit des Gerichtsverfahrens selbst, die dazu geführt hat, dass der Zustellungsadressat keine Kenntnis erlangte und folglich auch keinen Einspruch einlegen konnte (juris-Rn. 30-32).
65
4.3.5.2. Diese Entscheidung hat das damals geltende Zustellungsrecht zum Hintergrund, bei dem eine Heilung der Zustellung bei Notfristen - anders als heute - ausgeschlossen war, § 187 Satz 2 ZPO in der Fassung bis zum 30.06.2002. Deshalb konnte die Übergabe der Kopie der vollstreckbaren Ausfertigung - anders als im vorliegenden Verfahren - nicht zu einer Heilung der Zustellung führen. Zutreffend bleibt jedoch die Wertung des BGH, wonach das rigide Regime der Wiedereinsetzung, das die vormalige - und somit überholte - Rechtsprechung an die Kenntnis von der öffentlichen Zustellung eines Versäumnisurteils geknüpft hatte, dem Umstand nicht hinreichend Rechnung trägt, dass die Fristversäumung ihre Ursache in dem - vorliegend sogar grob - fehlerhaften bisherigen Verfahren hat.
66
Unter der neuen Rechtslage, die eine Heilung von Zustellungsfehlern ausnahmslos zulässt (vgl. § 189 ZPO), ist zwar hinzunehmen, dass die Regelungen der Wiedereinsetzung nach Heilung des Zustellungsfehlers grundsätzlich Anwendung finden. Da die Heilung an die Kenntnis des Versäumnisurteils knüpft, begegnet die Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO insoweit auch keinen Bedenken. Auch ist hinzunehmen, dass die 2-Wochen-Frist des § 234 Abs. 1 und 2 ZPO ebenfalls zur Anwendung gelangt. Dem fehlerhaften Verfahren und dem Verfassungsverstoß durch Verletzung des rechtlichen Gehörs, Art. 103 Abs. 1 GG, ist jedoch dadurch Rechnung zu tragen, dass allein die Kenntnis des Versäumnisurteils nicht genügt, um den Verfahrensfehler zu kompensieren, der gerade darin liegt, dass ein Beklagter das dem Versäumnisurteil zugrunde liegende Verfahren nicht kennt. Das Hindernis ist folglich nicht schon dann - hinreichend - beseitigt, wenn der Beklagte Kenntnis von dem gegen ihn erlassenen Versäumnisurteil erhält, selbst wenn es Gründe enthält, sondern frühestens dann, wenn er die unverzüglich beantragte Akteneinsicht erhält.
67
4.4. Der Wiedereinsetzungsgrund - Fristversäumung infolge unzulässiger und nach Ansicht der Beklagten sogar unwirksamer Zustellungen, insbesondere mangels Erkundigungen in L. und in M., Verletzung des rechtlichen Gehörs - ist im Antrag genannt. Einer Glaubhaftmachung der Gründe bedurfte es nicht, da sie unmittelbar aus der Akte ersichtlich sind.
68
4.5. Die versäumte Handlung wurde innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist nachgeholt, § 236 Abs. 1 Satz 2 ZPO. In dem Schriftsatz vom 22.07.2019 ist zugleich ein Einspruch zu sehen. Zwar verlangt § 340 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO die Erklärung, dass Einspruch eingelegt werde. Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, dass der Begriff Einspruch verwendet werden muss. Entscheidend ist allein, dass der Verurteilte eindeutig zu erkennen gibt, dass er das Versäumnisurteil nicht stehen lassen will, sondern eine Fortsetzung des Verfahrens verlangt (BGH, Urteil vom 09.06.1994 - IX ZR 133/93, juris-Rn. 6). Diese Stoßrichtung ist dem Schriftsatz eindeutig zu entnehmen. Dort ist ausgeführt, dass die Beklagte der Auffassung ist, dass es zwar eigentlich keines Einspruchs bedarf, weil Notfristen nicht zu laufen begonnen haben, sie sich auch die weiteren Schritte vorbehalten möchte. Vorsorglich werden jedoch echte Anträge gestellt, die sich auch explizit gegen das Versäumnisurteil richten. Darin liegt die Erklärung, das Versäumnisurteil nicht bestehen lassen zu wollen.
69
Dass ein Rechtsanwalt dabei das Wort Einspruch nicht verwendet, ist zwar befremdlich, aber unschädlich, wenn die Willensrichtung dem Schriftsatz eindeutig zu entnehmen ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 02.03.1993 - 1 BvR 249/92, juris-Rn. 30f. [allerdings für die nicht anwaltlich vertretene Partei]; vom 17.12.2015 - 1 BvR 3164/13, juris-Rn. 32f.; BFH [zum Steuerberater]: BFH, Urteil vom 09.12.2009 - II R 52/07, juris-Rn. 20f.).
