Titel:
Keine Berufungszulassung bei Klage gegen angeordnete Leinenpflicht
Normenketten:
VwGO § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 1
LStVG Art. 18 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Die Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung ist erst dann überschritten, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind. (Rn. 4 – 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz zu kompensieren, vor allem wenn er es unterlassen hat, einen Beweisantrag zu stellen. (Rn. 6 – 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anordnungen zur Haltung eines Hundes (Leinenpflicht), konkrete Gefahr für die Gesundheit von Menschen, fehlerhafte Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts (hier: verneint), Aufklärungsrüge, Darlegungsanforderungen, Leinenpflicht, Darlegungsanforderung, konkrete Gefahr, Kampfhund, Einzelfall, freier Auslauf
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 03.03.2022 – M 22 K 20.554
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22180
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt die Klägerin ihre in erster Instanz (überwiegend) erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. Januar 2020 weiter, mit dem für den von ihr gehaltenen Schäferhund Anordnungen zur Haltung des Hundes (Leinenpflicht innerhalb bebauter Ortsteile mit [Ausnahme-]Regelung zum freien Auslauf) getroffen worden sind.
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Die Klageabweisung bezüglich des - nach übereinstimmender teilweiser Erledigterklärung des Verfahrens (bezüglich der Zwangsgeldandrohung und Gebührenfestsetzung) - noch streitgegenständlichen Leinenzwangs innerhalb bebauter Ortsteile hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen wie folgt begründet: Die Anordnung sei rechtmäßig auf der Grundlage des Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 LStVG erfolgt. Aufgrund der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung sei das Gericht zur Überzeugung gelangt, dass vom Schäferhund der Klägerin eine konkrete Gefahr für die Gesundheit von Menschen ausgehe. Der vom Geschädigten in der mündlichen Verhandlung geschilderte Beißvorfall unter Beteiligung des Hundes der Klägerin am 10. Oktober 2019 stehe zur Überzeugung des Gerichts fest. Zweifel an der schlüssigen und widerspruchsfreien Schilderung dieses Vorfalls durch den geladenen Zeugen bestünden nicht. Diese stünden auch in Einklang mit seinen Angaben in der Behördenakte und dem vorliegenden ärztlichen Attest vom 11. Oktober 2019. Die Klägerin bestreite den Beißvorfall lediglich. Ihre diesbezüglichen Einlassungen im Klageverfahren sowie in der mündlichen Verhandlung seien als Schutzbehauptungen zu werten und für das Gericht nicht nachvollziehbar. Die Anordnung des Leinenzwangs entspreche auch pflichtgemäßer Ermessensausübung und erweise sich als verhältnismäßig.
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Zur Begründung ihres auf den Zulassungsgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gestützten Antrags auf Zulassung der Berufung macht die Klägerin geltend, das Verwaltungsgericht habe unter Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes den Sachverhalt nicht mit der gebotenen Gründlichkeit erforscht und demzufolge fehlerhafte Annahmen getroffen. Weiter untersucht hätte werden müssen, ob es sich bei dem angeblichen Vorfall tatsächlich um den Hund der Klägerin gehandelt haben könne und ob der Zeuge bzw. Geschädigte tatsächlich gebissen worden sei. Die im vorliegenden ärztlichen Attest angegebene Verletzung „8 cm lange Quetsch- und oberflächliche Risswunde“ passe vom Wundbild nicht zu einer Bisswunde und liefere demgemäß keinen Beweis, dass der Zeuge eine Verletzung durch einen Hundebiss erlitten habe. Zudem hätte das Gericht die Zeugenaussage auch einer Plausibilitätskontrolle unterziehen müssen. Dessen Aussage sei möglicherweise doch von Verfolgungseifer geprägt und unterliege Zweifeln an der Glaubhaftigkeit. Auch habe das Gericht gegen Beweisregeln verstoßen, indem es davon ausgegangen sei, die Klägerin habe nicht nachweisen können, dass sie sich zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Beißvorfalls an einem anderen Ort aufgehalten habe. Schließlich sei die Würdigung der Einlassungen der Klägerin als Schutzbehauptungen einseitig und sachlich nicht gerechtfertigt.
