Inhalt

VG Augsburg, Beschluss v. 14.04.2022 – Au 7 S 22.341
Titel:

Entziehung der Fahrerlaubnis nach Nichtvorlage eines Fahreignungsgutachten (Einnahme von Medizinal-Cannabis) – einstweiliger Rechtsschutz

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 3 Abs. S. 1
FeV § 11 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, Abs. 7, Abs. 8, § 46 Abs. 1, Abs. 3, Anl. 4 Nr. 9.2.1, Nr. 9.4, Nr. 9.6.2
BtMG § 13 Abs. 1 S. 1, S. 2
Leitsätze:
1. Soll eine Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setzt dies voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist, dass das Medizinal-Cannabis zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird (vgl. VGH München BeckRS 2020, 1237 Rn. 22). Medizinal-Cannabis als verkehrs- und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel darf nur dann ärztlich verschrieben, verabreicht oder überlassen werden, wenn die Anwendung am oder im Körper begründet ist, was insbesondere dann nicht der Fall ist, wenn der beabsichtigte Zweck auf andere Weise erreicht werden kann. Betäubungsmittel dürfen also immer nur die ultima ratio darstellen. (Rn. 61 und 62) (redaktioneller Leitsatz)
2. Um über die Notwendigkeit der Einholung weitergehender Gutachten und die konkret zu klärenden Fragen zu entscheiden, kann die Fahrerlaubnisbehörde im Vorfeld auch die Beibringung ärztlicher Atteste und Bescheinigungen, etwa zu Anlass und Dauer der Verordnung von Medizinal-Cannabis, verlangen. Kommt der Betroffene seinen Mitwirkungspflichten zur Sachverhaltsaufklärung nicht nach, kann die Fahreignungsbehörde daraus nach Maßgabe des § 11 Abs. 8 FeV auf seine Nichteignung schließen (VGH München BeckRS 2022, 8517 Rn. 13). (Rn. 64) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis, Arzneimittelprivileg, andere Behandlungsmöglicheiten, ultima ratio, Beibringung ärztlicher Atteste und Bescheinigungen, Mitwirkungspflichten
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 22.08.2022 – 11 CS 22.1202
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22200

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500.- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis.
2
1. Der im Jahr 1972 geborene Antragsteller war seit dem Jahr 2000 im Besitz einer Fahrerlaubnis für die Klassen B, L und M.
3
Durch Mitteilung der Polizeiinspektion … vom 22. Juli 2020 erhielt das Landratsamt … Kenntnis davon, dass der Antragsteller am 21. Juli 2020 nach einem Suizidversuch aufgrund Selbstgefährdung durch die Polizei im Bezirkskrankenhaus … untergebracht wurde. Es wurde dabei mitgeteilt, dass der Polizeiinspektion … am 21. Juli 2020 eine Alkohol- bzw. Drogenintoxikation in … mitgeteilt worden war. Die eingesetzte Streifenbesatzung konnte den Antragsteller am Einsatzort schlafend und bewusstlos auf dem Boden in seinem Zimmer antreffen. Der Antragsteller wurde durch den Notarzt und den Rettungsdienst versorgt. Aufgrund der Aussagen der Mutter des Antragstellers ging der Notarzt davon aus, dass der Antragsteller Alkohol sowie vermutlich Marihuana konsumiert hatte und somit eine Intoxikation vorlag. Im Rettungswagen sei der Antragsteller langsam zu sich gekommen und habe geäußert, dass er lieber 20 anstatt nur 8 Schlaftabletten eingenommen hätte, da er „nicht mehr möchte“. Auf der Fahrt habe der Antragsteller konkretisiert, dass er nicht mehr leben wolle. Gründe für den Suizidversuch hätten nicht festgestellt werden können, da der Antragsteller zunehmend schläfrig geworden sei. Der Notarzt habe der Polizei zudem mitgeteilt, dass sich im Zimmer des Betroffenen ein halbleerer Blister mit Zolpidem 7,5 mg befunden habe. Dieses Schlafmittel könne nach Angaben des Notarztes bei einer höheren Dosierung sowie Alkoholkonsum zu einem lebensgefährlichen Zustand führen. Aufgrund dieses Sachverhalts sei die Unterbringung aufgrund einer akuten Eigengefährdung angeordnet worden. Ein Atemalkoholtest sei nicht möglich gewesen. Nach Behandlung auf der Intensivstation des Krankenhauses … sei der Antragsteller ins Bezirkskrankenhaus verlegt worden.
4
Das Landratsamt bat bei der Polizeiinspektion sodann um Mitteilung, ob weitere Eignungszweifel bestünden, hierzu wurde allerdings nur auf die Unterbringung nach Suizidversuch hingewiesen.
5
Mit Schreiben vom 7. August 2020 teilte das Landratsamt dem Antragsteller den oben genannten Sachverhalt mit und erklärte außerdem, dass hieraus Eignungszweifel im Hinblick auf die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen entstanden seien. Der Antragsteller wurde gebeten, einen Befundbericht des Bezirkskrankenhauses, gegebenenfalls einen Zwischen- bzw. Entlassbericht, vorzulegen sowie einen ärztlichen Befundbericht seines behandelnden Arztes und einen aktuellen Medikamentenplan. Um Vereinbarung eines Gesprächstermins wurde gebeten. Gegebenenfalls sei die Eignung durch ein Fahreignungsgutachten weiter aufzuklären.
6
Das Schreiben wurde dem Antragsteller am 8. August 2020 zugestellt. Hierauf meldete sich der gesetzliche Betreuer des Klägers unter Vorlage seines Betreuerausweises und beantragte Terminsverschiebung. Hierzu meldete sich ein Verfahrensbevollmächtigter und teilte mit, er werde sich nach Akteneinsicht bei der PI … beim Landratsamt wieder melden, sehe allerdings aktuell keinen Grund für die angegebenen Fahreignungszweifel.
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Nachdem anschließend von Antragstellerseite aus keine Reaktion mehr erfolgte, forderte das Landratsamt den Antragsteller unter dem 2. Dezember 2020 auf, ein fachärztliches Gutachten bis spätestens 16. Februar 2021 vorzulegen. Der Sachverhalt wurde nochmals mitgeteilt, der sich aus der Mitteilung der Polizei über die Unterbringung ergab. Es bestehe der Verdacht einer Psychose bzw. Depression. Bei jeder schweren Depression, die zum Beispiel mit depressivwahnhaften, depressivstuporösen Symptomen oder mit akuter Suizidalität einhergehe und bei allen manischen Phasen seien die für das Kraftfahren notwendigen psychischen Fähigkeiten so erheblich herabgesetzt, dass ein ernsthaftes Risiko des verkehrswidrigen Verhaltens bestehe. Das Gutachten habe die - in der Anordnung dargestellten - Fragen zum Vorliegen psychischer Erkrankungen, Beeinträchtigung der Fahreignung, Medikation, Compliance und Adhärenz und der Erforderlichkeit von Auflagen bzw. Nachuntersuchungen zu beantworten. Es sei erforderlich, dass die Untersuchung von einem Facharzt für Psychiatrie mit verkehrsmedizinischer Qualifikation durchgeführt werde. Eine Liste der geeigneten Fachärzte in der Umgebung wurde beigefügt. Das Gutachten war nach Fristverlängerung bis 31. März 2021 vorzulegen.
