Inhalt

VGH München, Beschluss v. 10.08.2022 – 9 ZB 21.2688
Titel:

Nachbarklage gegen Schwimmbecken - Befreiung von der Einhaltung festgesetzter Baugrenzen

Normenketten:
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2
Leitsätze:
1. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB iVm § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO). Nachbarrechte werden nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans, Baugrenze, Nachbarschutz, Schwimmbecken, Gebot der Rücksichtnahme
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 01.09.2021 – AN 9 K 20.1681
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22302

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger haben die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten streiten um eine dem Beigeladenen anlässlich der Errichtung eines Schwimmbeckens in seinem Garten erteilte Befreiung von der Einhaltung der durch Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen. Die Kläger sehen sich als Eigentümer des benachbarten Grundstücks in ihren Rechten verletzt. Sowohl der dicht an ihrer Grundstücksgrenze geplante Swimmingpool als auch die in der bereits bestehenden Garage des Beigeladenen untergebrachte „Pooltechnik“ störten sie erheblich.
2
Das Verwaltungsgericht hat ihre entsprechende Klage abgewiesen. Die erteilte Befreiung beziehe sich ausschließlich auf solche Festsetzungen des einschlägigen Bebauungsplans, die nicht dem Nachbarrechtsschutz dienten. Eine Genehmigung im Hinblick auf technische Anlagen sei nicht erteilt worden. Auch eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme liege nicht vor, weil unzumutbare Belästigungen oder Störungen nicht zu erwarten seien.
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Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgen die Kläger ihr Rechtsschutzziel weiter und machen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils sowie den Zulassungsgrund der Divergenz geltend. Sie sind der Auffassung, die erforderliche Würdigung nachbarlicher Interessen (§ 31 Abs. 2 BauGB) sei in ihrem Fall unterblieben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen nicht. Auch unter Berücksichtigung des Vortrags der Kläger im Zulassungsverfahren ist nicht ersichtlich, dass die streitgegenständliche, dem Beigeladenen erteilte Befreiung von der Einhaltung der festgelegten Baugrenzen die Kläger in ihren Rechten verletzen könnte (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Insbesondere fehlt es nicht an der gemäß § 31 Abs. 2 BauGB erforderlichen Würdigung nachbarlicher Interessen.
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Das bei seiner vergleichsweise geringen Größe von ca. 46 m³ gemäß Art. 57 Abs. 1 Nr. 6.g) BayBO grundsätzlich verfahrensfrei zu errichtende Schwimmbecken liegt zwar vollständig außerhalb der durch den Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen. Allerdings hängt bei entsprechend erteilten Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans (§ 31 Abs. 2 BauGB) der Umfang des Rechtsschutzes des bzw. der Nachbarn davon ab, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Bei einer Befreiung von einer Festsetzung, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, richtet sich der Nachbarschutz hingegen lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, sondern nur, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (BayVGH, B.v. 27.11.2019 - 9 CS 19.1595 - juris Rn. 22; B.v. 18.6.2018 - 15 ZB 17.635 - juris Rn. 13 m.w.N.).
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Von diesen Grundsätzen, die der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs entsprechen, ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen. Es hat - sinngemäß - u.a. festgestellt, dass mit der bauplanungsrechtlich angeordneten Festsetzung von Baugrenzen ausschließlich städtebauliche Zielsetzungen, nicht jedoch nachbarschützende Zwecke verfolgt werden. Eine sonach allein mögliche Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme scheide aus, weil Errichtung und Nutzung eines Schwimmbeckens dieser Größe in einem Allgemeinen Wohngebiet (§ 4 BauNVO) in der Regel sozialadäquat seien und hier auch nicht zu unzumutbaren Belästigungen oder Störungen der Kläger führten. Diese Einschätzung teilt der erkennende Senat.