70
Aus der späteren ausdrücklichen Einspruchseinlegung kann nicht geschlossen werden, dass der Schriftsatz vom 22.07.2019 keinen Einspruch enthalten soll. Dies ergibt sich schon daraus, dass eine Rechtsmittelschrift aus sich heraus, ggf. unter Einbeziehung sonstiger Schriftsätze bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist, nicht aber unter Berücksichtigung von Umständen jenseits dieser Fristen, auszulegen ist (BGH, Urteil vom 09.06.1994 - IX ZR 133/93, juris-Rn. 9). Dessen ungeachtet hindert eine höchstvorsorgliche Einlegung des Einspruchs nicht die Auslegung eines früheren Schriftsatzes im oben beschriebenen Sinne.
71
4.6. Der Wiedereinsetzungsantrag ist auch begründet, da die Beklagte an der Versäumung der Einspruchsfrist kein Verschulden trifft, § 233 Satz 1 ZPO. Wie oben ausgeführt, durfte die Beklagte erst Auskunft begehren bzw. Akteneinsicht nehmen, bevor sie über die Einspruchseinlegung entschied. Damit ist die Einspruchseinlegung erst nach unverzüglich beantragter Akteneinsicht nicht schuldhaft.
72
4.7. Ergänzend sieht sich der Senat zu der Bemerkung veranlasst, dass ihm eine großzügige Handhabung des Wiedereinsetzungsrechts auch deshalb angezeigt erscheint, weil die Verwerfung des Einspruchs im Ergebnis einen Pyrrhus-Sieg der Klägerin bedeuten würde. Nach der Rechtsprechung (BGH, Beschluss vom 05.12.2005 - II ZB 2/05, juris-Rn. 11f. mwN) kann ein Urteil, das ergeht, ohne dass Rechtshängigkeit hergestellt wurde, zwar in formelle Rechtskraft erwachsen, bleibt aber materiell ohne Wirkung.
73
5. Der Senat macht von der Möglichkeit der Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO Gebrauch. Die Beklagte hat Zurückverweisung beantragt. Entscheidungsreife liegt nicht vor.
74
5.2. Die Klage ist insbesondere nicht (endgültig) unzulässig.
75
Die Beklagte ist als Societe a responsabilite limitee und damit als juristische Person nach l. Recht parteifähig, § 50 Abs. 1 ZPO; eine Zweigniederlassung in I., sogar ein Umzug nach I. ändert daran aufgrund der europäischen Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) nichts. Die fehlende Angabe der zur Vertretung befugten Personen in der Klageschrift macht die Klage nicht unzulässig nach § 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, zumal die Vertretung (durch Herrn) unstreitig ist. Die Zustellung der Klageschrift kann noch bewirkt werden.
76
Auch die internationale Zuständigkeit ist nach gegenwärtigem Sach- und Streitstand gegeben. Auf das Vorliegen einer Gerichtsstandsvereinbarung (nach Art. 25 EuGVVO) kommt es hierbei nicht an. Denn die internationale Zuständigkeit ergibt sich aus Art. 7 Nr. 1 Buchst. b) EuGVVO. Nach dem unbestrittenen Vortrag der Klägerin führen die vereinbarten Lieferbedingungen DDP für die von der Klägerin bei der Beklagten gekauften und nach Deutschland zu liefernden Produkte zu einem Erfüllungsort in Deutschland. Der Gerichtsstand gilt beim Kauf beweglicher Sachen für das gesamte Vertragsverhältnis (Geimer in Zöller, ZPO, 33. Aufl., Art. 7 EuGVVO Rn. 13), somit auch für Gegenansprüche der Käuferin aus Rabatten und Werbungskostenzuschüssen.
77
Die - gerügte - örtliche Zuständigkeit wird zwar noch zu prüfen sein; ggf. wird der Klägerin Gelegenheit zu geben zu sein, einen Verweisungsantrag zu stellen.
78
5.3. Zur sachlichen Berechtigung der Klage ist Entscheidungsreife nicht gegeben. Hierzu hat, insb. auch zur Frage der Verjährung, noch kein Austausch stattgefunden.