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Am 20. April 2021 ging das nervenfachärztliche Gutachten der vom Kläger beauftragen Ärztin für Neurologie und Psychiatrie vom 5. April 2021 beim Landratsamt ein.
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Das Gutachten referiert über den Aufenthaltsbericht des Bezirkskrankenhauses … Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik vom 14. August 2020 an den Hausarzt des Antragstellers zu den Angaben des Patienten: Er sei bis vor fünf Jahren in der PIA in Behandlung gewesen. Er habe ca. fünf Bier getrunken. Er trinke nur gelegentlich, wenn er kein Marihuana mehr habe. Mittlerweile bekomme er dies auf Rezept (*). Zur psychiatrischen Vorgeschichte wird ausgeführt, der Antragsteller habe angegeben, er sei zum vierten Mal im Bezirkskrankenhaus … gewesen, zuletzt stationär vom 18. September 2013 bis 16. November 2013. Die damaligen Diagnosen lauteten: organisch affektive Störung, schädlicher Gebrauch von Alkohol. Zur Medikamentenanamnese habe er angegeben, seit letzter Woche von … 0,5 g bis 1 g Cannabis verschrieben bekommen zu haben. Zum psychischen Befund wird ausgeführt: wach, bewusstseinsklar, voll orientiert; formalgedanklich geordnet, kein Anhalt für Zwänge, Wahn, Sinnestäuschungen oder Ich-Störungen; im Affekt deprimiert, innerlich unruhig, Insuffizienzgefühle, antriebsarm; keine zirkadianen Besonderheiten; von Suizidalität distanziert… Zu „Therapie und Verlauf“ ist ausgeführt, der Antragsteller sei am 22. Juli 2020 von der Intensivstation des KKH … in das BKH verlegt worden, nachdem er am Tag zuvor intoxikiert zu Hause aufgefunden worden sei und suizidale Äußerungen getätigt hätte. Er war deswegen untergebracht worden. In der Vorgeschichte sei er zuletzt 2013 wegen eines depressiven Syndroms bei organischaffektiver Störung und bekannter Alkoholabhängigkeit im BKH behandelt worden. Diagnostisch sei aktuell von einer depressiven Reaktion mit einer am ehesten als parasuizidal einzuordnenden Äußerung, er habe nur schlafen wollen, vor dem Hintergrund exazerbierter familiärer Konflikte und einer Alkoholabhängigkeit auszugehen. Im Rahmen der kurzen stationären Krisenintervention sei psychotherapeutisch eine weitestgehende Entlastung des Patienten gelungen, sodass er sich zuletzt ausreichend von akuter Suizidalität habe distanzieren können. Zur Behandlung des vegetativen Entzugssyndroms sei (der Antragsteller) mit Clonidin behandelt worden, ein schweres vegetatives Entzugssyndrom habe er nicht entwickelt.
10
Zu den eigenen Angaben des Antragstellers beim Begutachtungstermin führt das Gutachten aus, der Antragsteller habe gesagt, er sei am 21. Juli 2020 bewusstlos vom Notarzt aufgefunden worden. Er habe drei Liter Bier getrunken und später drei Tabletten Zolpidem 10 mg eingenommen. Er habe zwei Tage wegen Konflikten mit seiner Mutter, bei der er sechs Jahre gewohnt hatte, nicht geschlafen, habe einfach seine Ruhe haben wollen. Suizidideen habe er nicht gehabt. Der Antragsteller sei seit dem Jahr 2006 wegen einer Hypophysenstörung berentet. Seit Oktober 2020 lebe er allein in einer eigenen Wohnung. Er habe seit dem 16. Lebensjahr nach einem Unfall, bei dem ein Freund tödlich verunglückt sei, Depressionen. Unter Psychopharmaka habe er starke Nebenwirkungen, deshalb sei ihm seit Juli 2022 ärztlich Cannabis verschrieben worden. Als Risikofaktor ist angegeben: unregelmäßiger Alkoholabusus „im Sommer von 2 - 3/2 Bier“ und als derzeitige Medikation Hydrocortison 20 mg 1-1-0, L-Thyroxin 100 ug 1 x 1, Testogel 25 mg 1 x drei Hub, Fortecortin 0,5 mg bei Bedarf, Indica 0,5 g in drei Dosen über den Tag verteilt, „Dativa“ (gemeint wohl Sativa) 0,15 g z.N.
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Als Befund wird angegeben, dass der Antragsteller wach, bewusstseinsklar, in allen Qualitäten orientiert sei. Er habe keine mnestischen Störungen. Weiter ist angegeben: Stimmung indifferent, regelrechte affektive Schwingungsfähigkeit, diskret eingeschränkt, Antrieb leicht gemindert, Wahrnehmung ungestört, kein Anhalt für formale oder inhaltliche Denkstörungen, kein Hinweis auf akute Suizidalität.
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Die Fragen des Begutachtungsauftrags wurden dahingehend beantwortet, dass beim Antragsteller eine rezidivierende depressive Störung und Alkoholerkrankung bestehe. Die affektive Störung stelle keine Erkrankung nach Nr. 7 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung dar, problematisch sei hier jedoch die Cannabis-Therapie. Die depressive Erkrankung sei unter medizinisch verordnetem Cannabis stabil. Alkohol konsumiere der Antragsteller nur noch selten, meistens im Sommer, ein KFZ fahre er unter Alkohol nicht. Eine Abhängigkeit bzw. ein regelmäßiger Missbrauch bestehe nicht. Bei dem akuten Ereignis im Juli 2020 sei die mehrtägige Schlaflosigkeit die Ursache für den vermehrten Alkoholkonsum und die Einnahme von Schlaftabletten gewesen. Die ursächliche häusliche Konfliktsituation bestehe seit dem Auszug aus der mütterlichen Wohnung nicht mehr. Nach einem positiven Ergebnis eines Reaktionstestes bezüglich der Cannabis-Einnahme sei der Antragsteller in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 vollständig gerecht zu werden. Eine ausreichende Krankheitseinsicht bestehe. Medikamente zur Behandlung der affektiven Störung würden nicht eingenommen. Das medizinisch verordnete Cannabis nehme der Antragsteller wie psychiatrisch empfohlen. Er nehme ausschließlich Medikamente zur Behandlung seiner Hypophyseninsuffizienz ein. Dies beeinträchtige die Fahrtauglichkeit nicht. Inwieweit das Cannabis die Reaktionsfähigkeit beeinträchtige, sollte durch einen Reaktionstest geklärt werden. Weitere Auflagenkontrollen oder Nachuntersuchungen seien nicht erforderlich.