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Entgegen der Auffassung der Kläger bedarf es daneben keiner (weiteren) rechtlichen Würdigung ihrer nachbarlichen Interessen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB. Die Kläger vermissen eine „hinreichende Würdigung“ ihrer Interessen und machen geltend, diese seien zwar „eventuell zur Kenntnis genommen“, nicht jedoch angemessen „gewürdigt“ worden. Allein darin liege eine Rechtsverletzung, die zum Erfolg ihrer Klage hätte führen müssen. Mit dieser Argumentation verkennen sie jedoch, dass die nach § 31 Abs. 2 BauGB nötige Würdigung nachbarlicher Interessen hier - da nicht von einer dem Drittschutz dienenden Festsetzung des geltenden Bebauungsplans befreit wurde - anhand der Grundsätze des in diesem Tatbestandsmerkmal steckenden Gebots der Rücksichtnahme bereits erfolgt ist. Nach der von den Klägern selbst zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 8.7.1998 - 4 B 64.98 - juris Rn. 4 ff.) kann auch eine fehlerhafte Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, wenn nämlich die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die vom Bauherren beantragte Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat. Unter welchen Voraussetzungen eine Befreiung die Rechte des Nachbarn verletzt, ist nach den Maßstäben zu beantworten, die das Bundesverwaltungsgericht zum drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme entwickelt hat (so auch bereits BVerwG, U.v. 19.9.1986 - 4 C 8.84 - juris Rn. 17). Genau unter diesem Gesichtspunkt hat das Verwaltungsgericht die umstrittene Befreiung geprüft. Es hat die Festsetzung zu den Baugrenzen als nicht nachbarschützend angesehen und einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot zulasten der Kläger verneint. Dabei verkennt der Senat nicht, dass auch der Beigeladene, gegen den ausweislich der Akten in anderem Zusammenhang zweimal eine Baueinstellungsverfügung wegen nicht genehmigter Um- bzw. Anbauten erlassen wurde, möglicherweise nicht durchgehend die Regeln nachbarlicher Rücksichtnahme beachtet hat. Das ändert aber nichts daran, dass die erteilte Befreiung von der Einhaltung der Baugrenzen zugunsten des hier streitgegenständlichen Schwimmbeckens die Rechte der Kläger nicht unzumutbar beeinträchtigt. Was die von ihnen als erhebliche Belästigung empfundene „Pooltechnik“ betrifft, so mag diese in der bestehenden Grenzgarage untergebracht sein; sie ist jedoch weder Gegenstand der erteilten Befreiung noch des vorliegenden Verfahrens und löst damit auch keine „Untersuchungs- oder Regelungspflichten“ aus.
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Zu keinem anderen Ergebnis führt auch der von den Klägern erstinstanzlich vorgebrachte und im Zulassungsverfahren wiederholte Verweis auf eine Entscheidung des erkennenden Senats (B.v. 4.11.2009 - 9 CS 09.2422 - juris), die einen möglichen Anspruch auf Erhaltung des Gebietscharakters eines Allgemeinen Wohngebiets zum Gegenstand hatte. Dort ging es um verschiedene Baugenehmigungen, die in mehrfacher Hinsicht zumindest auch gegen nachbarschützende Rechte verstießen und objektiv rechtswidrig waren. Diese Konstellation ist weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht mit dem hiesigen Sachverhalt vergleichbar.
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2. Auch der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) liegt nicht vor. Eine Zulassung nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO setzt voraus, dass das angefochtene Urteil mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem eben solchen Rechtssatz eines in der Vorschrift genannten Gerichts abweicht. Im Zulassungsantrag muss ein abstrakter Rechtssatz des angefochtenen Urteils herausgearbeitet und einem Rechtssatz des anderen Gerichts unter Darlegung der Abweichung gegenübergestellt werden (vgl. BVerwG, B.v. 5.7.2016 - 4 B 21.16 - juris Rn. 5). Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen, das keine sich widersprechenden Rechtssätze gegenüberstellt, nicht gerecht. Im Übrigen ist das Verwaltungsgericht, wie oben ausgeführt, weder vom Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4.11.2009 (9 CS 09 2422 - juris), noch von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.9.1986 (4 C 8.84 - juris) entscheidungserheblich abgewichen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Der Beigeladene hat sich im Zulassungsverfahren geäußert. Es entspricht deshalb der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 162 Abs. 3 VwGO).
13
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 GKG in Verbindung mit Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung von 2013; sie entspricht der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
14
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).