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Damit werden aber ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht dargelegt. Solche Zweifel bestünden dann, wenn die Klägerin im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 - 2 BvR 657/19 - juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr wendet sich die Klägerin erfolglos gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Diesbezügliche (angebliche) Fehler sind im Hinblick auf § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO im Berufungszulassungsverfahren nur einer eingeschränkten Prüfung zugänglich. Die Freiheit der richterlichen Überzeugungsbildung ist erst dann überschritten, wenn das Gericht seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen oder sonst von objektiver Willkür geprägt sind. Eine fehlerhafte Beweiswürdigung in diesem Sinne, die ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zu begründen vermag, liegt allerdings nicht bereits dann vor, wenn die tatrichterliche Würdigung theoretisch auch anders hätte ausfallen können, oder wenn wie hier vorgetragen wird, das Ergebnis der Beweisaufnahme des Gerichts sei anders zu bewerten, als es das Verwaltungsgericht getan habe (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, B.v. 10.12.2021 - 8 B 9.21 - juris Rn. 17; B.v. 1.12.2021 - 2 B 37.21 - juris Rn. 14 ff.; BayVGH, B.v. 23.5.2022 - 3 ZB 21.2958 - juris Rn. 8; B.v. 19.2.2020 - zehn ZB 20.11 - juris Rn. 4; B.v. 13.1.2020 - 10 ZB 19.1599 - juris Rn. 7 jew. m.w.N.).
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Derartige qualifizierte Mängel zeigt die Begründung des Zulassungsantrags der Klägerin nicht auf. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht die Gesamtumstände, wie sie sich nach dem Ergebnis des Verfahrens und insbesondere der vorliegenden Behörden- und Gerichtsakte sowie der Zeugeneinvernahme (des Geschädigten) in der mündlichen Verhandlung objektiv dargestellt haben, eingehend und nachvollziehbar gewürdigt und sich ausführlich insbesondere auch mit der Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen zum Beißvorfall und der dabei erlittenen Verletzung auseinandergesetzt. Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge die Klägerin verwechselt oder interessengeleitet zulasten der Klägerin ausgesagt hätte, hat das Verwaltungsgericht schlüssig und überzeugend verneint. Demgegenüber hat es die Angaben bzw. Einlassungen der Klägerin ebenfalls in schlüssiger Weise als teilweise gesteigert und nicht nachvollziehbar bewertet.
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Die weiter erhobene Rüge, das Verwaltungsgericht habe seine Sachaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt, weil es die Umstände des Beißvorfalls und insbesondere eine Beteiligung des Schäferhunds der Klägerin sowie die (angebliche) Bissverletzung des Geschädigten nicht weiter untersucht habe, greift ebenso wenig durch. Denn nach ständiger Rechtsprechung setzt eine Aufklärungsrüge gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO die substantiierte Darlegung voraus, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Berufungsgerichts aufklärungsbedürftig waren, welche für erforderlich oder geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraussichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese unter Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Auffassung des Tatsachengerichts zu einer für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätten führen können. Die Aufklärungsrüge stellt zudem kein Mittel dar, um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz zu kompensieren, vor allem wenn er es unterlassen hat, einen Beweisantrag zu stellen. Deshalb muss ferner entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen müssen (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 25.2.2021 - 2 B 69.20 - juris Rn. 27; BayVGH, B.v. 13.1.2020 - 10 ZB 19.1599 - juris Rn. 19 jew. m.w.N.).
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Das Vorbringen der Klägerin genügt diesen Anforderungen nicht. Weder wurde von der anwaltlich vertretenen Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht auf die Vornahme der weiteren Sachverhaltsaufklärung durch einen entsprechenden Beweisantrag hingewirkt, noch wird mit dem Zulassungsantrag substantiiert dargelegt, dass sich dem Verwaltungsgericht unabhängig von einem Beweisantrag eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen. Die Ausführungen zum angeblich nicht stimmigen „Wundbild“ und dem angeblichen Belastungseifer des Zeugen erschöpfen sich weitestgehend in bloßen Mutmaßungen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).