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Mit Schreiben vom 27. April 2021 bat die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller, aufgrund des vorgelegten Gutachtens bis zum 18. Mai 2021 noch den Entlassbericht des Bezirkskrankenhauses … vom 14. August 2020 vorzulegen. Außerdem sei aus dem Gutachten ersichtlich geworden, dass der Antragsteller Medizinal-Cannabis konsumiere. Die Fahreignung sei deshalb zusätzlich zu überprüfen, da der Konsum von Cannabis fahreignungsrelevant sei. Es werde daher gebeten, bis spätestens 18. Mai 2021 einen Befundbericht des behandelnden Arztes vorzulegen, der die Fragen beantworte, an welchen Erkrankungen der Antragsteller leide bzw. welche Diagnosen gestellt wurde, welche Medikamente er einnehme und seit wann er bei dem behandelnden Arzt in Behandlung sei. Aufgrund der Behandlung mit Cannabinoiden bzw. Cannabisblüten auf Rezept ergäben sich weitere Fragen zu Verschreibung, Art der Medikamente, Adhärenz sowie Verlauf und Vorgeschichte, die ebenfalls im Schreiben im Einzelnen aufgeführt wurden und die zu beantworten seien.
14
Am 18. Mai 2021 ging bei der Fahrerlaubnisbehörde ein ärztliches Attest vom 10. Mai 2021 der Hausarztpraxis … in … ein, das die Fragen der Behörde kurz beantwortete, zum Teil handschriftlich auf dem übersandten Schreiben der Behörde. Zur Beantwortung der Frage, welche Erfahrung der Wahl der Blütensorte zugrunde liege, wurde angegeben, bei „ADHS laut Neurologe gute Erfolge“. Zur Frage, welche Diagnose der Verschreibung zugrunde liege, wurde angegeben „F90.0“. Die Frage, was die Wahl von Cannabinoiden und die Wahl von Cannabisblüten begründet habe, ist angegeben: „wurde vom Neurologen verordnet“. Zur Frage „wurde die alternative Behandlungsmethode CBD (Cannabidiol) geprüft“, ist angegeben: „nicht bekannt, die Erstverordnung erfolgte durch Neurologen“.
15
Zur Häufigkeit und Dosierung der Einnahme ist angegeben, es sollten 2 g bis 3 g pro Tag, abends mit Vaporisator eingenommen werden. Die Frage nach der Sicherstellung der richtigen Dosierung wurde nicht beantwortet. Die Frage, ob eine Adhärenzkontrolle stattfinde, wurde mit „Ja“ beantwortet. Die Frage in welcher Frequenz der Arzt-Patient-Kontakt stattfindet, wurde beantwortet mit „Neurologe …“.
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Weiter vorgelegt wurde ein Teil eines Arztberichts oder einer Stellungnahme des BKH, mutmaßlich der Entlassbericht vom 14. August 2020, dessen erste Seiten fehlen, sodass eine Diagnose nicht ersichtlich ist. Außerdem wurde der Medikationsplan vom 10. Mai 2021 übersandt, aus dem sich die Einnahme von Hydrocortison, Levothyroxin natrium, Testosteron und Dexamethason ergibt, außerdem Cannabisblüten unzerkleinert, Sorte Bakerstreet 15 g mit dem Hinweis 2/3 g am Tag, Dosierung gemäß ärztlicher Anweisung.
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Mit Schreiben vom 18. Juni 2021 forderte das Landratsamt den Antragsteller daher unter Mitteilung des Sachverhalts auf, bis zum 1. September 2021 ein ärztliches Gutachten eines Facharztes in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung vorzulegen. Eine Liste geeigneter Begutachtungsstellen wurde beigefügt. Das Gutachten habe folgende Fragen zu beantworten:
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Ist der Untersuchte trotz Vorliegens einer Erkrankung (ADHS), die nach Nr. 1 der Vorbemerkungen zur Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung nicht gelistet ist, aber die Fahreignung aufgrund der offenkundig erforderlichen Betäubungsmittelmedikation in Frage stellt, (wieder) in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klasse B, L, M gerecht zu werden?
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Steht die bekannte missbräuchliche Einnahme von Alkohol im Widerspruch zur Einnahme mit Medizinalcannabis?
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Liegt eine ausreichende Compliance (u.a. Krankheitseinsichtigkeit, kein Beigebrauch anderer psychoaktiver Substanzen inklusive Alkohol, regelmäßige überwachte Medikamenteneinnahme [Hinweise auf - gegebenenfalls selbstinduzierte - Unter/ oder Überdosierung] usw.) vor und wird diese auch umgesetzt (Adhärenz)?
21
Sind Beschränkungen und/oder Auflagen erforderlich, um den Anforderungen an das Führen eines Kraftfahrzeugs der Klassen B, L, M weiterhin gerecht zu werden?
22
Ist bzw. sind insbesondere (eine) fachliche einzelfallbegründete Auflage(n) nach Anlage 4 (zum Beispiel ärztliche Kontrollen) erforderlich? In welchem zeitlichen Abstand und wie lange? Was soll regelmäßig kontrolliert und attestiert werden? Sind die Ergebnisse der Fahrerlaubnisbehörde vorzulegen; wenn ja, warum?
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Ist eine fachliche einzelfallbegründete Nachuntersuchung im Sinne einer erneuten [Nach-] Begutachtung erforderlich? In welchem zeitlichen Abstand?
24
Falls Medikamente eingenommen werden, die die Fahreignung beeinträchtigen können, sind diese und deren Auswirkungen detailliert anzugeben.
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Die gewählte Begutachtungsstelle sei der Behörde mitzuteilen. Es könne eine weitere Begutachtung erfolgen, wenn sich weitere Bedenken ergeben würden bzw. die bestehenden Bedenken nicht ausgeräumt würden, insbesondere werde darauf hingewiesen, dass auch eine medizinischpsychologische Untersuchung zur endgültigen Klärung der Eignungsfrage noch erforderlich werden könne. Der Antragsteller wurde darauf hingewiesen, dass er das Recht habe, in die Verfahrensakte Einsicht zu nehmen. Er wurde auch darauf hingewiesen, dass von der Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgegangen werde und die Fahrerlaubnis entzogen werde, wenn das Gutachten nicht fristgerecht vorgelegt werde oder der Antragsteller sich der Begutachtung nicht unterziehe.
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Die Gutachtensanforderung wurde dem Antragsteller am 22. Juni 2021 zugestellt.