79
5.4. Für seine Ermessensentscheidung lässt sich der Senat - im Bewusstsein, dass die eigene Sachentscheidung nach § 538 Abs. 1 ZPO den Regelfall darstellt - maßgeblich davon leiten, dass bisher überhaupt keine Verhandlung zur Sache stattgefunden hat, den Parteien - insbesondere der Beklagten, die den Zurückverweisungsantrag gestellt hat und deren effektive Beteiligung sich bislang auf den Streit um die Zulässigkeit ihres Einspruchs reduziert hat - faktisch (und gehörswidrig) die erste Instanz komplett genommen würde. Dabei ist zunächst der Frage der (gerügten) örtlichen Zuständigkeit - deren Verneinung im Streitfall allein dem Landgericht obliegt (vgl. § 513 Abs. 2 ZPO) - näher zu prüfen. Die sachliche Berechtigung des klägerischen Begehrens im Lichte der Einwendungen der Gegenseite wurde bislang überhaupt nicht geprüft; insbesondere die Frage der Verjährung bedarf eingehender Erörterung. Der Klageseite wird dabei Gelegenheit zu geben sein, zu Hemmungstatbeständen oder verjährungsunterbrechenden Tatsachen vorzutragen. Vor diesem Hintergrund treten prozessökonomische Erwägungen an einer Entscheidung unmittelbar durch das Berufungsgericht zurück, auch der Umstand, dass es sich um die zweite Zurückverweisung handelt. Hinzu kommt, dass der Senat - anders als die Handelskammern beim Landgericht - überlastet ist und mit einer schnelleren Entscheidung in der Sache durch ihn nicht zu rechnen wäre.
80
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
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1. Das Landgericht wird zunächst die bislang nicht erfolgte Zustellung der Klageschrift nachzuholen haben, es kann und muss diese nunmehr an den Prozessvertreter der Beklagten bewirken (§ 172 Abs. 1 Satz 1 ZPO), denn Akteneinsicht bewirkt keine Heilung (BGH, Beschluss vom 19.06.2019 - IV ZR 224/18, juris-Rn. 19f.). Auch der spätere Antrag vom 23.05.2017 ist noch förmlich zuzustellen.
82
2. Näherer Prüfung bedarf die - gerügte - örtliche Zuständigkeit.
83
Die versehentlich zunächst vorgelegten AGBs in Anlage K1 - die eine Gerichtsstandsvereinbarung enthalten - sind, wie die Klägerin selbst berichtigt hat, in zeitlicher und wohl auch in sachlicher Hinsicht (Klägerin als Verkäuferin, nicht als Käuferin, vgl. Ziff. 1 und 15) nicht anwendbar. Ohne eine Gerichtsstandsvereinbarung ist ein Gerichtsstand in M. bislang nicht ersichtlich. Die Lieferungen sollten ausweislich der vorgelegten Dokumente nach S. erfolgen (vgl. K2, K9: „Ship goods to … S.), so dass in M. auch nicht der Gerichtsstand des Erfüllungsortes gegeben ist, Art. 7 Nr. 1 Buchst. b) EuGVVO, der zugleich die örtliche Zuständigkeit regelt (Zöller, ZPO, 33. Aufl., Art. 7 EuGVVO Rn. 7). Möglicherweise kommt auch ein Gerichtsstand in M. in Betracht. Ggf. wird der Klägerin, wie bereits ausgeführt, Gelegenheit zu geben sein, einen Verweisungsantrag zu stellen.
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3. Inhaltlich wird vor allem die Frage der Verjährung zu prüfen sein.
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Jedenfalls der weit überwiegende Teil der streitgegenständlichen Forderungen wurden spätestens 2015 begründet und in Rechnung gestellt. Hemmungswirkung nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB kommt einer Klage grundsätzlich erst mit deren - wirksamer - Zustellung zu; vorliegend war die öffentliche Zustellung jedoch unwirksam (s.o.; vgl. BGH, Urteile vom 03.05.2016 - II ZR 311/14, juris-Rn. 34f.; vom 08.12.2016 - III ZR 89/15, juris-Rn. 11; jeweils mwN). Soweit Forderungen erst 2016 fällig geworden sein sollten, wird zu prüfen sein - wofür vieles spricht -, ob die Kenntnis vom Versäumnisurteil und die Akteneinsicht des Beklagtenvertreters 2019 dem Hemmungstatbestand gleichgestellt werden kann oder jedenfalls eine Berufung auf die Verjährung treuwidrig macht (zur Wirkung eines Anerkenntnisses nach Eintritt der Verjährung vgl. Meller-Hannich in BeckOGK, § 212 BGB Rn. 6 [Stand: 01.06.2022]).
86
Eine Zulassung der Revision kommt nicht in Betracht, weil die Gewährung der Wiedereinsetzung - hier in die versäumte Einspruchsfrist - von Gesetzes wegen unanfechtbar ist, § 238 Abs. 3 ZPO (vgl. BGH, Beschluss vom 08.10.2002 - VI ZB 27/02).