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Die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers teilte der Behörde daraufhin mit, dass der Antragsteller mit der Anordnung zur Vorlage eines weiteren fachärztlichen Gutachtens nicht einverstanden sei. Er habe bereits ein fachärztliches Gutachten vorgelegt. Der Antragsteller würde weitere Unterlagen vorlegen, er werde auch eine Stellungnahme bei … einholen. Gegen die Kostenrechnung werde Widerspruch eingelegt. Die Behörde bewilligte Akteneinsicht und setzte eine Frist zur ergänzenden Stellungnahme bis zum 20. August 2021. Die Prozessbevollmächtigte teilte sodann mit, dass der Antragsteller kein erneutes Gutachten vorlegen werde. Bereits im nervenfachärztlichen Gutachten vom 5. April 2021 sei darauf hingewiesen worden, dass wegen der Cannabis-Behandlung ein Reaktionstest erforderlich sei. Der Antragsteller sei mit einem Reaktionstest einverstanden. Es werde um Mitteilung gebeten, wo ein solcher absolviert werden könne. Die Praxis … habe mitgeteilt, dass aus zeitlichen Gründen keine Schriftstücke für die Patienten angefertigt werden könnten.
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Mit Schreiben vom 19. August 2021 teilte das Landratsamt mit, die erneute Begutachtung sei wegen des mit dem nervenfachärztlichen Gutachten neu bekanntgewordenen fahreignungsrelevanten Sachverhalt der Cannabis-Einnahme erforderlich geworden. Die beiden Gutachten könnten aufgrund der unterschiedlichen zugrundeliegenden Sachverhalte und Fragestellungen nicht gleichgestellt werden. Die Fachärztin für Psychiatrie mit verkehrsmedizinischer Qualifikation sei auch keine amtlich anerkannte Begutachtungsstelle für Fahreignung. Das Gutachten sei daher weiterhin bis zum 1. September 2021 vorzulegen. Der Widerspruch beziehe sich ausschließlich auf die Kostenrechnung.
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Unter dem 1. September 2021 bat die Prozessbevollmächtigte um Fristverlängerung bis 1. Oktober 2021.
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In der Folgezeit legte die Fahrerlaubnisbehörde den Widerspruch gegen die Kostenrechnung der Widerspruchsbehörde vor und hörte den Antragsteller unter dem 9. September 2021 zur Entziehung seiner Fahrerlaubnis an unter Gewährung einer Frist bis zum 4. Oktober 2021.
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Der Antragsteller legte sodann ein Attest vom 24. September 2021 der Hausarztpraxis … vor, dass „ein ADHS in der Kindheit/Jugend anamnestisch vermutet“ werden könne. Die Diagnose sei jedoch „von fachärztlicher Seite nie gestellt“ worden.
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Mit einem zweiten Attest vom 24. September 2021 erklärte der Hausarzt, er halte den Antragsteller für uneingeschränkt fahrtauglich. Die verordnete Menge 2/3 g pro Tag Cannabisblüten der Sorte Indica würden regelmäßig morgens und abends inhaliert. Es bestehe kein Beikonsum von anderen zentralwirksamen Substanzen. Die Therapie werde regelmäßig vom Facharzt und Hausarzt kontrolliert. Der Antragsteller sei zuverlässig und nehme seine vereinbarten Termine regelmäßig wahr. Das Erscheinungsbild sei stets gepflegt, der Patient zeige niemals kognitive Defizite. Vor Fahrantritt sei der Antragsteller mit Sicherheit fähig, eine selbstkritische Selbstprüfung vorzunehmen.
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Mit Bescheid vom 13. Oktober 2021, dem Antragsteller zugestellt am 18. Oktober 2021, entzog das Landratsamt … dem Antragsteller die Fahrerlaubnis (Nr. 1 des Bescheids). Der Antragsteller wurde verpflichtet, seinen Führerschein beim Landratsamt abzugeben bzw. im Falle des Verlustes eine eidesstattliche Versicherung über den Verlust abzugeben (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung der Nrn.1 und 2 des Bescheids wurde angeordnet (Nr. 3). Für den Fall der Nichtbeachtung der Nr. 2 des Bescheids wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 500 EUR angedroht (Nr. 4 des Bescheids).
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Der Bescheid ist im Wesentlichen damit begründet, dass das angeordnete Gutachten einer Begutachtungsstelle für Fahreignung nicht fristgerecht vorgelegt wurde.
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Unter dem 15. Oktober 2021 legte die Fahrerlaubnisbehörde den Widerspruch gegen die Kostenrechnung der Gutachtensanforderung der Widerspruchsbehörde vor, die die Prozessbevollmächtigte darüber informierte, dass ein Widerspruch hier nicht statthaft sei, sondern nur die Möglichkeit bestehe, Klage zu erheben.
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Mit Bescheid vom 27. Oktober 2021 ordnete die Fahrerlaubnisbehörde ein Zwangsgeld in Höhe von 1.000 EUR an, falls der Führerschein nicht bis spätestens fünf Tage nach Zustellung des Bescheids vorgelegt werde. Das Zwangsgeld in Höhe von 500 EUR wurde gleichzeitig fällig gestellt. Der Bescheid ging am 29. Oktober 2021 bei der Prozessbevollmächtigten des Klägers ein.
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Am 27. Oktober 2021 legte die Prozessbevollmächtigte des Klägers gegen den Bescheid vom 13. Oktober 2021 Widerspruch ein. Außerdem beantragte sie, gemäß § 80 Abs. 4 VwGO die sofortige Vollziehung der Nrn. 1 und 2 des Bescheids auszusetzen. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei unberechtigt. Der Widerspruchsführer habe bereits ein fachärztliches Gutachten vom 5. April 2021 vorgelegt, das alle Fragen der Fahrerlaubnisbehörde beantworte. Die Fahreignung werde in dem Gutachten bejaht. Bereits vor Erstellung des Gutachtens sei der Fahrerlaubnisbehörde bekannt gewesen, dass der Antragsteller seit Juli 2020 Medizinal-Cannabis einnehme. Die Gutachterin sei auch auf dieses Thema eingegangen, ihr sei dies ebenso bekannt gewesen, dennoch habe sie die Fahreignung bejaht. Hierzu würden auch die Atteste von … vom 24. September 2021 übersandt. Neue Tatsachen, die zur neuen Gutachtensanforderung berechtigen würden, lägen damit nicht vor. Bereits aus der Kurzinformation des BKH … über den stationären Aufenthalt vom 22. Juli bis 27. Juli 2020 gehe eindeutig hervor, dass auf Veranlassung von Herrn … Cannabisblüten verordnet wurden. Noch bevor das Schreiben vom 2. Dezember 2020 verfasst worden sei, habe das Landratsamt daher gewusst, dass der Antragsteller medizinisch verordnetes Cannabis konsumiere.
38
Die Kurzinformation des BKH … hierzu, ohne Datum, war beigefügt. Sie enthält bei den Therapieempfehlungen unter anderem „Cannabisblüten auf Veranlassung von (Substitutionsarzt)“.
39
2. Am 10. Februar 2022 wurde für den Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg beantragt,
40
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 26. Oktober 2021 gegen den Bescheid des Landratsamts … vom 13. Oktober 2021 anzuordnen bzw. wiederherzustellen.
41
Zur Begründung wird ausgeführt, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bzw. die Wiederherstellung sei geboten, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestünden. Auf die Widerspruchsbegründung wurde Bezug genommen. Der Antragsteller sei durch den angefochtenen Bescheid derzeit zu Unrecht daran gehindert, ein Kraftfahrzeug zu führen. Aus den vorgelegten ärztlichen Attesten und Gutachten sei jedoch ersichtlich, dass aus ärztlicher Sicht keine Einwände gegen seine Fahrtauglichkeit bestünden.
42
Die beiden ärztlichen Atteste des Hausarztes vom 24. September 2021 und das Gutachten vom 5. April 2021 wurden nochmals übersandt.
43
3. Das Landratsamt … beantragt für den Antragsgegner,
44
den Antrag abzulehnen.
45
Zur Begründung wurde insbesondere vorgetragen, dass die erneute Begutachtung aufgrund des Bekanntwerdens der Verordnung von Medizinal-Cannabis erforderlich geworden sei. Es sei darauf hinzuweisen, dass die Kurzinformation der Bezirkskliniken, die dem Schreiben des Antragstellers vom 24. März 2022 beigefügt war, erst am 25. bzw. 29. November 2021 vorgelegt worden sei (Bl. 145 und 156 der Behördenakten). Die Vorlage des fachärztlichen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung sei bereits mit Schreiben vom 18. Juni 2021 angeordnet worden.
46
4. Gegen den Zwangsgeldbescheid vom 27. Oktober 2021 wurde am 29. November 2021 Klage erhoben mit dem Ziel der Aufhebung des Bescheids. Gleichzeitig wurde beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen und die Hinzuziehung einer Verfahrensbevollmächtigten für notwendig zu erklären (Verfahren Au 7 K 21.2399 und Au 7 S 21.2400). Mit Antragstellung im hier streitgegenständlichen Verfahren wurde beantragt, diese Verfahren zurückzustellen bzw. ruhend zu stellen, bis über diesen Antrag entschieden wurde.
47
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegten Behördenakten und die Gerichtsakten, auch in den Verfahren Au 7 K 21.2399 und Au 7 S 21.2400, Bezug genommen.
II.
48
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO führt in der Sache nicht zum Erfolg.
49
Der Antrag ist schon seinem Wortlaut nach darauf gerichtet, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 26. Oktober 2021 gegen die Nr. 1 und 2 des Bescheids vom 13. Oktober 2021 nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO wiederherzustellen, da die Fahrerlaubnisbehörde die sofortige Vollziehung der in den Nummern 1 und 2 getroffenen Verfügungen in Nr. 3 des Bescheids angeordnet hat, und hinsichtlich der gemäß Art. 21a des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes - VwZVG - kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Zwangsgeldandrohung in Nr. 4 des Bescheids gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anzuordnen. Der Antrag ist insoweit zulässig.
50
Der Antrag ist jedoch unbegründet.
51
1. Die Begründung für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis, die im Bescheid gegeben wird, entspricht noch den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO. Danach hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalles darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. Die Behörde hat im streitgegenständlichen Bescheid dargelegt, warum der Antragsteller als nicht geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr angesehen wird. Das besondere öffentliche Interesse, die Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr sofort zu unterbinden und die Bestandskraft des Bescheids nicht abzuwarten, wird mit der Nichteignung und der damit einhergehenden Gefährdung des Straßenverkehrs begründet. Im Bereich des Sicherheitsrechts, zu dem auch das Fahrerlaubnisrecht gehört, kann sich die Behörde zur Rechtfertigung der sofortigen Vollziehung darauf beschränken, die für diese Fallgruppen typische Interessenlage aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass diese Interessenlage auch im konkreten Fall vorliegt. Der Umstand, dass im streitgegenständlichen Bescheid angesprochene Gesichtspunkte auch in einer Vielzahl anderer Verfahren zur Rechtfertigung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit verwendet werden können, führt deshalb nicht zu einem Verstoß gegen § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 24.8.2010 - 11 CS 10.1139 - juris; B.v. 10.3.2008 - 11 CS 07.3453 - juris).
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2. Bei der Entscheidung über den Antrag, die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen bzw. anzuordnen, hat das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen. Im Rahmen dieser Entscheidung ist das Interesse eines Antragstellers, zumindest vorläufig weiter von seiner Fahrerlaubnis Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird, abzuwägen. Ausschlaggebend im Rahmen dieser Abwägungsentscheidung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet oder wiederhergestellt werden soll, hier also diejenigen des Widerspruchs vom 26. Oktober 2021. Lässt sich schon bei summarischer Prüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, sodass das Rechtsmittel mit Sicherheit Erfolg haben wird (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsakts bestehen. Sind die Erfolgsaussichten offen, findet eine Interessenabwägung statt unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten, soweit diese abzusehen sind. Andererseits ist für eine Interessenabwägung, die zugunsten eines Antragstellers ausgeht, im Regelfall kein Raum, wenn keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen.
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3. So liegt die Sache hier. Dem Widerspruch gegen den Bescheid vom 13. Oktober 2021 kommen nach der im Eilverfahren ausreichenden aber auch erforderlichen summarischen Prüfung keine Erfolgsaussichten zu. Die Interessenabwägung führt hier zum Überwiegen der öffentlichen Interessen am sofortigen Vollzug des streitgegenständlichen Bescheids. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Fahrerlaubnisentziehung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 23.10.2014 - 3 C 3.13 - DAR 2014, 711; juris). Da der Antragsteller Widerspruch erhoben hat, über den soweit ersichtlich noch nicht entschieden wurde, kommt es hier auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts an.
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Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV) hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis - ohne Ermessensspielraum - zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel u.a. nach der Anlage 4 zur FeV vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Gemäß § 46 Abs. 3 FeV finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken hinsichtlich der Fahreignung begründen.
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Gemäß § 11 Abs. 8 FeV darf die Fahrerlaubnisbehörde bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung eines Betroffenen schließen, wenn dieser ein von der Fahrerlaubnisbehörde zu Recht angefordertes Gutachten nicht fristgerecht beibringt.
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Der Schluss auf die Nichteignung eines Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen wegen nicht vorgelegten Gutachtens gemäß § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der ärztlichen bzw. medizinischpsychologischen Untersuchung rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (BVerwG, U.v. 9.6.2005 - 3 C 25.04; BayVGH, B.v. 5.6.2009 - 11 CS 09.69; B.v. 19.2.2009 - 11 ZB 08.1466 - alle zitiert nach juris). Darüber hinaus muss die Fahrerlaubnisbehörde nach § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls und unter Beachtung der Anlagen 4 und 5 in der Anordnung zur Beibringung des Gutachtens festlegen, welche Fragen im Hinblick auf die Eignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen zu klären sind. Ist die Fragestellung nur zum Teil gerechtfertigt, gehen Unklarheiten zu Lasten der Behörde (BayVGH, B.v. 25.3.2020 - 11 CS 20.203 - juris Rn. 10).
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Die Gutachtensanordnung unterbleibt jedoch, wenn die Nichteignung zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde feststeht (§ 11 Abs. 7 FeV).
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4. Nach diesen Maßstäben wurde die Fahrerlaubnis hier zu Recht entzogen.
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a) Zunächst ist dabei festzuhalten, dass die Fahrerlaubnisbehörde nach Vorlage des nervenfachärztlichen Gutachtens zu Recht weitere Ermittlungen zur Fahreignung des Antragstellers angestellt hat, da der Behörde - erst - durch das nervenfachärztliche Gutachten bekannt wurde, dass der Antragsteller aufgrund einer ärztlichen Verordnung täglich Cannabis konsumiert.
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Nach § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 7 FeV i.V.m. Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung ist nicht fahrgeeignet, wer regelmäßig, d.h. täglich oder nahezu täglich Cannabis konsumiert. Eine regelmäßige Einnahme von Cannabis liegt vor, wenn täglich oder nahezu täglich Cannabis konsumiert wird (vgl. BVerwG, U.v. 26.2.2009 - 3 C 1.08 - juris - Rn. 14 und 15).
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Die bestimmungsgemäße Einnahme von ärztlich verordnetem Medizinal-Cannabis unterfällt dagegen grundsätzlich nicht der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FahrerlaubnisVerordnung, wenn es sich um die bestimmungsgemäße Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels i.S.d. Nr. 3.14.1 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (Begutachtungsleitlinien, VkBl. S. 110; Stand: 24.5.2018, die nach § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Anlage 4a Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sind) handelt (sog. Arzneimittelprivileg). Insoweit definieren Nr. 9.4 und Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV speziellere Anforderungen für Eignungsmängel, die aus dem Gebrauch von psychoaktiven Arzneimitteln resultieren (siehe zum Ganzen: BayVGH, B.v. 29.4.2019 - 11 B 18.2482 - juris Rn. 23; OVG NW, B.v. 5.7.2019 - 16 B 1544/18 - Blutalkohol 56, 342 - juris Rn. 2 f.; VGH BW, B.v. 31.1.2017 - 10 S 1503/16 - VRS 131, 207 - juris Rn. 8; Borgmann, Cannabiskonsum und Fahreignung, DAR 2018, 190/196; Dauer in Hentschel/König/Dauer Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 2 StVG Rn. 62a, 65). Soll eine Dauerbehandlung mit MedizinalCannabis im Sinne von Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setzt dies voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist (Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, 3. Aufl. 2018, S. 303), ferner, dass das Medizinal-Cannabis zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird (DGVP, Fahreignungsbegutachtung bei Cannabismedikation, August 2018; siehe zum Ganzen: BayVGH, B.v. 16.1.2020 - 11 CS 19.1535 - juris Rn. 22).
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Medizinal-Cannabis als verkehrs- und verschreibungsfähiges Betäubungsmittel im Sinne der Anlage III zu § 1 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) darf nach § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 BtMG nur dann ärztlich verschrieben, verabreicht oder überlassen werden, wenn die Anwendung am oder im Körper begründet ist, was insbesondere dann nicht der Fall ist, wenn der beabsichtigte Zweck auf andere Weise erreicht werden kann. Betäubungsmittel dürfen also immer nur die ultima ratio darstellen. Kommen andere Maßnahmen in Betracht, die zur Erreichung des Ziels geeignet sind, wie eine Änderung der Lebensweise, physiotherapeutische Behandlungen, eine Psycho- oder Verhaltenstherapie oder die Anwendung nicht den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterliegender Arzneimittel, ist diesen der Vorrang zu geben (Bohnen/Schmidt in BeckOK, Stand 15.9.2019, § 13 BtMG Rn. 25; Patzak in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl. 2019, § 13 Rn. 20 ff.; siehe zum Ganzen: BayVGH, B.v. 16.1.2020 - 11 CS 19.1535 - juris Rn. 23).
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Soweit es an der erforderlichen medizinischen Indikation der Cannabis-Einnahme fehlt, fällt somit auch die ärztlich verordnete Cannabis-Einnahme nicht unter Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV, sondern unter Nr. 9.2 der Anlage 4 zur FeV. Insbesondere liegt in diesem Fall bei nahezu täglicher Einnahme von Medizinal-Cannabis ein die Fahreignung ausschließender regelmäßiger Cannabiskonsum im Sinne der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV vor (BayVGH, B.v. 16.1.2020 - 11 CS 19.1535 - juris Rn. 23; OVG Saarl, B.v. 8.11.2021 - 1 B 180/21 - juris Rn. 14; VG Würzburg, B.v. 9.8.2021 - W 6 S 21.979 - beckonline Rn. 35; vgl. auch VGH BW, B.v. 8.7.2021 - 13 S 1800/21 - juris Rn. 19).
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b) Das Landratsamt hat daher zu Recht zunächst eine Stellungnahme des behandeln den Arztes zu den Hintergründen der hier vorgetragenen Verordnung von Cannabis verlangt. Eine bestimmungsgemäße Einnahme eines Arzneimittels für einen konkreten Krankheitsfall im Sinne der Nr. 3.14.1 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (Begutachtungsleitlinien, VkBl. S. 110, Stand 24.5.2018, die nach § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Anlage 4a Grundlage für die Beurteilung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sind) ist nur dann gegeben, wenn die Anwendung auf einer eindeutigen Verschreibung für eine symptombezogene Indikation beruht (vgl. BayVGH, B.v. 29.4.2019 - 11 B 18.2482 - juris, Rn. 24 m.w.N.). Um über die Notwendigkeit der Einholung weitergehender Gutachten und die konkret zu klärenden Fragen zu entscheiden, kann die Fahrerlaubnisbehörde im Vorfeld auch die Beibringung ärztlicher Atteste und Bescheinigungen, etwa zu Anlass und Dauer der Verordnung von Medizinal-Cannabis, verlangen. Kommt der Betroffene seinen Mitwirkungspflichten zur Sachverhaltsaufklärung nicht nach, kann die Fahreignungsbehörde daraus nach Maßgabe des § 11 Abs. 8 FeV auf seine Nichteignung schließen (BayVGH, B.v. 31.3.2022 - 11 CS 22.158 - n.V.).
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Aus den vom Antragsteller sonach vorgelegten Unterlagen zur Cannabis-Medikation lässt sich allerdings ersehen, dass die Anforderungen an die Verordnung von Medizinal-Cannabis nicht derart erfüllt sind, dass sie den oben dargestellten Erfordernissen entsprechen. Die vorgetragene ärztliche Verordnung selbst hat der Antragsteller dabei nicht vorgelegt, da nach seinem Sachvortrag der verordnende Arzt keine Schriftstücke für Patienten ausstelle, was allerdings per se nicht die Vorlage der Rezepte bzw. von Kopien der Rezepte ausschließt. Es spricht bereits vieles dafür, dass die Nichtvorlage der Rezepte und/oder (ggf. nachfolgend) einer aussagekräftigen Stellungnahme des Arztes, der für die vorgetragene Cannabis-Verordnung verantwortlich zeichnen soll, eine Berufung auf das sog. Arzneimittelprivileg von vornherein ausschließt. Denn nur auf Grundlage der genannten Dokumente kann die Fahrerlaubnisbehörde hinreichend prüfen, ob und für welche Zeiträume tatsächlich eine ärztliche Cannabis-Verordnung vorliegt und ob diese hinsichtlich der erforderlichen Angaben zur Dosierung und Konsumform die Mindestanforderungen erfüllt. Letztlich kann dies jedoch offen bleiben, da auch die sonstigen durch den Antragsteller vorgelegten ärztlichen Dokumente nicht geeignet sind, einen ärztlich verordneten Cannabis-Konsum i.S.v. Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV hinreichend darzulegen.
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So sind aus den Angaben des Hausarztes keinerlei Angaben zu der Frage, ob die Medikation mit Betäubungsmitteln hier die ultima ratio darstellt, also die letztverbliebene Behandlungsmöglichkeit des Antragstellers im Hinblick auf das geltend gemachte ADHS ist, ersichtlich. Der Hausarzt des Antragstellers weiß dies schlicht nicht, weil er das Cannabis nicht selbst verordnet hat, sondern sich auf eine Verordnung des Neurologen bezieht.
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c) Auch aus dem nach Anforderung eines fachärztlichen Gutachtens durch die Behörde vorgelegten ärztlichen Attest des Hausarztes vom 24. September 2021 (S. 102 bzw. 107 der elektronisch vorgelegten Behördenakten) lässt sich ersehen, dass dem Konsum des Antragstellers keine ordnungsgemäße Verordnung zugrunde liegt, die zu einer Beurteilung des Cannabis-Konsum nach Nr. 9.6 anstatt Nr. 9.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung führt. Die Verordnung erfolgt hier nach den Angaben des Hausarztes aufgrund der Diagnose „F90.0“. Nach der ICD-10 handelt es sich dabei um die Diagnose einer „einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, inkl. Aufmerksamkeitsdefizit bei hyperaktivem Syndrom und Aufmerksamkeitsdefizit bei Hyperaktivitätsstörung bzw. Aufmerksamkeitsdefizit bei Störung mit Hyperaktivität, exkl. Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität und hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens“. Die Fragen, was die Wahl von Cannabinoiden bzw. Cannabisblüten begründet habe, wurden damit beantwortet, dass die Verordnung durch den Neurologen erfolgt sei. Im Attest vom 24. September 2021 gibt der Hausarzt an, ein „ADHS in der Kindheit/Jugend“ könne anamnestisch vermutet werden, die Diagnose sei aber „von fachärztlicher Seite niemals gestellt“ worden. Schon aus diesem Grund ist hier nach den oben ausgeführten Grundsätzen eine Verordnung auszuschließen, die zur Behandlung des Cannabis-Konsums des Antragstellers nach Nr. 9.6 der Ansage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung führt. Es liegt nicht einmal eine gesicherte Diagnose vor, die die vorgetragene Verordnung von Cannabis begründet, es ist nicht festgestellt, dass die Krankheit - die nicht sicher diagnostiziert wurde - aktuell noch besteht und behandlungsbedürftig ist, erst recht sind keine Angaben zur Frage der ultima ratio der Medikation erfolgt.
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Offenbleiben kann hier deshalb, ob im Übrigen von einer ordnungsgemäßen ärztlichen Verordnung von Medizinal-Cannabis insoweit ausgegangen werden kann, als es die erforderlichen Angaben zur Dosierung betrifft (vgl. die Ausarbeitung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Apothekerkammern und der Bundesapothekerkammer vom 2. März 2017 „Verordnung von Arzneimitteln mit Cannabisblüten, -extrakt und Cannabinoiden - Information für verschreibende Ärzte/innen“; abrufbar im Internet unter www.kbv.de). Nach § 9 Abs. 1 Nr. 5 der Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln (Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung - BtMVV), ist auf dem Betäubungsmittelrezept die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesgabe oder im Falle, dass dem Patienten eine schriftliche Gebrauchsanweisung übergeben wurde, ein Hinweis auf diese schriftliche Gebrauchsanweisung erforderlich. Auch aus der Ausarbeitung der oben genannten Apothekerkammern geht hervor, dass bei der Verordnung von medizinischem Cannabis die Gebrauchsanweisung - insbesondere hinsichtlich der Konsumform - eindeutig sein muss und unklare Verordnungen nicht beliefert werden dürfen. Aus der Verordnung muss sich dabei auch die Anzahl der an einem Tag einzunehmenden Einzelgaben ergeben (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 29.4.2019 - 11 B 18.2482 - juris Rn. 28-30). Der Antragsteller nimmt ausweislich des durch ihn vorgelegten ärztlichen Attests vom 10. Mai 2021 medizinisches Cannabis in Form von Cannabis-Blüten der Sorte „Bakerstreet“ ein. Die Einnahme erfolgt nach diesem Attest täglich abends, nach dem Attest vom 24. September 2021 (S. 103 bzw. 108 der vorgelegten Behördenakten) morgens und abends, verordnet sind 2-3 g täglich, die vaporisiert werden sollen. Damit ist die Verordnung - soweit sie vorliegt - unklar.
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d) Aus den vorgelegten Unterlagen lässt sich jedenfalls ersehen, dass der Antragsteller Cannabis einnimmt, ohne dass dies zur Behandlung einer konkret diagnostizierten Behandlung erfolgt. Außerdem ergibt sich, dass der Konsum regelmäßig erfolgt, nach den vorgelegten ärztlichen Attesten täglich. Wie bereits ausgeführt, liegt ein regelmäßiger Cannabis-Konsum, der in aller Regel nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV zum Verlust der Fahreignung führt, vor, wenn der Betreffende täglich oder nahezu täglich Cannabis konsumiert. Der Antragsteller hat nicht geltend gemacht, dass er dem nicht folgt. Es handelt sich daher um einen regelmäßigen - also zumindest nahezu täglichen - Konsum, der nicht auf einer anzuerkennenden Verordnung beruht. Liegt keine wirksame Verordnung vor, ist die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 FeV i.V.m. Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung rechtmäßig, das Medikamentenprivileg kommt dem Antragsteller nicht zugute.
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e) Der Antragsteller ist daher gemäß § 11 Abs. 2 FeV i.V.m. Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung aufgrund seines regelmäßigen Cannabis-Konsums nicht geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr, ohne dass es auf die Vorlage eines weiteren fachärztlichen Attests ankommt. Die Fahrerlaubnis war ihm gemäß § 46 Abs. 1, § 11 Abs. 7 FeV zu entziehen. Dass das Landratsamt den Bescheid, entsprechend seiner Annahme, es sei ein fachärztliches Gutachten erforderlich, auf § 11 Abs. 8 FeV gestützt hat, ist insoweit ohne Belang.
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Da der Behörde insoweit kein Ermessen zukommt, war es unschädlich, dass die Behörde den angefochtenen Bescheid auf § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1, § 11 Abs. 8 FeV gestützt hat.
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Die Frage, ob ein angefochtener Bescheid materiell rechtmäßig ist, richtet sich, sofern höherrangiges oder spezielleres Recht nichts Abweichendes vorgibt, nach dem Recht, das geeignet ist, seinen Spruch zu tragen. Erweist sich dieser aus anderen als den angegebenen Rechtsgründen als rechtmäßig, ohne dass diese anderen Rechtsgründe wesentliche Änderungen des Spruchs erfordern würden, dann ist der Verwaltungsakt im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht rechtswidrig (BVerwG, U.v. 19.8.1988 - 8 C 29.87 - BVerwGE 80, 96; BayVGH, B.v. 23.6.2016 - 11 CS 16.907 - juris Rn. 23 ff.). Daher kann ein auf § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV gestützter Bescheid, der einem Betroffenen die Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines angeordneten Gutachtens entzieht, auf der Grundlage der Vorschrift des § 11 Abs. 7 FeV rechtmäßig und daher aufrechtzuerhalten sein, wenn die Nichteignung des Betroffenen zum maßgeblichen Zeitpunkt feststeht. § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV und § 11 Abs. 7 FeV sind keine Ermessensvorschriften, sondern zwingendes Recht. Die Rechtsgrundlagen sind daher insoweit austauschbar (siehe zum Ganzen: BayVGH, B.v. 3.5.2017 - 11 CS 17.312 - juris Rn. 25).
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f) Es bestehen im maßgeblichen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller seine Fahreignung durch nachgewiesene Abstinenz, Entgiftung und Entwöhnung nach Maßgabe der Nr. 9.5 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung und die Rechtsprechung zur sogenannten verfahrensrechtlichen Einjahresfrist (vgl. hierzu zuletzt BayVGH, B.v. 17.12.2021 - 11 CS 21.2179 - juris Rn. 20) inzwischen wiedergewonnen hätte.
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Ebenso wenig kann dem Antragsteller nach summarischer Prüfung die Ausnahmeregelung in Nr. 3 der Vorbemerkung der Anlage 4 zur FeV zugutekommen. Insoweit ist eine Ausnahme von der Regel, dass der regelmäßige Konsum von Cannabis die Fahreignung ausschließt, grundsätzlich nur dann anzuerkennen, wenn in der Person des Betäubungsmittelkonsumenten Besonderheiten bestehen, die darauf schließen lassen, dass seine Fähigkeit, ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr sicher zu führen, sowie sein Vermögen, erforderlichenfalls zwischen dem Konsum von Betäubungsmitteln und der Teilnahme am Straßenverkehr zuverlässig zu trennen, nicht erheblich herabgesetzt sind. Es ist Sache des betroffenen Fahrerlaubnisinhabers, das Bestehen solcher atypischen Umstände in seiner Person substantiiert darzulegen (vgl. VGH BW, B.v. 31.1.2017 - 10 S 1503/16 - juris Rn. 12). Irgendwelche Anhaltspunkte, dass solche besonderen Umstände hier vorliegen könnten, hat der Antragsteller allerdings nicht dargelegt.
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5. Nach alledem liegen für das Widerspruchsverfahren hier derzeit keine Erfolgsaussichten vor, so dass schon aus diesem Grund das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs hier das Interesse des Antragstellers, bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über seine Rechtsmittel weiter von seiner Fahrerlaubnis Gebrauch zu machen, überwiegt. Dem Antragsteller bleibt es unbenommen, im Widerspruchsverfahren geeignete Atteste zur vorgetragenen Cannabis-Medikation vorzulegen. Unabhängig davon führt auch eine von den Erfolgsaussichten der Hauptsache unabhängige umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes im maßgeblichen Zeitpunkt zu dem Ergebnis, dass dem öffentlichen Interesse daran, die Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr weiterhin zu unterbinden, ein größeres Gewicht einzuräumen ist, als seinem Interesse, einstweilen weiter am Straßenverkehr teilnehmen zu dürfen. Das Interesse der Allgemeinheit an der Sicherheit des Straßenverkehrs und der aus Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG ableitbare Auftrag zum Schutz vor erheblichen Gefahren für Leib und Leben gebieten es, hohe Anforderungen an die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr zu stellen (BVerfG, B.v. 20.6.2002 - 1 BvR 2062/96 - juris Rn. 52). Eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung von Anfechtungsrechtsbehelfen gegen die für sofort vollziehbar erklärte Fahrerlaubnisentziehung kommt deshalb in der Regel nur in Betracht, wenn hinreichend gewichtige Gründe dafürsprechen, dass das von dem Betroffenen ausgehende Gefahrenpotential nicht nennenswert über dem des Durchschnitts aller motorisierten Verkehrsteilnehmer liegt (BayVGH, B.v. 1.4.2008 - 11 CS 07.2281 - juris). Der Antragsteller ist allerdings schon nach eigenem Sachvortrag regelmäßiger CannabisKonsument. Außerdem haben sich durch das nervenfachärztliche Gutachten Hinweise auf eine Alkoholproblematik ergeben. Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Gefahrenpotential des Antragstellers nicht über dasjenige durchschnittlicher Verkehrsteilnehmer hinausgeht. Dass die Fahrerlaubnisentziehung die persönliche Lebensführung und damit die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten des Führerscheininhabers gravierend beeinflussen kann und die Folgen der Fahrerlaubnisentziehung im Einzelfall auch berufliche Einschränkungen zur Folge haben, hebt die Notwendigkeit, den Antragsteller zum Schutz anderer Verkehrsteilnehmer mit sofortiger Wirkung von der weiteren Teilnahme am Straßenverkehr auszuschließen, nicht auf. Unabhängig davon, dass der Antragsteller, der bereits verrentet ist, nichts zu einer besonderen Notwendigkeit, seine Fahrerlaubnis vorläufig weiter zu nutzen, vorgetragen hat, muss, wer nicht die Gewähr dafür bietet, der besonderen Verantwortung bei der Teilnahme am Straßenverkehr gerecht zu werden, hinnehmen, dass seine beruflichen und sonstigen privaten Interessen an der Beibehaltung der Fahrerlaubnis hinter dem öffentlichen Interesse an einer Vermeidung der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer zurückstehen (vgl. OVG Saarl, B.v. 21.12.2017 - 1 B 720/17 - a.a.O. Rn. 25).
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6. Die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins ergibt sich aus § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG und § 47 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FeV. Daraus resultiert ebenfalls das Recht zum vorläufigen Einbehalten des Führerscheindokuments.
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7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes - GKG - sowie den Empfehlungen in Nrn. 1.5 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, Anhang zu § 164, Rn. 14). Danach ist für die Führerscheinklasse B ein Streitwert in Höhe von 5.000,00 EUR anzusetzen und im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu halbieren.